Читать книгу Wüstenkrieger - Chris Svartbeck - Страница 5

Der Neue

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„Wir ziehen uns zurück!” Die Stimme des Schamanen hörte jeder, auch wenn er leise sprach. „Wir ziehen uns zurück und bleiben mindestens zwei Tagesritte von der Grenze entfernt!”

„Das sagst du nur, weil dieser Fremde dir das einflüstert!” Chirgot musterte Ioro feindselig. Nicht genug, dass der Schamane den Krieg abbrechen wollte, nicht genug, dass er einen der Karapaki persönlich mitbrachte ins Lager der Roten Zelte, es war auch noch der Anführer mit dem unheimlichen Geistervogel. Ausgerechnet der!

„Das sage ich, weil ich die Zeichen der Götter sehe!” Der Schamane ließ sich nicht beirren. „Wir werden tun, was uns die Götter zu tun bedeuten. Oder wollt ihr gegen ihren Willen und gegen meinen Rat weiterkämpfen?”

Chirgot antwortete nicht. Er selbst hätte ja die größte Lust, genau das zu tun. Aber welcher Krieger-Bruder würde ihm folgen? Keiner. Und die Karapaki alleine anzugreifen, da konnte er sich genauso gut gleich selbst die Kehle durchschneiden.

Er würde tun, was der Schamane sagte. Aber er war nicht glücklich mit dessen Entscheidung. Überhaupt nicht.

Er war nicht glücklich mit seiner Entscheidung. Überhaupt nicht. Ioro biss die Zähne zusammen. Was um alles in der Welt hatte ihn bewogen, ausgerechnet zu seinen größten Feinden zu gehen?

Aber natürlich kannte er die Antwort. Er hatte keine andere Option gehabt. Entweder die Wüstenkrieger oder Tolioro und der Scharfrichter. Im Grunde war es keine Entscheidung gewesen. Im Grunde hatte er überhaupt keine Wahl gehabt. Als kleines Glück im Unglück konnte er nur die Tatsache verbuchen, dass er in den letzten Wochen des Krieges intensiv die Sprache der Wüstenkrieger gelernt hatte. Eigentlich nur, um seine Gefangenen besser verhören zu können.

Ioro musterte die Wüstenkrieger. Geflochtene Haare, geflochtene Bärte, soweit sie nicht glatt rasiert waren, Tätowierungen auf Gesicht und Armen, schmutzige, abgerissene Kleidung und saubere, funkelnde Waffen. Jetzt, da er wusste, wonach er suchen musste, erkannte er mehrere Frauen unter ihnen. Was war das für ein Volk, dass den Frauen erlaubte, Krieger zu sein? Was waren das für Frauen, die in den Kampf zogen, um gegen Männer zu fechten und sie zu töten?

Ein halbes Dutzend Jungen, denen gerade der erste Bartflaum spross, war mit von der Partie. Sie kümmerten sich um die Pferde. Und dann war da der Schamane. Als einziger in der Runde hatte er graue Haare. Kaum zu glauben, dass dieser Greis kaum älter war als er selbst. Noch weniger zu glauben, dass diese ganzen wilden Wüstenkrieger, die die getrockneten, präparierten Köpfe ihrer Feinde auf ihren Zeltspitzen stolz zur Schau stellten, vor ihm kuschten wie kleine Kinder. Der Mann musste wirklich ein mächtiger Zauberer sein.

„Der geht mit mir”, stellte der Schamane gerade fest. Der, damit war er selbst, Ioro, gemeint. Nun, zumindest hatte er bei dem Schamanen nicht das Gefühl, dass der ihm bei nächster Gelegenheit die Kehle durchschneiden wollte. Was dagegen die anderen Krieger anging – gut, dass Blicke nicht töten konnten.

Chirgot misstraute dem Fremden. Egal, was der Schamane sagte, er misstraute ihm. Die Karapaki hatten Frauen und Kinder angegriffen und ermordet. Sie kannten keine Ehre. Die Götter mochten wissen, was dieser Fremde vorhatte. Womöglich plante er eine ganz besondere Gemeinheit. Chirgot würde mit dem Schamanen ziehen, um den Fremden im Auge zu behalten. Und sollte sich auch nur der geringste Anlass bieten, würde er es höchstpersönlich in die Hand nehmen, dass der Fremde einen Kopf kürzer gemacht wurde.

Zunächst aber würde er dafür sorgen, dass der Fremde das schlechteste Pferd bekam. Der sollte keine Gelegenheit finden, einfach wieder abzuhauen.

*

„Vermaledeite Schindmähre!” Ioro schlug seinem Gaul die Hacken in die Flanken. Die kleine, schmutziggelbe Stute mit der eisgrauen Mähne schnaubte verächtlich und trottete in ihrem gewohnten Schütteltrab weiter, als ob nichts passiert wäre. Bei allen Winddämonen, dieser Gaul brachte ihn noch um. Ioro spürte jeden Knochen in seinem Hinterteil. Und Knochen hatte die kleine Stute reichlich. Knochen, die an allen Ecken und Enden aus dem schütteren Fell herauszuragen schienen. Knochen, die sich ohne Sattel in jedes vorhandene Weichteil bohrten. Ioro hatte den Verdacht, dass man ihm das wohl schlechteste Pferd der ganzen Herde gegeben hatte.

Gut, die anderen sahen auch nicht besser aus, aber zumindest konnten sie schneller laufen. Wenn wenigstens dieser Chirgot nicht ständig wie ein Aasgeier hinter ihm hängen würde! Der sah so aus, als ob er ihn bei nächster Gelegenheit hinterrücks erstechen wollte.

Pad, pad, pad. Die kleine Stute kletterte mit schleifenden Hufen eine weitere Sanddüne empor. Nahm dieser Sand denn nie ein Ende? Mit seiner Kompanie war es schon schlimm genug gewesen, wenn sie durch Sand reiten mussten. Aber da hatte er wenigstens noch die Möglichkeit gehabt, hin und wieder eine Pause anzuordnen. Pausen schienen diese Wüstenkrieger überhaupt nicht zu kennen. Sie ritten jetzt schon seit dem Morgengrauen. Ohne zu rasten, ohne etwas zu trinken. Ioro klebte die Zunge fast am Gaumen fest und die Haut über seiner Narbe brannte wie Feuer. Gut, dass der Falke es heute vorzog, den Sand auf seinen eigenen Schwingen zu überwinden. Ioro war sich nicht so sicher, ob er das Gewicht des Vogels auf seiner Schulter noch ausgehalten hätte. Er konnte ja schon seinen eigenen Kopf kaum noch gerade halten. Ob dieser endlose Ritt eine spezielle Foltermethode der Wüstenkrieger war? Noch einen Tag würde er das nicht überstehen. Es war schon fraglich, ob er wenigstens diesen Tag überstand. Vermutlich, überlegte er düster, wäre er besser dran, hätte er sich gleich seinem Bruder Tolioro ergeben.

Pad, pad, pad. Die nächste Düne. Das wollte einfach kein Ende nehmen.

Reiner Stolz war es, der Ioro noch im Sattel hielt. Vor diesen verdammten Wilden würde er keine Schwäche zeigen. Wenn die das durchhielten, dann würde er, Ioro, ein Sohn des ruhmreichen Hauses Mehme, das schon lange schaffen.

Pad, pad, pad. Die nächste Düne.

Ioro klammerte sich fester an die struppige eisgraue Mähne.

Der Fremde schwankte. Chirgot schnaubte verächtlich. Diese Karapaki waren alle miteinander miserable Reiter. Malträtierten ihre Pferde mit Kandare und Sporen und hatten nicht einen Funken Gefühl für das, was die Tiere brauchten. Zudem hatte sich die ganze linke Gesichtshälfte und Schulter des Fremden mittlerweile dunkelrot verfärbt. Die Stelle sah vernarbt aus. Ob der Karapaki etwa auf seiner Narbe keine Sonne vertrug? Na, dann würde er nicht lange in der Wüste überleben. Sonne gab es hier nämlich ständig. Chirgot würde ihm ganz sicher keine Träne nachweinen.

Der dunkelrote Sonnenball berührte den Horizont, als hinter einer letzten Düne endlich ein ausgedehntes Tal in Sicht kam. Verstreut stehende Trupps von fahlgelben Pferden und rotbraunen Ziegen weideten die kargen Grasbüschel und die struppigen Dornbüsche ab. An der tiefsten Stelle des Tales standen ein paar ziegenfellrote Zelte, deren Bewohner sich umwandten und voller Erwartung ihren Kriegern entgegensahen. Der Schamane lenkte sein Pferd bis zwischen die Kochfeuer und sprang ab. Die Krieger folgten seinem Beispiel. Schon rannten Kinder herbei, um die Pferde in Empfang zu nehmen. Ioro hörte aufgeregtes Getuschel, als er sich vom Pferd gleiten ließ. Einen Moment musste er sich an der Kuppe festhalten, seine Beine drohten wegzuknicken. Verdammt! Ein einziger Tagesritt und er fühlte sich schwächer als ein Kleinkind? Das dufte doch nicht wahr sein. Unter Aufbietung aller Willenskraft ließ er das Pferd los und machte einen wackligen Schritt zur Seite. Ihm wurde schwarz vor Augen. Ruhig, ermahnte er sich. Bleib stehen, rühr dich nicht, warte. Irgendwie schaffte er es tatsächlich, stehenzubleiben. Dann roch er Wasser, fühlte den Rand eines Bechers an seinen aufgesprungenen Lippen. Ah, tat das gut! Er wollte mehr, doch die Frau schob seine Hand sanft zur Seite.

„Nicht zu schnell, Soldat”, sagte sie. „Du holst dir den Tod, wenn du jetzt zu schnell zu viel trinkst.” Sie lachte leise auf. „Vielleicht doch nicht den Tod, aber es dürfte dir dann sehr, sehr schlecht gehen.”

Ioro nickte benommen.

„Geh mit ihr”, sagte der Schamane.

Ioro blinzelte. Wo kam der Alte so plötzlich her?

„In ihrem Zelt ist noch Platz für einen Krieger.”

Der Schamane verschwand so schnell wieder, wie er gekommen war.

Die Frau nahm Ioro bei der Hand und zog ihn zu einem der Zelte. Der Boden im Zelt war von einem weichen, mit Arabesken verzierten Teppich bedeckt. Die Frau wies ihn an, sich zu setzen.

Tat das gut! Ioro fühlte sich erschöpft wie schon lange nicht mehr. Ob er sich einen Moment hinlegen sollte? Noch während er das dachte, berührte sein Kopf schon den Boden. Im nächsten Moment schlief er tief und fest.

*

Jemand stupste ihm vorsichtig in die Rippen und sagte etwas Unverständliches. Eine Frauenstimme antwortete, genauso unverständlich. Hatte sein Vater schon wieder eine neue Konkubine? Es wurde Zeit, dass er hier verschwand. Sein Vater mochte es nicht, wenn seine erwachsenen Söhne im Sommerharem schliefen. Ioro richtete sich auf. Das heißt, er wollte sich aufrichten. Weit kam er nicht. Nach dem ersten Zentimeter stellte er zwei Dinge fest, nein, drei: sein Kopf schmerzte zum Zerspringen, er hatte rasenden Durst, und er fühlte sich schwach wie nach einem heftigen Fieber.

„Trink dies!”, sagte eine Frauenstimme. Diese Stimme hatte er doch schon einmal gehört? Ioro versuchte zu blinzeln. Eine schlicht gekleidete Frau von vielleicht dreißig Regenzeiten tauchte in seinem Gesichtsfeld auf, mit hager geschnittenen Gesichtszügen, deren Schärfe durch ein mütterliches Lächeln gemildert wurde. Die Frau hielt ihm eine Schale mit Flüssigkeit entgegen. Ioro trank. Es schmeckte leicht bitter, aber durchaus trinkbar. Schon nach kurzer Zeit ließen seine Kopfschmerzen nach und er war wenigstens fähig, sich aufzusetzen.

Dies war nicht der Sommerharem. Wo, bei der Göttin, war er?

Langsam kehrte seine Erinnerung zurück. Sein Vater, König Kanata, war tot. Er selbst hatte ihn getötet. Und dies hier, das war ein Zelt der Wüstenkrieger. Er war bei seinen Todfeinden. Und er litt unter den Nachwirkungen eines einzigen Tagesrittes mit eben diesen Wüstenkriegern. Wenn seine weitere Zukunft sich ähnlich gestalten würde ...

Die Frau holte eine weitere Schale. Eine Art Körnerbrei war darin und ein Löffel. „Du musst etwas essen”, sagte sie freundlich.

Ioro löffelte gehorsam.

Die Zeltklappe bewegte sich. Ein kleiner dunkler Lockenkopf schob sich herein. Das musste das Kind sein, das ihn vorhin angestupst hatte. Ioro lächelte vorsichtig. Der Junge schlüpfte ins Zelt und sah ihn mit großen Augen an. Er mochte acht oder neun Regenzeiten zählen. Wieder sagte die Frau etwas in der fremden Sprache. Der Sprache der Wüstenstämme, wie Ioro verspätet feststellte. Und jetzt, wo er sich darauf konzentrierte, bekam er auch mit, was sie sagte. „Sei höflich, starr unseren Besucher nicht so an!”

Zurück zu Ioro gewandt, fügt sie auf Karapakisch hinzu: „Er kennt leider nur wenig von meiner Sprache. Er lebt erst seit wenigen Monden bei mir.”

„Er ist nicht dein Sohn?”, fragte Ioro verdutzt.

„Er ist der Sohn der Schwester meines verstorbenen Mannes”, gab die Frau zurück. Sie musste wohl die Fragezeichen in Ioros Augen erkannt haben, denn sie fuhr fort: „Die Schwester meines Mannes ist zu den Kriegern gegangen. Es ist Sitte hier, dass Kinder immer zu den nächsten weiblichen Verwandten gehen, wenn ihre Eltern die Zelte verlassen.”

„Aha”, murmelte Ioro. Merkwürdige Sitten. Warum schickten sie die Kinder nicht zu ihren nächsten männlichen Verwandten? Aber zunächst brannte ihm eine ganz andere Frage auf dem Herzen. „Wo hast du so gut Karapakisch gelernt? Ich höre kaum einen Akzent!”

Die Frau lächelte. „Ich bin Karapakierin von Geburt, aus dem Dorf Motogawitere.”

Ioro starrte sie entgeistert an. „Karapakierin? Aber … wieso lebst du dann hier? Und wie lange lebst du hier schon? Bist du eine Sklavin?”

„Hier gibt es keine Sklaven”, sagte die Frau. Es klang, als ob sie sich darüber freute. „Keine Sklaven, und keine Diener, und keine Männer, die über das Leben einer Frau bestimmen. Wenn du’s genau wissen willst, ich war in Motogawitere verheiratet, mit einem Bauern, seit ich fünfzehn war, und zwei Jahre später hatte ich zwei Kinder von ihm geboren, die beide ihr erstes Lebensjahr nicht überlebten, weil ich zu wenig Milch für sie hatte. Dann kam eines Tages einer der Wüstenreiter ins Dorf, um etwas Eisen zu erhandeln, und sah mich an. Und ich hatte das Gefühl, dass dieser Mann der einzige weit und breit war, der mich nicht als Zuchtvieh sah oder als Arbeitstier, der wirklich eine Frau, eine begehrenswerte Frau in mir sah. Ich versteckte mich außerhalb des Dorfes. Und als er auf dem Rückweg vorbeikam, trat ich seinem Pferd in den Weg und sagte ihm, dass ich mit ihm reiten wollte. Er nahm mich ohne ein Wort zu sich auf den Pferderücken. So habe ich meinen wahren Mann kennengelernt. Er hat mir dieses Zelt genäht und es mir geschenkt. Und seitdem lebe ich hier.”

„Hast du nie versucht, zurückzukehren?”

„Wozu?” Die Frau schien aufrichtig erstaunt. „Hier geht es mir besser, als es mir in Karapak je ging. Ich werde geachtet, kann frei entscheiden, was ich tun will und wo ich leben möchte, und das Leben ist sehr viel schöner und unbeschwerter als in Motogawitere.”

„Hat es denn niemanden hier gestört, dass dein Mann eine Karapakierin mitbrachte als seine Frau?”

„Weshalb sollte es?”, fragte die Frau zurück. „Viele hier in den Zelten stammen aus Karapak. Frauen und auch Kinder. Wenn die Krieger der roten Zelte nach Karapak einfallen, töten sie höchstens die Männer. Die Frauen und Kinder lassen sie leben, und wer immer es möchte, ist in ihren Zelten willkommen und wird in ihr Volk aufgenommen.”

So also hatte der Schamane das gemeint. Die Wüstenstämme töteten wirklich keine Frauen und Kinder. Aber an der Grenze hatte er tote Frauen und Kinder gesehen. Und nicht gerade wenige. Wer, wenn nicht die Wüstenstämme, hatte sie dann getötet?

Darüber konnte er später nachdenken. Zunächst einmal hatte Ioro ein ganz anderes, viel akuteres Problem. Und wegen dem würde er garantiert nicht die Frau fragen. Jetzt kamen ihm seine Kenntnisse aus dem Wüstenfeldzug zupass. Ioro wechselte zu der Sprache der Wüstenstämme und wandte sich an den Jungen. „Ich hab das Gefühl, meine Blase platzt fast”, sagte er. An dem breiten Grinsen des Jungen konnte er sehen, dass der ihn gut genug verstand. „Zeigst du mir bitte, an welchem Ort ich mich erleichtern kann?”

Der Junge nickte beflissen und sprang hoch. Ioro folgte ihm, langsam, vorsichtig, mit immer noch schmerzenden Muskeln und steifen Gelenken.

Wüstenkrieger

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