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Das zweite Jahr der Duka

„Marle!“

Die junge Frau fuhr mit fliegenden Röcken herum. Ein Leuchten glitt über ihr Gesicht „Grau! Du bist wieder zurück!“ Sie umarmte den Jungen, der mit ein paar langen Schritten bei ihr war. „Du bist ordentlich gewachsen im letzten Winter! Du siehst mindestens drei Winter älter aus!“

„Du bist kaum gewachsen“, gab der Junge zurück. Er musterte sie von oben bis unten. „Aber du siehst auch irgendwie anders aus.“

Marle lachte auf. „Natürlich sehe ich anders aus! Ich trage jetzt lange Röcke! Ich bin jetzt eine Frau!“

„Ist man eine Frau, wenn man lange Röcke trägt?“

„Grau! Unter welchem Stein lebst du eigentlich? Natürlich nicht! Ein Mädchen wird eine Frau, sobald sie ihre erste Mondblutung hat. Und als Zeichen, dass ich eine Frau bin, darf ich die langen Röcke tragen.“

„Was ist eine Mondblutung?“

Marle schüttelte irritiert den Kopf. „Das sollte dir deine Mutter erklärt haben.“

„Meine Mutter ist sehr weit weg. Ich habe sie seit meinem ersten Jahr nicht mehr gesehen.“

Graus Stimme klang sachlich, aber Marle fühlte trotzdem, wie sich ihr Herz zusammenzog. Er war ohne Mutter aufgewachsen! Kein Wunder, dass er sich manchmal merkwürdig benahm. Vielleicht war es das, was die Duka so an dem Jungen irritierte. „Komm“, sagte sie. Ich habe Beerenkuchen gebacken. Du magst doch bestimmt ein Stück.“

Der Mann und der Junge waren wieder da. Die Duka konnte nicht sagen, warum, aber irgendwie hatte sie damit gerechnet. Der Junge war deutlich gewachsen. Unnatürlich schnell. Entweder er war von vornherein älter gewesen, als er ausgesehen hatte, oder … Die Duka war sich nicht sicher, was dieses „oder“ war, aber sie spürte, dass es sie beunruhigte.

Dieses Mal hatte der Junge sich gleich an seinem ersten Tag in Ganen an Marle gehängt. Im letzten Jahr war nichts passiert. Überhaupt nichts. Der Mann, der, wie er sagte, sein Vater war, hatte noch nicht einmal versucht, die Sippenfrauen beim Handel zu betrügen, wie die anderen Händler. Und trotzdem konnte die Duka das Gefühl einer Bedrohung nicht abschütteln.

Sie beschloss, Marle ordentlich zu beschäftigen. Es wurde Zeit, dass das Mädchen lernte, wie vielfältig die Pflichten einer Duka waren. Natürlich würde das auch bedeuten, dass Marle kaum Zeit finden würde für den fremden Jungen. Ausgesprochen nicht bedauerlich.

Marle hatte die Nase gestrichen voll. Der Sommer war ohnehin nur kurz, und die warmen Sonnentage selten. Wieso bestand ihre Großmutter darauf, dass sie ausgerechnet jetzt Handelsverträge studierte und Listen schrieb? Konnte das nicht bis zum Winter warten?

Aber alles Ärgern half nichts. Niemand würde ihr diese Arbeit abnehmen. Marle biss die Zähne zusammen. Sie würde in nicht allzu ferner Zeit die Duka sein. Das bedeutete, ihre Pflichten waren wichtiger als ihre Wünsche. So oft hatte die Duka ihr das schon gesagt. Sie würde ihrer Großmutter beweisen, dass sie ihre Pflichten ernst nahm. Marle schrieb die Liste weiter.

Eine Kerze später war die Liste endlich fertig. Und die Sonne schien noch immer. Die Duka war nicht zurückgekommen, um ihr weitere Aufgaben zu geben, und Marle beschloss, sich lieber nicht bei ihr zu melden. Sie war fertig, und damit gestattete sie sich selbst, frei zu machen. Es würde noch gut und gerne drei Kerzen lang hell bleiben. Nicht genug, um in die Felsen zu steigen und den Adlern zuzusehen. Aber genug, um zum Wasserfall zu reiten und ein wenig zu schwimmen.

Das Wasser war kalt, wie immer. Sie genoss es, von dem sauberen, klaren Nass umspült zu werden. Noch mehr genoss sie es, anschließend auf dem flachen Uferfelsen zu liegen und sich von der Abendsonne wieder aufwärmen zu lassen.

Ein Schatten fiel über sie. „Geh fort, du nimmst mir die Sonne“, murmelte Marle. Im nächsten Moment fuhr sie erschrocken hoch. Sie hatte niemanden kommen hören!

Vor ihr stand der Junge und sah sie mit seinen eisfarbenen Augen an. Unwillkürlich fuhr Marles Hand zu ihrer Brust. Dann ließ sie sie wieder sinken. Das war lächerlich. Die Männer ihres Volkes wussten alle, wie eine nackte Frau aussah. Und dieser Junge hatte sie ohnehin schon lange genug betrachten können. „Was ist?“, fragte sie etwas ungnädig. „was willst du?“

Der Junge wich einen Schritt zurück, als ob er sich fürchtete. Aus seinem halboffenen Mund drang ein leichtes Fauchen.

„Schon gut“, murmelte Marle. „Du hast mich nur etwas irritiert. Schleichst du dich immer so leise an?“

„Eine Beute bekommt man nicht, wenn man laut ist“, erklärte der Junge.

„Das ist richtig, aber ich bin keine Beute.“

Der Junge legte den Kopf schief. „Ich weiß nicht.“

Einen Moment hatte Marle den Eindruck von Gefahr. Dann verging dieser Moment. Sie bückte sich, griff nach ihrer Kleidung und begann, sich wieder anzuziehen.

„Lass das!“

Eine Hand hatte ihren Arm gefasst. Marle versuchte, die Hand abzuschütteln. Aber so klein der Junge auch war, er hatte anscheinend Bärenkräfte. „Aua! Du tust mir weh, was soll das?“

„Ich mag dich lieber ansehen, wenn du keine Kleidung trägst.“

Marle versuchte erfolglos, sich aus dem festen Griff zu winden. „Ich friere. Ich will mich anziehen. Lass mich!“

Der Junge berührte jetzt mit der anderen Hand ihren Bauch. Dann betastete er ihre Brust. Und dann fuhr seine Hand nach unten, zwischen ihre Schenkel. Marle erstarrte. Dann begann sie, sich aus Leibeskräften zu wehren. Der Griff des Jungen wurde fester, und Marle spürte, wie etwas in ihrem Arm splitterte. Wie Feuerlohe schoss der Schmerz in ihren Körper. Mit einem schrillen Aufschrei brach sie zusammen.

„Lass sie los!“

Wie durch einen fernen Nebel hörte Marle die fremde Stimme. Die Stimme eines Mannes. Der Klammergriff um ihren gebrochenen Arm löste sich. Sie sackte zu Boden. Der Aufprall schmerzte höllisch. Pfeifend entwich die Luft zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen.

„Sie ist einfach zerbrochen!“

Die Stimme des Jungen klang eher erstaunt als bestürzt.

„Ich habe dir doch gesagt, rühr keinen Menschen an! Du bist noch zu jung, um deine Kraft richtig einzuschätzen.“

Die Stimme des Mannes klang jetzt nahe. Es hörte sich nicht so an, als ob er den Jungen schelten würde. Seine Stimmt klang so sachlich, als würde er einen Zaunpfosten diskutieren.

Erneut griff eine Hand nach ihr, dieses Mal sanfter. Marle wimmerte trotzdem.

„Ruhig!“ Eine zweite Hand legte sich auf ihre Stirn. Marle spürte, wie der Schmerz sich zurückzog. Dafür verspürte sie jetzt Angst. Was hatten diese Fremden mit ihr vor?

„Du brauchst keine Angst vor uns zu haben.“ Die Stimme des Mannes klang jetzt so wie die Duka, wenn sie auf ein widerspenstiges Fohlen einredete. „Keiner von uns wird dir etwas tun. Wir sind verwandt, kleine Menschenfrau, auch wenn du das nicht weißt. Dein Leben ist nicht in Gefahr. Keiner von uns würde eine Verwandte töten wollen. Keine jedenfalls, die uns nichts getan hat. Abgesehen davon“ – jetzt klang seine Stimme leicht spöttisch – „wird man dich noch brauchen. Später.“

Jetzt packte er ihren Arm mit beiden Händen, zog daran. Es hätte schmerzen müssen, aber alles, was Marle fühlte, war ein dumpfes Brennen. Dann verschwand auch das.

„Wie neu“, murmelte der Mann zufrieden. Dann berührte seine Hand wieder ihre Stirn. „Am besten, du vergisst, was heute hier geschehen ist.“

Marle wollte nicht vergessen. Sie wollte aufbegehren, fragen … was wollte sie fragen? … wen wollte sie fragen?

Verwirrt schlug sie die Augen auf. Wieso stand die Sonne schon so tief?

Verwundert bemerkte sie, dass sie bereits ihr Unterkleid trug. Merkwürdig. Marle konnte sich gar nicht daran erinnern, dass sie sich schon soweit angezogen hatte. Irritiert sah sie sich um. Die Felsen rund um den Wasserfall wirkten friedlich wie immer. Trotzdem hatte der Ort plötzlich etwas an sich, das ihren Nacken kribbeln ließ.

So schnell sie konnte, zog Marle sich komplett an und ritt wieder nach Hause.

Der Wasserfall war ihr verleidet. Für den Rest des kurzen Sommers besuchte sie ihn nicht mehr.

Offensichtlich hatte ihre Taktik Erfolg gehabt. Die Duka vermerkte zufrieden, dass Marle sich in diesem Sommer nicht mehr mit dem Sohn des Händlers abgab. Wie ihre eigene Mutter immer gesagt hatte: Mit dem Alter kommt die Vernunft.

Trotzdem blieb immer noch das Problem, das der Mann für sie selbst darstellte. Sie hatte so rein gar nichts über ihn in Erfahrung bringen können. Es nagte an der Duka. Irgendetwas stimmte nicht mit den beiden. Sie kriegte bloß nicht heraus, was.

Hornstachler

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