Читать книгу Wüstenkrieger - Chris Svartbeck - Страница 9

Gegenspieler

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„Ach, junger Schüler Jo, da bist du ja endlich!“ Ein verknittertes Gesicht unter einem fast kahlen Schädel schob sich hinter dem Regal hervor. „Ich hatte schon befürchtet, du würdest deine Studien vernachlässigen, mit all dieser dummen Spionage.“ Dem verknitterten Gesicht folgte ein hagerer Körper, der aussah, als würde ihn der nächste Windstoß davontragen. Wer zum Teufel war dieser Tattergreis, der aussah, als ob er längst in ein Grab gehörte?

„Spionage ist nicht dumm. Spionage ist wichtig“, knurrte Skane.

„Nicht so wichtig wie Studien, jedenfalls für einen Zauberer, der die Anfangsgründe noch kaum beherrscht“, gab der Alte ungehalten zurück. „Wir sollten jetzt dringend weitermachen.“

„Ich habe keine Zeit.“ Skane drehte dem Alten den Rücken zu.

„Unsinn!“, schimpfte der Alte. „Die Zeit musst du dir nehmen! Das solltest du selbst nur zu genau wissen!“

„Jaja, ein andermal.“

„Nein, heute! Sofort! Ich will keine Ausreden mehr hören!“

„Wir können später weitermachen. In ein paar Tagen oder in ein paar Monaten. Das läuft mir nicht weg.“

„Bist du verrückt geworden? Das geht auf keinen Fall!“ Die Stimme des Alten wurde immer schriller.

Was, bei den Winddämonen, wollte der alte Narr bloß von ihm? Skane knurrte. Der war ja schlimmer als ein Straßenköter, der Futter witterte.

„Deine Studien!“, wetterte der Alte gerade. „Du kannst deine Studien nicht einfach abbrechen, Jo! Nicht in diesem Stadium! Du weißt doch gar nicht richtig, was du tust!“

„Oh doch!“, konnte Skane sich nicht verkneifen zu sagen.

Der Alte zuckte zusammen. Ein merkwürdiger Ausdruck trat in sein Gesicht. „Du weißt es tatsächlich!“, staunte er. „Du sagst die Wahrheit!“

Jetzt war es an Skane, zusammenzuzucken. Woher wusste der Alte das? Was hatte der Greis bemerkt, was ihm entgangen war? Hatte der Alte einen Zauber benutzt, den er nicht kannte?

Der Alte humpelte näher und musterte ihn eingehend. „Ich könnte schwören …“, murmelte er. Sein dünner Hals zuckte vor. „Irgendetwas ist anders an dir.“ Seine Nasenflügel blähten sich, er schnupperte wie ein Jagdhund. „Und wieso riechst du plötzlich nach Banta-Früchten? Die isst man doch nur in der Wüste!“

Skane wartete nicht, bis der Alte den offensichtlichen Schluss zog. Mit einer fließenden Bewegung zog er mit der einen Hand seinen Arbeitsspiegel, mit der anderen hieb er seinen Stock dem Alten über den Schädel. Der ächzte und ging in die Knie. Skane kniete sich neben ihn und presste mit einem bösen Lächeln seinen Spiegel auf die eingefallene Wange des Alten. Der schaffte es gerade noch, ein leises Winseln auszustoßen. Dann zerfloss sein magerer Körper und verschmolz mit dem Glas des Spiegels.

Verdammt, das war knapp gewesen. Er musste vorsichtiger sein. Zumindest in den alten Zauberern waren die Erinnerungen an die Abtrünnigen ganz offensichtlich noch nicht völlig verblasst.

Skane hob den Spiegel auf. Der Alte musste wirklich dem Tod schon sehr nahe gewesen sein. Das Glas des Spiegels war durchzogen von grauen Schlieren. Und jetzt? Hier behalten konnte er ihn nicht. Man würde nur zu bald merken, dass ein Mitglied der Kristallkammer fehlte. Und wenn Meister Ro den Spiegel fand, würde er wissen, was geschehen war.

Skane schlug ein dickes Wolltuch um den Spiegel und ging hinaus, geradewegs in die tote Stadt außerhalb des Kristalls. Eine Weile suchte er in den leeren Gassen. Dann sah er ein Haus, das für seine Zwecke geeignet schien. Langgestreckt lag es in einer der kleineren Gassen. Wahrscheinlich hatte es früher einmal als Lagerraum für einen Kaufmann gedient. Skane stemmte die verzogene Holztür auf. Dahinter lag Helligkeit. Das Dach war zur Hälfte eingestürzt. Auf dem gestampften Lehmboden türmten sich Balken und Tonscherben. Perfekt. Skane schob mit dem Fuß die Scherben beiseite und legte den Spiegel auf den Boden. Lichtreflexe tanzten durch den dunklen Raum unter dem Dachrest. Er hockte sich nieder, hielt seine Hand über den Spiegel und konzentrierte sich. Die Luft um seine Hand schien sich zu kräuseln. Ein wabernder dunkler Schemen erschien, senkte sich auf den Spiegel hinab, verfärbte sein Glas zu tiefem Schwarz. Der Spiegel verzerrte seine Konturen, schien zu wachsen, fraß sich in den Boden. Die Schwärze wurde intensiver.

Endlich war es vollbracht. Skane erhob sich mit zittrigen Knien. Es war ein Risiko gewesen, diesen starken Zauber alleine zu versuchen, zumal er sich auch noch gleichzeitig vor einer Entdeckung durch die Kristallkammer abschirmen musste. Ein gut kalkuliertes Risiko. Eines, das sich gelohnt hatte. Vor ihm zog sich ein bodenloser, schwarzer Riss durch den Boden des Raumes. Ein Riss, der auf seine Beute lauerte. Unaufhörlich strömte die Energie der Stadt zur Kristallkammer, nichts konnte sich deren Sog entziehen. Die Energie zog durch die leeren Gassen, durch die toten Häuser, durch die Lehmziegelwände und die verwitterten Holzgefache. Und sie zog über den Riss, der geduldig wartete. Zufrieden sah Skane, wie ein dünner, aber beständiger Wasserfall an Energie in dem Riss verschwand. Es war ein rein passiver Residualzauber, stumm, ohne Signatur. Niemand in der Kristallkammer konnte ihn bemerken. Langsam, aber stetig entzog er der Stadt Energie und Leben. Jenseits der Wüste würde man sie zu nutzen wissen.

***

Am Abend vor der Tagundnachtgleiche suchte Sirit die Duka auf. „Ich gehe zurück nach Tolor.“

Die Duka musterte sie und wies dann auf die fellbespannten Hocker am Feuer. „Kein Grund, wichtige Dinge im Stehen zu besprechen. Setz dich, Tochter.“

Sirit setzte sich. Eine Weile schwieg die Duka und beide Frauen sahen in das Spiel der tanzenden Flammen. Es knisterte, als ein dicker Ast in der Glut zerfiel. Kleine Funken sprangen auf. Die Duka griff hinter sich, hantierte mit irgendetwas und präsentierte Sirit dann eine Tasse dampfendheißen Bergblumentee. Dankbar inhalierte Sirit das vertraute, beruhigende Aroma, während sie die Tasse mit beiden Händen an die Lippen führte.

„Ich vermute, es gibt einen Grund dafür, dass du jetzt plötzlich los willst“, sagte die Duka. „Ich muss gestehen, ich hatte schon gehofft, dass du hier bleiben würdest. Als mein Schwesterkind bist du ein wichtiger Teil unserer Sippe und ich bin sicher, du hättest hier eine Zukunft, die dir gefallen würde.“

Sirit sah die ältere Frau an. Die Züge, in denen sie jetzt, wo sie es wusste, ihre Mutter leicht wiederfinden konnte. Ja, hier hätte sie eine Zukunft, sicher, erfüllt und geliebt. Aber …

„Ich habe Verpflichtungen, vor denen ich geflohen bin“, sagte sie.

Die Duka nickte, als ob sie ihr etwas längst Bekanntes erzählte.

„Heute Morgen war ich im großen Handelshaus“, fuhr Sirit fort. „Ein Stoffhändler aus Karapak war gerade eingetroffen. Er hatte Neuigkeiten.“ Sie schluckte trocken, zwang sich dann, etwas von dem Tee zu trinken. Wie kam es, dass ihr selbst jetzt diese Nachricht noch so nahe ging? „Er berichtete, dass der neue König Tolioro Anspruch auf die Regentschaft über Tolor erhebt. Weil er meinen – unseren Sohn hat. Irgendwie hat er ihn wohl wiedergefunden.“ Leise fügte sie hinzu: „Ich hatte so gehofft, unser Sohn wäre für immer vor ihm sicher und würde niemals erfahren, wer seine Eltern sind.“

„Weil du denkst, er schämt sich, dass seine Mutter zur Hälfte aus dem Blut der Drachenberge ist?“

Die Frage der Duka hatte zu beiläufig geklungen. Sirit schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Er hat keinen Grund, sich dafür zu schämen. Aber er hat einen Vater, der ein Monster ist. Und wenn es diesem Vater nicht gelingen sollte, seinen Sohn zu seinem Ebenbild zu formen, wird der Junge irgendwann seinen Vater nicht nur fürchten, sondern auch zutiefst verachten. Und mich, fürchte ich, auch. Ich habe als seine Mutter versagt. Ich habe mich meinen Pflichten entzogen. Ich bin davongelaufen.“

„Wärst du geblieben, hättest du nicht lange genug gelebt, um dir Sorgen über seine Erziehung und seine Ansichten zu machen“, stellte die Duka trocken fest. „Und was hast du jetzt vor?“

„Wenn Tolioro durch unseren Sohn Anspruch auf Tolor erhebt, muss er nach Tolor kommen. Und dort trifft er auf meine Mutter, die Königin. Sie kennt ihn nicht gut genug. Im besten Fall geht sie ihm auf den Leim. Im schlechtesten fürchte ich um ihr Leben.“

Die Duka seufzte. „Da es um deine Mutter geht, haben deine Pflichten Vorrang vor allem anderen. Das wird jede unserer Schwestern so sehen. Ich gebe dir Recht. Du musst zurück nach Tolor.“ Sie stand auf, nahm Sirit behutsam die leere Tasse aus den zitternden Händen und umarmte sie. Sirit spürte, wie die schwieligen Hände der älteren Frau über ihr Haar glitten und sie behutsam streichelten, während sie heiße Tränen in den Rock der Duka schluchzte.

Die Duka sah der Karawane lange nach. Es wäre schön gewesen, wenn Sirit sich zum Bleiben entschlossen hätte. Sirit war eine tatkräftige, umsichtige Frau, die gut organisieren konnte. Andererseits …

Die Duka hatte die Runen geworfen. Die Aussage der Runen war eindeutig gewesen. Sirits Schicksal lag nicht in den Drachenbergen.

Warum, fragte sich die Duka, hatte sie dann trotzdem das sichere Gefühl, dass Sirit in den Drachenbergen etwas immens Wichtiges in Gang gesetzt hatte?

*

Weit entfernt im Herzen der Drachenberge fühlte das Wesen, das ein Kind hätte sein sollen, wie sich die vertraute Präsenz aus den Bergen entfernte. Es streckte seine Gedankenfühler aus, soweit es konnte. Aber es reichte nicht. Die Präsenz entfernte sich weiter. Das Band, das sie beide verband, zerriss mit einem hässlichen Brennen bis auf eine einzige, dünne, zerfranste Restfaser.

Das Wesen schrie laut auf.

Oben in der Felswand brandete der Schall gegen eine mächtige Schneewächte. Ein Riss bildete sich. Erst langsam, dann immer schneller begann der Schnee zu rutschen. Schließlich donnerte eine mächtige Lawine den Hang hinab. Die Lawine überrollte das Wesen, riss es mit und begrub es unter haushohem Schnee. Dann war wieder Stille in den Bergen.

Tödliche Stille.

***

Die Reise nach Tolor war fast zu einfach gewesen. Sirit hatte sich einer Handelskarawane angeschlossen, inkognito, einige handverlesene Rohsteine im Gepäck, und war als reisende Edelsteinhändlerin ungeschoren durch alle Kontrollen gekommen. Das einzig überraschende für sie war, wie schwer ihr der Abschied von der mittlerweile vertrauten Silhouette der Drachenberge und von den gastfreundlichen Häusern ihrer kirsitanischen Sippe fiel. Ihr letzter Gedanke aber, als sie noch einmal zurücksah, galt ihrem letzten Kind. Ob das kleine Ungeheuer überlebt hatte? Fast gegen ihren Willen hoffte Sirit es.

Jetzt ragten vor ihr die vertrauten Dächer Tolors aus der Hochebene. Linker Hand stand der Tempel der Brennenden Göttin. Wie immer zog sich ein dünner Faden gläubiger Pilger von der Stadt zum Tempel. Einem Impuls folgend verließ Sirit die Karawane und lenkte ihr Maultier zum Tempel.

Rot waren die Mauern des Tempels, geschnitten aus den Sandsteinen der fernen Wüstenberge. Rotorange leuchtete das Dach aus glasierten Ziegeln. Die heiligen Farben der Brennenden Göttin. Im Inneren erleuchteten mehrere Feuerbecken entlang der Wände das Rund des Tempels. Eine weitere, zentrale Feuerstelle flammte direkt vor dem Standbild der Göttin. Alt war es. Unzählige Jahrhunderte und unzählige Küsse der Gläubigen hatten das steinerne Bildnis glattgeschliffen und seine Details weitgehend verwischt. Lediglich der Kopf der Göttin war noch klar zu erkennen und die Hand an ihrem Herzen, die das berühmte Flammenjuwel trug. Der Stein, der ihre Hochzeit mit Tolioro besiegelt hatte und damit auch den Pakt mit Karapak. Sirit verspürte Zorn. Zorn auf ihren verstorbenen Vater, weil er sie so verschachert hatte. Zorn auf ihr Volk, dass diesen Stein im Austausch für seine Prinzessin genommen und gejubelt hatte. Verzweifelten Zorn. Wenn sie damals gewusst hätte …

„Du streitest mit der Göttin?“ Die Stimme der Priesterin klang ruhig, aber ein Unterton von Spott schimmerte hindurch.

Sirit ließ beschämt den Kopf sinken. „Bin ich so leicht durchschaubar?“

Die Priesterin lächelte. „Wenn man so lange im Tempel lebt wie ich, dann lernt man, die Körpersprache der Besucher zu deuten.“ Sie wurde wieder ernst. „Allerdings kommen die meisten Leute als Bittsteller in den Tempel und nicht, um die Göttin zur Rechenschaft zu ziehen.“

„Ich bin nicht so sicher, ob es die Götter überhaupt interessiert, was wir tun oder denken“, gestand Sirit. „So viele Dinge passieren, die nie hätten sein dürfen.“

Die Priesterin trat näher. „Tochter“, sagte sie sanft, „es mag manchmal so erscheinen, dass die Götter sich nicht kümmern. Aber sie kümmern sich, das weiß ich sicher. Sie denken nur in ganz anderen Zeiträumen als wir Menschen. Für sie zählt ein einzelnes Leben nicht mehr als für uns die Fliege an der Wand. Doch es ist überliefert, die Brennende Göttin hat Tolor erwählt, und sie wird Tolor niemals fallen lassen.“ Die Priesterin berührte Sirits Scheitel. „Ich gebe dir den Segen der brennenden Göttin, Tochter. Ich gebe dir ihren Segen und die Gewissheit, dass, was immer auch geschieht, dein Weg immer wieder ins Licht der Göttin führen wird. Du bist von ihr gezeichnet, du bist ihr Werkzeug.“

Sirit fühlte einen Schauder über ihren Rücken laufen. Aus diesem Segen hatte nicht die Stimme der Priesterin gesprochen, sondern etwas Fremdes, unendlich viel Mächtigeres. Sirit verneigte sich in Demut vor der Göttin.

Königin Mirsken tauchte die Feder erneut in die Tinte. Irgendwann musste diese leidige Arbeit ja getan werden, und tagsüber hielten sie andere Verpflichtungen in Trab. Ihre Gedanken schweiften einen Moment ab. Gab es nicht ohnehin für eine Königin genügend Arbeit? Musste da auch noch ihr karapakischer Schwiegersohn aus heiterem Himmel seinen Besuch ankündigen? Tolioro würde bereits in den kommenden Tagen mit einer hochrangigen Delegation in Tolor eintreffen. Mirsken runzelte die Stirn. Was das wohl Wichtiges war, das Tolioro nur vor Ort klären zu können glaubte?

Ihre Feder kratzte auf dem Papier. Diese bürokratische Arbeit wurde auch von Tag zu Tag schlimmer. Hatte Ihr Gatte früher ebenso viele Protokolle zu unterzeichnen gehabt? Sie musterte den Stapel vor sich widerwillig. Treffen mit den Pfalzgrafen, Treffen mit den Handelshäusern, Petitionen der Gildemeister, der Jahresbericht des königlichen Gestüts, Anfragen aus dem Bergtempel, ein Schriftwechsel über den Handelszoll der nördlichen Grenzstationen … Es nahm und nahm keine Ende, und jeden Tag kam neues dazu. Mirsken hatte langsam dem Eindruck, dass diese Papiere auf ihrem Schreibtisch Junge bekamen. Wenn wenigstens Sirit hier gewesen wäre, um ihr bei dieser Arbeit zu helfen. Das Mädchen hatte den schärfsten Verstand in der ganzen Familie. Sie seufzte. Ihre beiden jüngeren Töchter kamen mehr nach dem Vater. Gutmütig, mittelmäßig intelligent, und wenig ehrgeizig. Natürlich waren sie zudem noch viel zu jung, um ihr eine echte Hilfe zu sein, auch wenn sie es immerhin versuchten. Aber was konnte man von elf- und neunjährigen Mädchen schon erwarten ...

Wenn nur Sirit nicht nach Karapak gegangen wären …

Wie lange hatte sie schon nichts mehr von ihrer ältesten Tochter gehört? Vor fast zwei Wintern hatte sie ihr letztes Lebenszeichen erhalten. Ihr Schwiegersohn Tolioro behauptete, es ginge Sirit gut, und sie wäre glücklich in seinem Harem. Die Gerüchte sagten etwas anderes. Die Gerüchte waren sich nur nicht einig darüber, ob Sirit tot war oder ob sie verstoßen wurde. Womöglich war ihre Tochter tot. Womöglich waren die beiden jüngsten die einzigen Kinder, die sie noch hatte. Und damit die letzte Hoffnung Tolors. Ob einer der Markgrafen einwilligen würde, einen seiner Söhne mit einer so jungen Braut zu verheiraten? Wenn kein anderer männlicher Erbe aus Dacas Linie gezeugt wurde, dann bekam Karapak über Sirits Sohn Tolor wie eine dicke fette Frucht, die einem unter dem Baum direkt in den Schoß fällt. Karapak … Unter König Kanata hätte sie vielleicht damit leben können. Ihr Schwiegersohn, das war etwas völlig anderes. Der Mann bereitete ihr Alpträume.

Mirsken tauchte abwesend die Feder ein zweites Mal in das Glas.

Es klopfte an der Tür. Ein ungewöhnlich kräftiges Klopfen für diese Zeit. Normalerweise brachten ihre Diener so spät abends nur ein äußerst vorsichtiges, dünnes Klopfen zustande, selbst wenn es fürchterlich dringende Botschaften waren. Welche Katastrophe stand ihr diesmal ins Haus?

„Herein!“

Die schwere Bronzetür öffnete sich. Mirsken brauchte einen Moment um zu erkennen, wer dort stand. Und einen weiteren, um ihren eigenen Augen zu glauben. Die Feder fiel vergessen zu Boden „Sirit!“ Mirsken stand schwankend auf. Im nächsten Moment fühlte sie die Arme ihrer Tochter, die sie an sich presste, als wollte sie sie niemals wieder loslassen.

Die Türe wurde lautlos von außen geschlossen.

„Sirit, du lebst!“ Die Stimme ihrer Mutter war heiser. Kein Wunder. Sirit wusste selbst nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Ihre Mutter packte sie an den Schultern, schob sie ein Stück zurück und musterte sie von oben bis unten. „Dünn bist du geworden, Mädchen. Und ein paar Narben hast du bekommen.“ Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Aber sie stehen dir. Sie lassen dich reifer wirken, erwachsener. Jetzt wird dir jeder die Königin abnehmen.“

„Jeder, außer meinem Gemahl.“

„Darüber müssen wir reden, fürchte ich.“ Mirsken führe ihre Tochter zu einer gemütlichen gepolsterten Wandnische. „Aber jetzt setz dich erst einmal. Und dann kannst du mir berichten, was du in den letzten Wintern erlebt hast und wo du gesteckt hast. Im Harem deines Gemahls warst du ja offensichtlich nicht. Wärst du dort geblieben, hätte dein Leben dich wohl nicht so gezeichnet.“

„Falsch, Mutter“, sagte Sirit leise. „Nicht mein Leben hat mich so gezeichnet, sondern mein Gemahl. Jede einzelne meiner sichtbaren Narben verdanke ich ihm. Und nicht nur die sichtbaren.“

Königin Mirsken sah ihre Tochter an, mit einem Blick, den Sirit nicht deuten konnte. Dann strich sie ihr über die Wange. „Kleines …“, sagte sie nur. Zum zweiten Mal in drei Monden konnte Sirit sich nicht beherrschen und weinte sich in einem mütterlichen Schoß aus.

***

Der Schamane stocherte in der Glut. Die Berichte der Späher klangen nicht gut. Überhaupt nicht. Da unten im Süden braute sich etwas Gefährliches zusammen. Er erschauderte.

„Schlechte Omen?“, fragte Ioro, nur halb interessiert.

„Wohl eher schlechte Tatsachen“, murmelte der Schamane.

Ioro hob den Kopf und betrachtete ihn. „Du machst dir Sorgen!“, stellte er überrascht fest.

„Ich fürchte, ich habe allen Grund dazu“, sagte der Schamane finster. „Wir müssen uns nach Norden zurückziehen. Die tote Zone breitet sich aus.“

„Die tote Zone?“

„Ein Bereich, in dem ein Seelenzauber wütet. Der Standort der zweiten Kristallkammer“, gab der Schamane zurück.

„Eine zweite Kristallkammer?“, fragte Ioro überrascht.

„Du weißt wohl nicht sehr viel über eure eigene Geschichte, mein karapakischer Schüler“, gab der Schamane zurück. „Vor den letzten Zauberer-Kriegen hat eine Unterfraktion eurer Zauberer eine zweite Kristallkammer in den Drachenbergen gegründet. Die wurde natürlich beim Aufstand zerstört, aber die Überlebenden der Verlierer gründeten eine neue zweite Kristallkammer, am Ende der Wüste.“

Ioro runzelte die Stirn. „Ich dachte, von der Gegenseite hat keiner überlebt?“

„Das wollten sie euch glauben machen. Aber sie haben sehr wohl überlebt.“ Der Schamane stocherte erneut in der Glut. Ein paar Funken stiegen knisternd auf. „Sie haben sich verkrochen, so, wie sich der Skorpion bei Tage unter den Steinen versteckt. Und dann haben sie gewartet. Darauf, dass sie sich rächen können. Darauf, dass sie wieder stark genug werden.“ Der Stock zerbrach in seiner Hand. „Sie machen das Gleiche wie eure Zauberer in Karapak. Sie sammeln Lebenskraft. Ich weiß nicht genau, wie die im Süden das machen. Aber sie haben etwas, was Seelen frisst, auch ohne sichtbare Spiegel und Kristalle. Etwas, das die tote Zone geschaffen hat. Und weil hier ohnehin sehr viel weniger lebt als in Karapak, fällt es uns auf. Seit dem Ende der Spiegelkriege ist es da. Eine tote Zone. Steine, Sand, und sonst nichts. Nichts lebt mehr in dieser Zone, kein Mensch, kein Tier, keine Pflanze, selbst die Vögel, die darüber hinwegfliegen, fallen tot vom Himmel.“

Ioro zuckte zusammen. Dann konnte er nicht einmal den Falken ausschicken, um diesen Ort zu inspizieren.

„Über Jahrhunderte ist die tote Zone gewachsen, langsam, kaum eine Handbreit pro Regenzeit“, sagte der Schamane. „Bislang haben wir sie meiden können. Aber jetzt … Ich kenne den Auslöser nicht. Aber seit zwei Monden wächst die tote Zone rapide. Zuerst eine Pferdelänge am Tag, jetzt bereits zehn Pferdelängen. Uns bleibt nicht viel Zeit. Die Herden und die Zelte müssen in Sicherheit gebracht werden. Wir müssen nach Norden ausweichen, morgen schon.“

„Nach Norden? Das ist blanker Irrsinn!“ Ioro ballte die Fäuste. „Tolioro wartet doch nur darauf, dass wir in Reichweite seiner Schwerter kommen!“

„Trotzdem.“ Der Schamane maß ihn mit finsterem Blick. „Wenn wir bleiben, wird die tote Zone uns verschlingen.“ Er beugte sich vor. „Was ist schlimmer, mein hitziger junger Schüler: Ein verrückter König, der uns töten will, oder ein tollwütiger Zauber, der unsere Seelen frisst?“

Ioro schwieg. Der Falke auf seiner Schulter krallte sich fester.

*

Drei Tage später zog die Weißspuren-Sippe in einer langen Karawane nach Nordosten, direkt in das Gebiet der Pferdeschädel-Sippe. Ioro hatte es mit Ach und Krach geschafft, seine Sippe davon zu überzeugen, dass sie alleine gegen die Armee Karapaks keine Chance hatten. „Gemeinsam sind wir stärker“, hatte er gesagt. „Danach handelt zumindest Karapak.“ Und die Krieger hatten sich an seine Siege als Feldherr erinnert und ihre Mienen waren grimmig gewesen. Dann hatte der Schamane genickt und die Sache war beschlossen.

Ioro war sich nicht sicher, ob das jetzt gut oder schlecht war.

Jo-im-Falken brütete dunkle Gedanken, während er über dem langsam dahinkriechenden Karawanenzug der Wüstenkrieger kreiste. Skane, der Zauberer, der ihn hereingelegt hatte, gehörte zur zweiten Kristallkammer, soviel war klar. Und die Zauberer im Süden nutzen die Lebensenergie anderer Lebewesen auf die gleiche Art, wie die karapakische Kristallkammer die Hauptstadt anzapfte. Nur – welche Wege gab es dazu, wenn man weder Spiegel noch Kristalle benutzte? Denn beides hätten seine Falkenaugen gesehen, auch wenn er es nicht wagen durfte, die Tote Zone selbst zu überfliegen.

Unter ihm zogen die Weißspuren-Sippe durch ein Dünental. Mehrere hundert Pferdelängen maßen diese Dünen in der Länge. Jo musste zugeben, dass sie imposant aussahen. Selbst aus der Luft. Irgendetwas störte die Herde auf. Vermutlich wieder eine der Ziegen. Die dummen Viecher erschraken manchmal vor ihrem eigenen Schatten. Die Tiere liefen auseinander, einige erklommen fast den Gipfel der Düne. Die kleineren Kinder liefen ihnen hinterher, riefen und schwangen Gerten, um sie zurückzutreiben. Es sah fast dekorativ aus, wie die Fährten in langen geschwungenen Linien die Düne hinaufführten und wieder herab, sich mit andren Fährten kreuzten, sodass sich ein netzartiges Muster ergab …

Das war es!

Für einen Moment vergaß der Falke zu fliegen und stürzte. Wild flatternd fing Jo den Vogelkörper ab. Ein triumphierender Schrei entrang sich ihm. Netze! Hatte nicht die seltsame blasshäutige Zauberin auf dem Schiff ihn damals fast eingefangen mit einem Zaubernetz? Ganz offensichtlich war die Fähigkeit, Energie in größeren Mengen zu sammeln, nicht an Spiegel und Kristall gebunden. Offenbar konnte man die verschiedensten Materialien dazu benutzen. Möglicherweise war es ja nichts weiter als ein Zufall, dass die karapakischen Zauberer ihre ersten derartigen Versuche mit Spiegeln gemacht hatten. Genauso gut hätten sie vielleicht Trinkbecher dazu gebrauchen können. Oder Fischreusen. Denn was hatten Spiegel, Kristalle und Netze gemeinsam? Nichts – außer dass sie einen mehr oder weniger realen Raum umschlossen, in den man hineinsehen konnte. War das etwa alles? War das das ganze Geheimnis?

An diesem Abend blieb der Falke nicht auf dem Zeltpfosten sitzen, sondern flog hinein.

Der Schamane und Ioro suchten umgehend die Traumwelt auf, wo Jo sie schon aufgeregt erwartete.

Ohne Begrüßung sprudelte er sofort los. „Worin lässt sich Energie sammeln? Wie kann man sie einfangen? Ich meine, diese Zauberer da unten im Süden, sie müssen ja ein Medium haben, in dem sie die Energie sammeln können. Und sie haben Spiegel, sehr viele Spiegel, ich habe sie ja selbst gesehen, aber alle diese Spiegel hängen in der großen Bibliothek an den Wänden und verstauben, und niemand benutzt sie. Was benutzen diese Zauberer, wenn sie keine Spiegel benutzen? Was …?“

„Halt, halt, junger Freund!“ Der Schamane hob die Hand. „Wie wäre es, wenn du uns erst einmal erzählst, was dich derart außer Fassung gebracht hat?“ Er ließ sich mit ausgesuchter Umständlichkeit in den Sand sinken, wo er es sich bequem machte. Ioro folgte seinem Beispiel, schweigsam, verschlossen.

Mit Schrecken erkannte Jo, dass er die Gedanken seines Freundes nicht mehr nach Belieben hören konnte. In den wenigen Tagen als Schüler des Schamanen hatte Ioro gelernt, sich perfekt abzuschirmen. Wie schnell würde der Schamane Ioro verändern? Konnten sie dennoch Freunde bleiben?

Der Gedanke verschwand so schnell wieder aus seinem Kopf, wie er gekommen war. Jo setzte sich ebenfalls und begann zu berichten. Der Ausflug ans Meer, den er mit seinem Freund Tevi in Falkengestalt gemacht hatte. Das Schiff der Seenomaden, das er besucht hatte. Die fremde Zauberin, die seinen Falkenkörper und damit seine Menschenseele beinahe mit ihrem Netz eingefangen hatte.

„Interessant.“ Dem Schamanen war nicht anzusehen, was er dachte.

„Ich habe keinen Spiegel bei ihnen gesehen“, sagte Jo. „Nicht einmal irgendwelche Gegenstände mit glänzenden Oberflächen.“

Der Schamane schürzte die Lippen. „Sie war auf einem Schiff.“

„Ja, natürlich“, gab Jo irritiert zurück.

„Und das Schiff lag im Wasser.“

„Und?“

„Wasser wirkt als Spiegel.“

„Ja, aber…“ Jo war ratlos. „Wir haben bei Meister Go Schwarzwasserschalen benutzt für unsere ersten Versuche. Man kann damit arbeiten, aber nur sehr grob, und die Energie wird nicht gespeichert.“

„Man sagt, dass Wasser zu Glas wird, wenn es sehr kalt ist“, sagte der Schamane. „Ich habe das noch nicht ausprobiert, aber ich kannte mal jemanden, der mir versichert hat, dass es so ist. Was, wenn die Seenomaden einen Weg gefunden haben, gläsernes Wasser herzustellen und zu nutzen? Jedes Glas ist auf einer Metall-Oberfläche als Spiegel einsetzbar.“

„Aber sie hat es mit einem Netz versucht!“, begehrte Jo auf. „Nur mit einem Netz! Ganz sicher! Nicht ein einziger Faden in diesem Netz war aus Wasser. Ich habe es genau gesehen, schließlich war ich auch damals ein Falke!“

„Dann war sie vielleicht selbst die Quelle der Magie“, brach Ioro sein Schweigen. Vielleicht war sie so etwas wie eine Schamanin. Schamanen arbeiten immer ohne Spiegel.“

„Oh.“ Jo sackte zusammen. Die Lösung des Rätsels war wieder so weit entfernt wie zuvor. „Aber die in der Wüste müssen etwas andres benutzen als Spiegel.“

„Vielleicht haben sie ja so viele Spiegel, dass sie die, die du gesehen hast, einfach nicht benötigen. Aber ist das überhaupt relevant?“, fragte Ioro. „Für uns ist doch nur wichtig, dass sie da sind, dass ihr Zauber da ist, und dass er uns tötet.“

Der Schamane und Jo sahen ihn an, dann sahen sie sich gegenseitig an.

Alle drei schwiegen.

In dieser Nacht blieb der Falke im Zelt des Schamanen.

Von da an teilten Jo und Ioro sich die Unterrichtsstunden des Schamanen. Sie teilten sich das Wissen, das er vermittelte, und sein Gekeife, wenn sie mal wieder seinen Ansprüchen nicht genügten.

Merkwürdig war das mit dem Schamanen, fand Jo. Unterrichten schien für ihn etwas Unnötiges zu sein. Im Gegensatz zu den karapakischen Zauberern rückte er nie freiwillig mit Informationen heraus. Sie mussten ihn immer fragen. Gut, sie bekamen ihre Antwort, aber trotzdem. Jo befand zudem, die Antworten seien unzureichend. Irgendwie unvollständig. Der Alte verbarg etwas.

Und ein Thema gab es, darüber wollte der Schamane überhaupt nicht mehr reden. Das war die südliche Kristallkammer. „Zu gefährlich“, war sein Kommentar. „Wenn wir uns zu sehr für die interessieren, könnten sie auf uns aufmerksam werden. Und das will ich auf gar einen Fall. Dann sind wir alle Windgeister, schneller, als wir denken können. Finger weg von den Zauberern. Finger und“, er wandte sich an den Falken, „… Flügel!“

Wüstenkrieger

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