Читать книгу Wüstenkrieger - Chris Svartbeck - Страница 7

Ein Anfang

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Jo-im-Falken kreiste über dem Zelt des Schamanen. Der alte Zauberer heckte irgendetwas aus. Und was immer es war, es gefiel Jo nicht. Seit Tagen schon hielt er sich auf Befehl des Schamanen von Ioro fern, damit der seine Prüfungen bestehen konnte. Wie´s aussah, war Ioro jetzt damit durch. Jo hatte ihn schwanken sehen, als er mit einer Girlande barbarischer Tätowierungen um Schulter und Arm aus dem Zelt des Schamanen gekommen war. Total erschöpft hatte Ioro ausgesehen. Jetzt war er in Suas Zelt. Vermutlich päppelte die Frau ihn wieder auf. War ja in ihrem eigenen Interesse, ihren Liebhaber wieder in Form zu bekommen. So, wie Ioro im Moment aussah, war er bestimmt im Bett zu nichts zu gebrauchen.

Zum Wüstenkrieger hatte der Schamane Ioro also gemacht. Ob das wohl gut ging? Ioro war andere Herausforderungen gewohnt als das ewig gleiche, primitive Wüstenleben. Wie lange würde sein Freund das durchhalten, ohne einen Koller zu kriegen?

Der Schamane musste das wissen. So dumm konnte der Alte gar nicht sein, dass er dachte, Ioro wäre als einfacher Wüstenkrieger auf ewig glücklich. Das alte Schlitzohr plante etwas und Jo wollte unbedingt wissen, was.

Er lenkte den Falken nach unten, direkt in das Rauchloch des Zeltes.

Der Schamane sah nicht einmal hoch, als der Falke hereinsegelte. Er kramte in irgendwelchen kleine Säckchen und Kästchen. Jo landete auf etwas, das wie ein grob geschnitzter Phallus aussah. Überraschenderweise fühlten seine Krallen kein Holz, sondern hartes Leder.

So. Im Zelt war er. Und wie stellte er jetzt einen Kontakt her? Beim letzten Mal hatte er draußen in der Sonne gedöst, als der Schamane in seinen Traum glitt. Traum… Trance! Das war die Lösung!

Jo suchte sich einen Fixpunkt in dem bunten Wirrwarr und begann, Stückchen für Stückchen seine Umgebung auszublenden.

„Da bist du ja endlich!”, begrüßte ihn der Schamane.

Jo sah sich um. Er war wieder in der mittlerweile vertrauten leeren Sandwelt.

„Ich dachte schon, du würdest es nie versuchen”, fuhr der Schamane fort.

Jo legte den Kopf schief. Eine Gewohnheit des Falken. Unwillig schüttelte er sich. Wenn das noch lange dauerte, würde er irgendwann wirklich ein Vogel werden.

„Lass uns ein Stück spazieren gehen”, schlug der Schamane vor. „Es spricht sich leichter im Gehen.”

Eine ganze Weile gingen sie schweigsam nebeneinander her. Der Sand sah vor ihnen so grau aus wie hinter ihnen. Die Sandwelt seiner Träume war leblos. Deprimierend. Fast so schlimm wie der Spiegel, in dem sein wahrer Körper festsaß.

„Wie willst du deinen Körper zurückgewinnen?”, fragte der Schamane.

„Keine Ahnung.”

„Ah ja”, sagte der Schamane. „Ihr seid mir schon ein Gespann, du und dein königlicher Freund. Beide wisst ihr nicht, was ihr wirklich wollt, beide habt ihr keine Ahnung von dem, was ihr könnt, und beide habt ihr noch eine verdammt große Menge zu lernen.”

„Und da willst du Abhilfe schaffen?”

Der Schamane warf ihm einen abschätzenden Blick zu. „Bei deinem Freund könnte ich das schaffen, ja. Bei dir … Du sitzt in einem Spiegel fest. Ich muss vorsichtig sein. Diejenigen, die dich eingefangen haben, sind auch meine Feinde. Helfe ich dir, alarmiere ich sie womöglich. Und das wäre schlecht.”

„Na fein”, brach es aus Jo heraus. „Ich sitze bis zum Hals in der Patsche und du willst mir nicht helfen!”

„Das habe ich nicht gesagt. Wirst du endlich lernen, richtig zuzuhören? Ich habe gesagt, ich muss vorsichtig sein!”

Sie gingen ein Stückchen.

„Entschuldigung”, sagte Jo endlich. „Ich glaube, ich war voreilig.”

„Na also”, brummte der Schamane. „Geht doch! Du würdest dir dein zukünftiges Leben erleichtern, wenn du nicht immer gleich lospreschst, sondern zuerst versuchst, deine Umgebung und deine eigene Lage zu analysieren.

Also, wie ich schon sagte, ich kann dir nicht schnell helfen, und ich kann dir nicht sehr viel helfen, aber ich kann dir ein paar Tipps geben. Damit du eines Tages imstande bist, dir selbst zu helfen.”

„Bekomme ich ein besseres Angebot?”, fragte Jo.

„Nein”, sagte der Schamane.

„Dann nehme ich an.”

Leises Klirren klang durch das Zelt. Der Falke blinzelte. Er war wieder im Hier und Jetzt. Mit schwerfälligen Flügelschlägen rappelte er sich auf und flog auf die Öffnung zu. Unter ihm kramte der Schamane weiter in seinen Utensilien.

Ioro sah zum Horizont. Hinter den fernen Bergen lag Karapak. Das Land seiner Geburt. Das Land, in das er nie wieder zurückkehren konnte. Er fühlte sich leer. Es war ein gutes Leben in den Zelten der Weißspuren-Sippe, aber ihm fehlte der Zweck. Sein ganzes Leben lang hatte er Ziele gehabt. Der oberste Feldherr Karapaks hatte keine Zeit für Müßiggang.

Der Wüstenkrieger Nior dagegen schon. Und Ioro stellt fest, dass es ihm gewaltig auf die Nerven ging, wenn er nichts Richtiges zu tun hatte. Viel taten sie wirklich nicht, die Wüstenkrieger. Die Kinder hüteten die Herden, die Frauen holten Feuerholz, kochten und nähten, und die Krieger und Kriegerinnen ritten stolz auf ihren Pferden umher und brachen gelegentlich zu einem kleinen Grenz-Scharmützel auf. Das war´s dann auch schon. Die meiste Zeit saßen Frauen wie Männer lediglich im Schatten der Zelte zusammen, unterhielten sich, spielten und tranken Tee. Das hielt er unmöglich ein ganzes Leben lang aus.

„Langeweile?“

Ioro zuckte zusammen. Wo kam der Schamane bloß schon wieder her? Und wieso wusste der immer, was er gerade dachte?

„Ich hab es dir doch schon gesagt.“ Der Schamane hockte sich neben Ioro. „Dein Körper redet, auch wenn deine Zunge schweigt. Wenn du wirklich etwas verschweigen willst, solltest du lernen, deinen Körper zu beherrschen.“

„Und das lerne ich wie?“, fragte Ioro desinteressiert.

„Du könntest mein Assistent werden.“

Ioro fuhr so ruckartig herum, dass er fast das Gleichgewicht verlor. „Dein Assistent?“

Der Schamane warf ein kleines Steinchen. Es hüpfte durch den Sand.

„Warum?“

„Weil ich einen Nachfolger brauche. Ich werde nicht mehr sehr lange leben.“

„Und dazu willst du ausgerechnet mich?“

„Warum nicht?“, gab der Schamane zurück. „Du hast einige Vorzüge. Zum einen bist du ein erfahrener Mann, der bereits eine Führungsposition innehatte. Zum zweiten hast du einen hellen Kopf auf deinen sonnenverbrannten Schultern und denkst nach, bevor du handelst. Zum dritten sehe ich deiner Signatur an, dass du das Zeug zu einem verdammt guten Schamanen hast. Und es gibt natürlich noch einen sehr guten zusätzlichen Grund: Du brauchst Beschäftigung. Möglichst bevor es dir einfällt, eine Dummheit zu begehen.“

Ioro schauderte. Zauberer. Sein Vater hatte sie immer als Quelle allen Unglücks bezeichnet. Andererseits – sein Freund Jo war auch ein Zauberer. „Aber ich wurde nicht bei euch geboren. Was werden die anderen Zauberer der Stämme sagen, wenn du ausgerechnet mich wählst?

„Es gibt keine anderen“, sagte der Schamane. „Es gibt nur mich.“

„Nur einen Zauberer in der ganzen Weißspuren-Sippe?“, fragte Ioro verblüfft.

„Nur einen bei allen Sippen der Roten Zelte zusammen.“

„Warum?“

„Schamanen leben nicht lange.“

Ioro erinnerte sich. Der Schamane nährte den Zauber mit seiner eigenen Lebenskraft. „Gut. Das ist nachvollziehbar. Ich kann mir denken, warum dann nicht sehr viele zum Zauberer werden wollen.“

„Mir wäre es lieber, du würdest mich nicht Zauberer nennen“, sagte der Schamane. „Zauberer, das sind die, die mit Spiegeln arbeiten. Die, die Seelen rauben.“ Er schwieg eine Weile, bevor er fortfuhr: „Es würden durchaus mehrere der jungen Männer gerne zu Schamanen werden. Schamanen haben Macht. Macht verführt. Trotz des hohen Preises, den sie kostet. Aber wir können es uns nicht leisten, zu viele Krieger an den Zauber zu verlieren. Wir haben dem schon vor etlichen Generationen einen Riegel vorgeschoben. Unsere Gesetze sind da eindeutig. Es gibt immer nur einen Schamanen. Und der sucht sich selbst aus, wer sein Nachfolger werden soll.“

„Und wenn du gestorben wärst, bevor du einen Nachfolger ausbilden konntest?“, fragte Ioro.

„Man hat einige Privilegien als Schamane“, sagte der alte Mann. „Zufällig gehört dazu, dass wir den Zeitpunkt unseres Todes wissen.“

„Oh.“

Ioro dachte nach. Der Schamane bot ihm gerade die Lösung seines Problems an. War das wirklich so einfach?

„Ist etwas daran unehrenhaft?“, fragte er langsam.

„Nein.“ Die Antwort des Schamanen klang überzeugend.

„Und was passiert, wenn ich ablehne?“

„Dann suche ich mir einen anderen Nachfolger und du langweilst dich zu Tode.“

Schöne Aussichten. Ioro befürchtete, dass der Schamane recht hatte. Alleine der Gedanke an endlose lange Tage mit nichts außer Müßiggang ließ ihn erschaudern. Was immer der Haken war, solange er nichts Unehrenhaftes tun musste, war er einverstanden.

„Gut“, sagte er, „ich werde dein Assistent.“

„Du musst natürlich die Frau aufgeben“, sagte der Schamane beiläufig.

Was? Das konnte der nicht ernst meinen! „Warum sollte ich? Hindert mich etwa eine Frau daran, Zauberer zu werden?“

„Nein, das ist es nicht.“

Ioro konnte dem Schamanen ansehen, dass sich der anscheinend plötzlich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlte.

„Es ist nur für einen Mann einfach zu schwierig, mit einer Frau zusammenzuleben, ohne mit ihr Sex zu haben.“

„Und?“

„Frag deinen gefiederten Freund!“

Ioro sah herüber zu dem Falken. Der drehte den Kopf zur Wüste und tat betont uninteressiert. Ioro streckte den Arm aus. „Jo, ich glaube, du solltest mir ein paar Dinge erklären.“

Der Falke erhob sich mit ein paar lustlosen Flügelschlägen und segelte auf Ioros Schulter. Gleich darauf verspürte Ioro die vertraute Gegenwart in seinem Geist.

„Er hat Recht“, sagte Jo. „Du solltest lieber ohne Frau leben. Am besten gleich ganz ohne Familie, wenn wir schon dabei sind.“

„Aber warum?“, begehrte Ioro auf. Gerade jetzt hatte er endlich eine Familie gefunden, die er lieben durfte und die ihn liebte.

Anstelle einer Antwort übermittelte Jo ihm Bilder. Ioro sah das Gesicht einer jungen, sehr attraktiven Frau. Verspürte die Lust, die Jo und diese Frau verband. Erfreute sich an der Ekstase, die selbst in der Erinnerung noch berauschend war. Fühlte das jähe Entsetzen, als die Augen der Frau brachen, ihr Körper sich auflöste und ihre leuchtende Präsenz erlosch wie eine Kerze im Winterwind. Und zusammen mit diesen Bildern übermittelte Jo ihm auch den Grund.

„Ja“, bestätigte der Schamane. „Zauberer stehlen Leben. Selbst dann, wenn es nicht ihre Absicht ist.“

„Und es sind immer die Schwächsten, die zuerst zerstört werden“, ergänzte Jo in Ioros Gedanken. „Die Kinder.“ Für einen winzigen Moment glühte in seinen Erinnerungen ein Kindergesicht auf. Ein sehr junges Kind, noch nicht einmal von der Mutterbrust entwöhnt. Und ein anderes Gesicht, das eines älteren Mädchens, müde, verbittert, das sagte: „Sie haben sie verbraucht.“

Ioro schwieg geschockt. Das wollte er auf keinen Fall.

„Und wenn ich kein Zauberer werden will?“, fragte er schließlich leise.

„Du bist bereits einer“, gab der Schamane zurück. „Du hast zu häufig Kontakt mit Zauberern gehabt. Deine latenten Fähigkeiten sind schon dabei, sich einen Weg an die Oberfläche zu suchen. Bilde ich dich nicht aus, bist du für dich und alle anderen eine Gefahr. Bilde ich dich aus, bist du wenigstens nur für dich selbst eine Gefahr.“

Es gab nichts, was Ioro darauf antworten konnte.

*

Am selben Abend noch packte Ioro seine wenigen Habseligkeiten und zog um in das Zelt des Schamanen. Die Frau Sua sagte nichts, als er ging. Sie umarmte ihn nur kurz, streichelte über seine Wange, und widmete sich dann wieder ihrem Herdfeuer.

Mugo wartete draußen vor dem Zelt. „Schade, dass du gehst“, sagte er. „Aber ich schätze, Sua hat recht. Du musst wohl gehen.“

„So. Hat sie das gesagt?“ Ioro hockte sich neben den Jungen. Mugo kaute auf einem Grashalm. Sein Gesicht sah verschlossen aus. Zu nachdenklich. Zu alt für seine Jahre. „Vermisst du deinen Vater?“, fragte Ioro.

„Ja.“ Die Antwort kam zäh, widerwillig.

„Hättest du gewollt, dass ich in eurem Zelt bleibe?“

Mugo biss den Grashalm ab und spuckte ihn aus. „Na ja. Es war halt viel lustiger mit dir. Sie hat nicht mehr geweint, seit du bei uns wohnst. Ich glaube, sie mag dich wirklich.“

Ioro hatte das dringende Gefühl, dass hier nur Ehrlichkeit half. „Ich mag euch auch wirklich“, sagte er. „Euch beide. Nur – wenn ich hier bleibe, werde ich euch früher oder später schaden. Auch wenn ich es nicht will. Wenn ich dagegen zu dem Schamanen gehe, dann kann ich euch nützen. Und nicht nur euch, sondern dem ganzen Stamm.“

Mugo sah ihn weiterhin nicht an. Seine Stimme klang gepresst. „Ich hatte gehofft, du würdest mein neuer Vater werden können. Ich hatte gehofft, es würde weitere Kinder in unserem Zelt geben.“ Er zog seine mageren Schultern hoch. „Es war so still in unserem Zelt, bevor du kamst.“

„Ich bin ja nicht weg“, sagte Ioro. „Ich bleibe bei der Sippe. Ich wohne nur ein paar Zelte weiter. Du kannst mich weiterhin dafür ausschimpfen, dass ich wie ein dummer Karapaki denke. Und ich werde dich weiterhin liebhaben. Dich und Sua.“

Mugo warf sich mit einem trockenen Aufschluchzen in Ioros Arme. Ioro strich ihm über das strubbelige Haar. Irgendwann wurde er sich eines warmen Körpers hinter seinem Rücken bewusst. Dann schlang Sua ihre Arme um sie beide. Und als er endlich aufstand, um zum Zelt des Schamanen zu gehen, blieben Sua und Mugo Arm in Arm zurück und sahen ihm nach.

*

Jo-im-Falken zog nachdenklich eine Schwungfeder durch seinen Schnabel, um sie zu glätten. Wer hätte gedacht, dass Ioro einmal ein richtiger Zauberer werden würde? Zwar ohne Spiegel, aber immerhin. Ganz offensichtlich konnte der Schamane mit Ioros Potenzial mehr anfangen, als Jo gedacht hatte. Hochinteressant, dieser Wüsten-Zauberer.

Falken hatten scharfe Augen. Es würde sich lohnen, einen Blick auf Ioros Ausbildung zu halten. Vielleicht fiel dabei ja auch für ihn selbst noch etwas Brauchbares ab.

*

Ioros Zunge war ein Stück Leder. Seine Augenlider schienen aus Blei zu sein. Seit dem frühen Morgen waren sie jetzt schon in der Wüste unterwegs, ohne eine Rast, ohne einen einzigen Tropfen Wasser. Ioro fühlte sich wie ein Stück Bratfleisch, das zu lange auf dem Rost gelegen hatte.

Der Schamane lief vor ihm, leichtfüßig wie eine Wüstengazelle. Ihn schienen weder die sengende Sonne noch der brennende Sand etwas auszumachen. Wo, bei den Windgeistern, wollte der Schamane mit ihm hin?

Über ihnen rief der Falke seinen schrillen Vogelruf. Nichts Besonderes. Der Falke kreiste ohne ein Zeichen von Aufregung. Sie waren sicher.

Allerdings hatte Ioro auch nichts anderes angenommen. Kein karapakischer Soldat wäre so lebensmüde, sich freiwillig in diesem Teil der Wüste aufzuhalten. Und kein karapakischer General würde seinen Soldaten einen so bescheuerten Befehl geben. Karapakier waren tapfer, aber keine Selbstmörder.

Wenn der Schamane so weitermachte, würde er, Ioro, allerdings ziemlich bald ein Selbstmörder sein. Falls er nicht vorher zum Mörder wurde und den hageren Hals seines Vordermannes zudrückte.

„Aber, aber, mein junger Schüler!“, erklang die vertraute, leicht spöttische Stimme. „Du willst doch wohl nicht jetzt schon an Aufgeben denken?“

Ioro wollte antworten, brachte aber nur ein heiseres Krächzen hervor.

„Dein Vogelfreund spricht klarer als du“, beschied ihm der Schamane, ohne auch nur einen Augenblick langsamer zu werden. „Du solltest dir etwas mehr Mühe geben.“

Ioro setzte erneut an. Dieses Mal gelang es ihm, mühsam ein paar Worte herauszupressen. „Wie schaffst du das? Du hast doch genauso wenig Wasser wie ich und trotzdem siehst du so frisch aus wie bei unserem Aufbruch.“

„Übung“, gab der Schamane gleichmütig zurück. „Viel Übung.“ Nach ein paar Schritten setzte er hinzu: „Abgesehen davon: Hier ist Wasser genug vorhanden. Du benutzt es nur nicht.“

Ioro blieb entgeistert stehen. „Wasser? Hier?“

Jetzt hielt auch der Schamane an. „In der Luft ist Wasser.“

„Blödsinn. Diese Luft ist so trocken wie der Furz eines Feuergeistes.“

„Jede Luft enthält Wasser.“ Der Schamane stieß ihm den Finger auf die Brust. „Da drin, da musst du kalt genug werden, dass die Luft das Wasser für dich herausgibt.“

„Verdammt“, begehrte Ioro verzweifelt auf. „Hier ist es so heiß wie in einer Esse. Wie soll ich da inwendig kalt werden?“

„Beherrschst du deinen Körper oder beherrscht dein Körper dich?“, fragte der Schamane. Dann pfiff er nach dem Falken. Der segelte gehorsam auf Ioros Schulter. „Zeig deinem Freund, wie er mit sich selbst umgehen muss. Und mach es schnell, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

Und der Falke öffnete sein Wissen für Ioro.

*

Es war einfach, wenn man wusste, wie. Zumindest würde er nie wieder Gefahr laufen, zu verdursten. Fehlte nur noch, dass der Schamane irgendwie jetzt auch noch sein Brot aus der Luft herauszog.

„Dummkopf“, schalt Jo in seinen Gedanken. „Man kann nur Dinge herausbekommen, die enthalten sind. Luft enthält Wasser, aber kein Brot.“

„Jaja, schon gut“, brummelte Ioro. „Warum hast du mir das nicht schon früher gezeigt?“

Die Gedanken des Falken zeigten Erstaunen. „Ich habe, ehrlich gesagt, überhaupt nicht daran gedacht, dass dir dieses Wissen fehlt.“

„Offensichtlich“, warf der Schamane ein, der ihrer Unterhaltung irgendwie zu folgen schien, „hast du überhaupt nicht sehr viel nachgedacht. Noch weniger als dieser junge königliche Wirrkopf. Können wir jetzt weiter?“

„Ja“, antworteten Ioro und Jo gleichzeitig. Ioro grinste, als der Falke sich wieder in die Luft schwang. Seit seinen Unterrichtszeiten im Kloster hatte er sich nicht mehr so … so ungezwungen gefühlt.

*

Am späten Nachmittag wurde der Schamane langsamer. Er sah sich suchend um und steuerte schließlich auf einen unscheinbaren Spalt in den Felsen zu. Der Spalt drehte sich und wand sich in das Gestein. Ein protestierender Ruf verriet Ioro, dass der Falke ihn nicht mehr sehen konnte. Der Schamane ging weiter, immer tiefer hinein. Von oben drang kaum noch Licht. Jetzt stieg der Boden im Spalt leicht an. Es wurde noch enger. Ein dicker Mann hätte bereits Schwierigkeiten gehabt. Nicht, dass es bei den Wüstenstämmen dicke Männer gab. Sowenig wie dicke Frauen. Dafür reichte das Essen nicht. Der Schamane ging weiter. Die Felsendecke hatte sich inzwischen über ihnen geschlossen und das Licht war einer kaum noch wahrnehmbaren Dämmerung gewichen. Ioro musste jetzt den Kopf einziehen. Au! Das war eine Umgebung für Fledermäuse, nicht für Menschen!

„Tollpatsch“, brummelte der Schamane. „Sieh gefälligst richtig hin!“

„Im Dunkeln?“

„Na und? Du hast Augen. Sie sehen nicht nur Licht. Benutze sie.“

Verdammter Schamane, musste der Mann immer in Rätseln reden? Wenn das Unterricht war, dann ein ziemlich miserabler. Ioro starrte, bis ihm fast die Augen aus dem Kopf fielen, aber er sah nichts. Dafür stieß er sich gleich mehrere Male mit diversen Körperteilen an verschiedenen Felsvorsprüngen, obwohl er jetzt den Raum vor sich vorsichtig abtastete. Schließlich gab er es auf. Fühlte nur noch seinen Weg, hörte, wie der Schamane sich ohrenscheinlich weiter und weiter entfernte, und dachte an nichts.

Fast schon automatisch wich er einer besonders fiesen Felszacke aus, die vor ihm in den Weg ragte. Und sprang mit einem erschrockenen Japsen hoch, nur um sich erneut den Kopf an der rauen Felsdecke zu stoßen. Er hatte die Felszacke gesehen! Jetzt war wieder alles stockfinster. Wie hatte er das gemacht? Einfach … nichts gemacht? Ioro versuchte es. Konzentrierte sich darauf, sich auf nichts zu konzentrieren. Und tatsächlich, wie durch Geisterhand erschienen die Konturen der Felsen vor seinen Augen. Das also hatte der Schamane gemeint. Es gab für Zauberer Wege, die Dinge auf eine völlig andere Art zu sehen.

Der Rest des Weges war einfach. Der Schamane gab nur einen knappen Kommentar, als er ihn einholte. „Na endlich.“

Ioros Beinmuskeln protestierten bereits energisch, als sie endlich das Ende des Spalts erreichten. Zuerst fiel Ioro nur auf, dass es deutlich heller wurde. Dann öffnete sich der Spalt, zuerst zu einer großen Höhle, und dann zu einem Talkessel, der rundum von hohen Bergen umgeben war. Die Berge waren imposant, mit steil abfallenden Felswänden. Kein Mensch würde hier heraufklettern können. Und sie leuchteten. An ihrem oberen Ende, auf das noch die Sonne schien, glühte die Felsenwand rot, weiter nach unten veränderte die Farbe sich zu einem Purpur, der im Schatten am Fuß der Felsen fast zu schwarz wurde. Am erstaunlichsten aber war das Grün. Das ganze Tal war grün. Bäume, Büsche, Gras, soweit er sehen konnte. Grün, das überall aus dem roten Sand spross. Ein fruchtbares Tal, mitten in der Wüste.

„Wer lebt hier?“, fragte er staunend.

„Niemand.“

„Aber … warum nicht?“

„Dies“, sagte der Schamane, „ist das Tal, in dem die Roten Zelte geboren wurden. Der Ort, in dem unsere Sagen beginnen.“ Er machte eine ausladende Bewegung mit der Hand. „Das, was du hier siehst, mein Schüler, ist ein einziges, riesiges Grab.“

Ioro war heilfroh, dass der Schamane ein Feuer entfacht hatte. Wer wusste schon, wie viele Geister an diesem Ort noch umherirrten. Die Nacht war wärmer als draußen in der Wüste, die Felsenwände hielten die Wärme des Tages gespeichert. Ein kleiner Bach gluckste nicht weit von ihnen über sein steiniges Bett. Kaum merklich zupfte eine leichte Brise an den Blättern. Grillen zirpten. Der Schamane stocherte in der Glut. Ioro schlang die Arme um seine Knie. Ein Bett wäre jetzt angenehm. Selbst das Feldbett eines Kriegszeltes.

„Sch“, tadelte der Schamane, „ein einziger Tag nur, und schon bist du müde! Kein Wunder, dass die karapakischen Soldaten uns nie erwischt haben!“ Er warf das Zweiglein in die Glut. Das Feuer versprühte ein paar Funken. Das Holz knackte und ging in Flammen auf.

„Früher ...“, sagte der Schamane leise. Es war fast, als ob er mit sich selbst sprach. „Früher lebten viele Menschen hier. Überall in diesem Land. Früher war hier noch keine Wüste. Oder zumindest war sie kleiner, sehr viel kleiner. Dort draußen, wo heute nur der Sand weht, da war grünes Land. Dort weideten Herden. Man sagt, es gab damals noch keine Königreiche. Vielleicht stimmt das. Vielleicht gab es ein paar, nur waren sie einfach so klein, dass wir sie heute nicht mehr als solche erkennen. Jedenfalls, damals herrschten keine mächtigen Könige. Damals herrschten mächtige Zauberer. Es heißt, dass sie um die Macht stritten. Wenn die Mächtigen sich streiten, dann werden die Kleinen zwischen ihnen zermahlen. Das war immer schon so. Und so geschah es auch hier. Die Zauberer stritten und die Menschen starben. Zusammen mit den Menschen starben die Herden, und das Gras, und alles andere. Einige Menschen zogen sich in dieses Tal zurück, in der Hoffnung, dass sie hier vor den Zauberern in Sicherheit waren.“ Der Schamane verstummte.

„Und?“, fragte Ioro nach einer Weile.

„Es waren am Ende sehr viele Menschen im Tal.“ Der Schamane hob den Kopf und sah hinaus in die Nacht. Es war, als ob er etwas gehört hatte.

Ioro lauschte angestrengt. Aber die Grillen zirpten ungestört weiter.

„Wir wissen nicht sicher, was geschah“, sagte der Schamane, „Möglich, dass einer der Zauberer zufällig das Tal fand. Möglich, dass es einen Verrat gab. Gefunden wurde es jedenfalls. Damals, musst du wissen, waren diese Klippen weiß.“ Er deutete auf den Boden, der im Schein des Feuers zu brennen schien. „Damals war der Sand in diesem Tal weiß. Die Menschen wohnten wie heute in Zelten aus Ziegenfell. Aber auch diese Zelte waren weiß.

Jedenfalls, sie fanden unsere Zuflucht. Zuerst versuchten wir, irgendwie Frieden zu halten. Zahlten den Zauberern Abgaben. Aber sie forderten immer mehr. Irgendwann forderten sie zu viel. Und wir gehorchten nicht mehr.

Und dann kam der Zauber über uns. Keiner weiß, wie lange er dauerte. Die, die überlebten, sagten, es sei ihnen wie eine Ewigkeit vorgekommen. Es gab nicht viele, die überlebten. Am Ende des Tages war der Sand rot, waren die Berge rot, waren die Zelte rot. Und die Menschen und Tiere lagen dazwischen, überall im Tal, tot, vertrocknet, eingeschrumpft wie dürres Holz. Die, die überlebt hatten, wussten nicht, warum. Sie nahmen, was sie für ihre weitere Existenz brauchten, und flohen. Seit damals sind unsere Zelte rot.“

Ioro schauderte. So viele Tote und niemand hatte sie begraben. Würde dieses kleine Feuer ausreichen, sie vor den Geistern zu schützen?

„Du brauchst keine Angst zu haben.“ Die Stimme des Schamanen klang zur Abwechslung fast sanft. „Das ist so lange her, dass nicht nur die Körper längst zu Staub zerfallen sind. Selbst die Geister gibt es nicht mehr. Die Winde haben sie schon vor langer Zeit davongetragen.“

Ioro schluckte. Auch wenn die Geister fort waren, trotzdem … ihm war dieses Tal unheimlich. Schlafen würde er hier auf keinen Fall.

„Und?“, fragte er nach einiger Zeit zögernd. „Warum nennen wir uns die Weißspuren-Sippe?“

„Jeder der Stämme hat sich nach etwas aus diesem Tal benannt“, sagte der Schamane. „An einer Stelle hatte der Zauber nicht so tief gebrannt. Da war nur die dünne obere Schicht des Bodens rot verfärbt. Als unser Ahnherr Prure die Dinge zusammengesucht hatte, die er draußen zum Überleben brauchen würde, sah er seine Spuren im Sand. Sie waren weiß, denn unter seinen Füßen hatte sich der rote Sand zur Seite geschoben.“

Das also war der Ursprung der Sippennamen, Ioro hatte sich schon lange gefragt, woher die Stämme ihre merkwürdigen Namen hatten. Totbaum, Faulwasser, Hängender Fels, Wüstenameise, Pferdeschädel, Ölkrugträger, Grünmesser, Drei Steine und Weißspuren. Neun Namen. Neun Überlebende. Ein paar mehr, wahrscheinlich, sie hatten ja Familien gegründet. Aber es konnten wirklich nicht sehr viele gewesen sein.

Wie musste man sich fühlen, wenn man als Einziger einer Familie, einer Sippe, eines Stammes überlebte? Und welcher Mut gehörte dazu, nach so einem Tag weiterleben zu wollen? Ioro fühlte sich ganz klein.

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