Читать книгу Hornstachler - Chris Svartbeck - Страница 11

Das letzte Jahr der Duka

Оглавление

Auch im nächsten Jahr kam der Händler mit seinem Sohn wieder nach Ganen. Die Duka sah zu, dass Marle sehr beschäftigt war. Was ihr leichtfiel, denn dieser Sommer war außergewöhnlich warm und fruchtbar. Die Duka konnte sich nur an einen einzigen Sommer in ihrem Leben erinnern, der ähnlich gewesen war. Diesem Sommer damals war ein besonders harter Winter gefolgt. Die Duka hielt die jungen Frauen an, so viele Vorräte wie möglich einzulagern.

Die Herden waren so fruchtbar wie die Gärten. Im Spätsommer mussten die Hirten mit den Herden auf die höher gelegenen Weiden ziehen, da die unteren Weiden schon abgegrast waren. Sie begannen von verschwundenen Tieren zu berichten. Es gab kaum Spuren von Raubtieren. Sie fanden auch keine Kadaver abgestürzter Tiere. Die Ziegen verschwanden einfach. Hier eine, dort eine. Es fiel wenig auf, weil die Herden ja so viel Nachwuchs hatten.

Die Duka glaubte ein Muster zu erkennen, auch wenn sie es nicht benennen konnte. Sie hielt die Hirten an, besonders wachsam zu sein.

Der kurze Bergherbst brach an. Die Hirten bereiteten die Herden für den Abtrieb vor. Noch hatten sie ein paar Tage Zeit, die Hornziegen fürchteten den Schnee nicht.

*

Kreisende Totenvögel in der Ferne. Wo die Totenvögel kreisten, musste Aas liegen. Der Riss eines Berglöwen? Der Hirte befahl seinem jungen Assistenten, die Herde zusammenzutreiben und zurück zum Pferch zu bringen. Dann nahm er seinen Speer und ging in Richtung der Totenvögel.

Der Ort, den die Totenvögel angezeigt hatten, lag verhältnismäßig nahe. In der Luftlinie. Der Hirte musste drei Täler hinab und drei Berghänge wieder hinaufsteigen, bevor er den Grat erreichte, hinter dem das Aas liegen musste. Irritiert blieb er stehen. Das sah weder nach einem Schaf noch nach einer Ziege oder einem Pony aus. War das doch kein Raubtierriss? Aber ein verunglückter Mensch war es auch nicht, dann hätte dort unten auch Kleidung liegen müssen. Der Hirte begann, den Hang hinabzusteigen. Je tiefer er kam, desto merkwürdiger wirkte die Stelle. Die Fleisch- und Knochenreste, neben denen die Totenvögel in kleinen Gruppen saßen, waren zu weit voneinander entfernt. Und auf einem größeren, relativ flachen Felsbrocken mitten dazwischen waren kleinere Felsstücke geschichtet.

Der Hirte zögerte, gab sich dann aber einen Ruck. Es brachte nichts, wenn er hier halbe Arbeit leistete. Er ging zu dem Felsbrocken. Als er ihn halb umrundet hatte, erkannte er, dass die darauf aufgeschichteten Steine eine Höhlung bildeten. Und in dieser Höhlung lag etwas.

Der Hirte brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er sah. Entsetzt taumelte er einen Schritt zurück. Unter seinem Fuß knackte es. Er sah unwillkürlich herab. Die Finger einer Hand sahen unter der Sohle seines Stiefels hervor.

Es waren schmale, zierliche Finger.

Der Hirte drehte sich um und lief, als ob ihm tausend Windgeister auf den Fersen waren. Als er nicht mehr laufen konnte, hielte er inne, stützte sich auf einen Felsen und erbrach sich.

*

„Du bist dir sicher?“, fragte die Duka.

Der Mann nickte verkniffen.

„Ein Opferritual“, sagte die Duka leise. „So wie früher …“

„Aber doch nicht hier bei uns!“, begehrte der Mann auf.

„Nicht hier bei uns“, bestätigte die Duka. „Aber mir scheint, wir haben nicht genügend aufgepasst. Offensichtlich sind die aus den Nordbergen in den letzten Jahrzehnten weiter nach Süden gewandert, als wir gedacht haben. Sie verstehen sich darauf, die Eisleute. Sie sind wie Schatten. Will man sie aufhalten, fließen sie einem zwischen den Fingern weg. Meist merkt man noch nicht einmal, dass sie überhaupt da sind.“

„Aber warum dann das Ritual?“, fragte der Mann. „Sie müssen doch wissen, dass sie sich damit verraten.“

„Dieses Ritual ist nur zu einem gut“, sagte die Duka. „Und wir Alten wissen, was das ist. Ruf die Versammlung ein. Sofort. Sag deinen Schwestern und Brüdern, die Frostgeister sind erneut in den Drachenzahnbergen erwacht.“

Eine Kerze später waren alle Sippenmütter von Ganen versammelt, und mit ihnen die meisten Frauen der Sippen.

„Falls ihr es noch nicht gehört habt“, sagte die Duka ohne große Einleitung, „die Frostgeister sind zurück.“

Unruhiges Murmeln lief durch die Reihen.

„Seit dem Bann hat niemand mehr Frostgeister in den Drachenbergen gesehen“, sagte Kea. „Die Zauberer haben sie ausgerottet. Es gibt sie nicht mehr. Das wissen wir doch!“

„Das haben wir nur immer gedacht. Oder vielmehr, gehofft“, sagte die Duka. „Aber heute wurden Spuren der Eisleute gesichtet.“

„Unmöglich! Die kommen nie so weit in den Süden. Die fürchten doch, dass ihre Ahnengeister sauer sind, wenn sie das Eis verlassen.“

„Ja, sie fürchten die Ahnengeister“, stimmte die Duka zu. „Aber sie fürchten die Frostgeister mehr. Wenn die Eisleute in die niederen Berge kommen, tun sie das nur aus einem einzigen Grund: Weil sie vor den Frostgeistern weichen.“

Kea bewegte sich unbehaglich. „Hat jemand von uns sie gesehen oder gesprochen?“

„Schlimmer“, sagte die Duka. „Wir haben eine ihrer Opferstätten gefunden. Gerade drei Bergrücken entfernt von den Herbstweiden. Und das Opfer war frisch.“

Erneut lief Murmeln durch die Reihen. Dieses Mal klang ein ängstlicher Unterton darin.

„Was wurde geopfert?“ Das war Wihan, eine der jungen Frauen.

Kea öffnete bereits den Mund, um sie zu tadeln, aber die Duka hob die Hand. „Wihan hat Recht, es ist wichtig, was geopfert wurde. Oder vielmehr, wer. Die Eisleute haben eine junge Frau geopfert.“

Kollektives Aufstöhnen.

Eine junge Frau war das Wertvollste, was die Stämme in den Bergen hatte. Wenn die Eisleute es für nötig hielten, ein so großes Opfer zu bringen, dann mussten sie sich wirklich fürchten.

„Die anderen Siedlungen müssen gewarnt werden“, sagte die Duka. „Morgen werden wir Boten an alle losschicken. Die Boten sollen zudem die Sippenältesten der anderen Siedlungen hierher rufen. Wir müssen noch vor dem Schnee eine Versammlung abhalten und besprechen, was wir tun können. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wenn der Schnee uns überrascht, bevor wir unsere Vorbereitungen beenden konnten, wird es in diesem Winter viele Tote geben.“

„Und wenn wir uns irren? Wenn das Opfer nicht den Frostgeistern gilt?“ Tobe aus der Südwand-Sippe beugte sich vor. „Dann vergeuden wir umsonst unsere Ressourcen. Die Frostgeister sind vielleicht nur Geschichten. Niemand hier hat je welche gesehen.“

„Nicht die Frostgeister selbst“, stimmte eine Frau aus der Blaugras-Sippe zu. Furcht lag in ihrer Stimme. „Aber vielleicht habe ich bereits ihre Spuren gesehen.“

Damit hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit aller.

„Vor acht Tagen hat es bei uns den ersten Schnee gegeben. Ein bisschen früh in diesem Jahr, aber ihr wisst ja, zu uns kommt der Schnee immer ein wenig früher als hier in Ganen. Ich bin losgeritten, um unsere Ziegen in den Stall zu bringen. Dabei fand ich die Überreste eines karapakischen Händlers in der Südschlucht. Zuerst dachte ich, er wäre mit seinem Wagen abgestürzt. Ich stieg hinab, um zu sehen, ob noch etwas Brauchbares von seinen Waren übrig war.“

Sie schluckte nervös.

„Ich sah, was von seinen Ochsen übrig war. Und von ihm. Danach dachte ich nicht mehr an seine Waren. Die Tiere und der Mann sahen aus, als ob etwas sie in kleine Stücke gerissen hatte. Viele Teile fehlten ganz.“

Sie schluckte erneut.

„Dann sah ich seinen Kopf. Der Hinterkopf hatte ein großes Loch. Ich konnte sehen, dass das Gehirn darin fehlte. Sein Gesicht war fast unversehrt. Fast. Die Augen waren fort. Etwas hatte sie aus den Höhlen gerissen, ohne auf dem Rest seines Gesichtes auch nur einen Kratzer zu hinterlassen. Seine Züge waren verzerrt, so, als ob er etwas gesehen hatte, das ihn in allergrößten Schrecken versetzt hatte. Ich … ich bin fortgelaufen so schnell ich konnte.“

Die Frau, die neben ihr saß, nahm sie in ihre Arme und streichelte sie beruhigend.

Die Duka seufzte. „Glaubt immer noch wer, dass die Frostgeister nichts sind als Geschichten? Mir scheint, diese Warnung kam gerade noch rechtzeitig. Die Versammlung der Ältesten aller Siedlungen wird einberufen!“

Dieses Mal kam kein Einwand mehr.

Die Sippenältesten aller Siedlungen trafen sich in der Halle der Worte. Solange die Duka dem Land vorstand, hatte es ein solches Ereignis nicht mehr gegeben. Das letzte Mal … Das letzte Mal hatte ihre Großmutter die Sippen geführt, und die Versammlung hatte beschlossen, Mirsken nach Tolor zu schicken und durch ihre Heirat mit dem tolorischen König das Bündnis zwischen beiden Völkern zu besiegeln. Die Duka mochte die Halle der Worte nicht. Ganz offensichtlich diente sie nur dazu, schlechte Entwicklungen in ihrem Leben zu bestätigen. Damals hatte sie ihre Schwester an die Tolorier verloren. Heute musste sie ihrem Volk beibringen, dass ein alter Krieg wieder aufgeflammt war.

In der Zwischenzeit hatten sie vier weitere tote Händler gefunden.

Die Händler wussten nichts von dem Tod, der mit dem Frost kam. Niemand hatte sie gewarnt.

Ihr eigenes Volk war gewarnt. Noch hatte es unter den Sippen keine Toten gegeben. Aber es gab nur eines, dass die Frostgeister auf Distanz halten konnte: Feuer. Und es gab kaum Holz in den Bergen. Der Dung der Tiere wurde bereits für die Feuer in den Sippenhäusern benötigt. Sie würden Brennmaterial aus dem Tiefland zukaufen müssen. Viel Brennmaterial. Die Duka seufzte. Sie sah den kommenden Verhandlungen durchaus nicht begeistert entgegen.

Acht Kerzen später brummte ihr der Kopf. So viel Gerede, so viele Zwischenrufe. Sie hatten lange palavert und wenig erreicht. Konnten oder wollten die anderen Sippenältesten nicht sehen, was da direkt unter ihrer Nase passierte? Oder lag es daran, dass bislang nur Fremde zu Tode gekommen waren? Aber was immer dort in den Bergen lauerte, früher oder später würde es auch kirsitanisches Blut trinken. Die Duka war sich dessen sicher. Die anderen Frauen sahen die Gefahr einfach nicht. Nur mit viel Widerstreben hatten sie sich wenigstens auf eines geeinigt: die Wachen in den Bergen würden verstärkt werden.

Die Duka fühlte sich erschöpft. Die Luft war zum Schluss stickig geworden in der Halle der Worte. Sie war froh, dass das Gerede für heute zu Ende war. Sie verzichtete auf eine Fackel. Es war beinahe Vollmond, die Nacht würde hell genug sein.

Draußen atmete sie tief die Herbstluft ein. Es lag bereits Frost im Wind. Der Winter kündigte sich wie immer früh an in den Bergen. Der Duka war es recht. Die Herden waren fett, die Felder abgeerntet, das Heu eingebracht. Ihre Sippe würde den Winter satt und warm im Sippenhaus verbringen. Es war alles so, wie es sein sollte.

Bis auf das, was in den Bergen wartete.

Die Duka fühlte, wie ihr Herz bei dem Gedanken schneller schlug. Es brachte nichts, wenn sie jetzt gleich heim ging und zu schlafen versuchte. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie nach so einer Sitzung geraume Zeit brauchen würde, bevor der Schlaf kam, und dass ihr am nächsten Morgen der Schädel hämmern würde. Ihr Kopf wurde schneller wieder klar, wenn sie noch ein Weilchen wach blieb und umherging.

Die Duka umrundete die Sippenhäuser. Weiter hinten lagen die Koppeln und die Ställe. Noch waren die meisten Tiere in den Koppeln, in die Ställe kamen sie erst, wenn der Schnee so hoch lag, dass sie sich nicht mehr selbst Futter suchen konnten.

Ein leises Wiehern ertönte. Das klang nach Sima, ihre Lieblingsstute, die sie vor vier Wintern mit der Flasche aufgezogen hatte. Die Duka ging langsam weiter bis zur Koppel ihrer Sippe. Sima wartete am Zaun und machte einen langen Hals. Ihr Atem strömte warm auf die Hand der Duka. Sie lächelte, kramte in ihrer Tasche nach einem schrumpeligen Apfel und hielt ihn Sima hin. Die Stute schnupperte, nahm dann mit weichen Lippen den Apfel von ihrer Handfläche und kaute genüsslich. Die Duka strich ihr über die Stirn. „Bist ein braves Mädchen, meine Süße.“

Während Sima langsam zur Herde zurücktrabte, wandte die Duka sich ihrem Sippenhaus zu. Es wurde zu kalt, noch länger hier draußen zu bleiben. Ihr Umhang war nur für den Tag gedacht und für die Bergnacht unzulänglich.

Eine Bewegung lenkte ihren Blick zur Seite. Die kleine Koppel unweit des Sippenhauses, in der verletzte und schwache Tiere aufgepäppelt wurden. Irgendetwas bewegte sich darin. Erneut schlug ihr Herz einen Trommelwirbel. Sie versuchte zu erkennen, was dort war. Es war klein. Es wirkte nicht wirklich bedrohlich. Aber der Schein konnte täuschen. Die Duka fasste nach ihrem Messer und trat näher an die Koppel. Das Etwas bewegte sich und wandte ihr den Kopf zu. Ein Kind? Was tat ein Kind in der Nacht auf dieser Koppel? Die Kinder sollten alle in der warmen Sicherheit der Sippenhäuser sein!

Die Duka öffnete das Gatter und trat in die Koppel.

Sie kam nicht weit. Kaum, dass sie sechs Schritte gemacht hatte, flog das Kind förmlich in die Luft und rannte dann mit einer geradezu unheimlichen Geschwindigkeit in die entfernteste Ecke der Koppel. „Bleib doch, ich tue dir nichts!“, wollte die Duka rufen. Doch in dem Moment, als sie den Mund öffnete, schien etwas in ihr zu reißen. Aus ihrem Mund kam nur ein Gurgeln. Dann wurde ihr schwindelig, und sie fiel.

Die Duka versuchte, sich aufzurichten. Stechender Schmerz schoss durch ihre Brust und zwang sie wieder hinab. Einen Moment war sie zu erschöpft, um auch nur zu denken. Und jetzt? Sie brauchte Hilfe.

Die Duka versuchte, zu rufen. Aus ihrer Kehle kam nichts als ein kaum hörbares Krächzen. Verzweifelt krallte sie ihre Finger in das reifüberzogene Gras. Sie durfte hier nicht liegen bleiben. Die Nacht war kalt. Zu kalt, um sie zu überleben.

Erneut versuchte sie, sich zu bewegen. Nichts. Ihre Hände gelangten kaum zwei Fingerbreit weiter, ihr Körper rührte sich nicht. Die Duka stöhnte auf.

Schritte. Leichte Schritte. Hilfe!

Die Duka wendete mühsam den Kopf. Jetzt erkannte sie das Kind. Es war der merkwürdige Junge, der seit drei Sommern mit seinem Vater hierher kam. Dieser Junge, der sich aus unerfindlichen Gründen dann immer in ihrer Nähe herumtrieb.

Die Duka krächzte erneut. Der Junge war jetzt bei ihr, ging in die Hocke und sah sie interessiert an. „In dir ist etwas kaputt gegangen“, stellte er fest. „Hier…“, sein Finger wanderte über ihre Herzgegend, „… und hier.“ Sein Finger wanderte zu einer Stelle an ihrer Schläfe. „Ich hatte nicht erwartet, dass es so erfolgreich sein würde.“

Was meinte der Junge? Die Hände der Duka zuckten, ihre Lider flatterten.

Der Junge beugte sich vor, so dass er ihr genau in die Augen sah.

„Du wolltest, dass ich sterbe.“

„Niemals!“, wollte die Duka sagen, aber wieder gelang ihr nur ein Krächzen.

„Doch, du wolltest es. Und als meine Mutter nicht zustimmte, hast du sie gezwungen, mich auszusetzen.“

Die Duka wollte wieder aufbegehren, aber schon fuhr der Junge fort: „Ich finde, es ist ausgesprochen gerecht, dass du jetzt dort stirbst, wo ich sterben sollte.“

Wo er sterben sollte? Plötzlich erinnerte die Duka sich. Das missgestaltene Kind, das in eben diesem Pferch im kalten Schlamm gelegen hatte. Aber der Junge sah so vollkommen anders aus …

„Du hättest mir nur etwas mehr Zeit geben müssen“, sagte der Junge. „Nun wirst du sterben.“

Die Duka versuchte, etwas zu fragen.

Der Junge lächelte. „Oh, ich darf dich nicht direkt töten. Wir sind vom gleichen Blut, erinnerst du sich? Für meinesgleichen ist es tabu, die vom gleichen Blut zu töten. Ich habe lediglich den Druck in deinem Blut ein wenig höher gemacht. Genügend, dass einige deiner alten Adern es nicht mehr ausgehalten haben. Nicht genügend, um dich zu töten.“

Er stand auf. „Aber wir beide wissen, dass ich dich gar nicht töten muss. Eine Nacht hier draußen, und dein Körper stirbt von alleine. Vielleicht stirbst du also heute. Wahrscheinlich sogar.“

Er berührte die Duka leicht mit der Spitze seiner Zehen. Bloße Zehen an nackten Füßen, die nicht so wirkten, als ob ihm kalt war. „Solltest du überleben, nun, dann haben die Götter das entschieden. Ich betrachte uns beide hiermit als quitt.“

Er drehte sich um und ließ die Duka mit ihren Fragen und ihrem Tod alleine.

Aus den Augenwinkeln sah die Duka, wie er die Koppel verließ. Einen Moment war ihr, als sähe sie plötzlich große Schwingen aus seinem Rücken sprießen. Aber das konnte unmöglich sein.

Die Duka schloss die Augen und dachte an das Kind, das damals hier im Schlamm gelegen hatte. Ein Lied fiel ihr ein. Ein Lied, das ihre Großmutter ihr oft gesungen hatte. Ein Lied, an das sie sich damals nur hätte erinnern müssen. Ein Fehler … ein tiefgreifender Fehler … wie hatte ihr das passieren können?

Langsam kroch die Kälte aus dem Boden tiefer in ihren Körper.

*

Ein Ast knackte im Feuer und zerbarst in einem Funkenschauer. Marle schreckte aus dem Schlaf hoch. Automatisch glitt ihr Blick zur Schlafbank ihrer Großmutter. Die Bank war immer noch leer.

Marle glitt von ihrer Schlafbank. Die Kälte des Bodens drang durch die Binsen in ihre nackten Füße. Fröstelnd zog sie die Decke um ihrem Körper. Dann ging sie zur Schlafbank ihrer Mutter und berührte sie sacht an der Schulter.

Ihre Mutter wachte so schnell auf, als hätte sie auf dieses Weckzeichen gewartet. „Was ist?“, fragte sie. Automatisch sah auch sie zu der Bank der Duka hinüber. Ihre Augen weiteten sich leicht. „Wo ist sie?“

Marle nagte an ihrer Unterlippe. „Als ich die Halle der Worte verließ, redete sie noch mit der Sippenältesten vom Blausteinfluss. Sie sagte, sie wolle noch etwas spazierengehen, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen.“

Marles Mutter sah sich in der Schlafhalle um. Alle Schlafbänke außer der der Duka waren belegt. „Zieh dich an. Wir gehen sie suchen.“

Die Duka war nicht in der Nähe der Halle der Worte. Die Duka war nicht zwischen den anderen Sippenhäusern. Schweigend gingen die beiden Frauen zu den Koppeln. Die Ponys standen zu einem dichten Haufen gedrängt und wandten dem Wind ihre Kehrseite zu. Weit und breit keine Duka.

Sie waren schon an der kleinen Koppel vorbei und fast wieder beim Sippenhaus, als Marle sich noch einmal umdrehte. Irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte. Unschlüssig blieb sie stehen.

„Komm schon“, sagte ihre Mutter. „Wir müssen die anderen wecken. Alleine finden wir die Duka nicht.“

„Da war etwas“, murmelte Marle.

Ihre Mutter wartete.

Marle schaute zu der kleinen Koppel herüber. Es war fast, als würde sie von dort jemand rufen. Sie ging ein paar Schritte. Jetzt, wo sie hügelaufwärts sah, konnte sie es sehen. In der Koppel lag etwas, was dort nicht hingehörte. Marle begann zu laufen. Ihre Mutter folgte ihr.

Die Duka lag bäuchlings ausgestreckt auf dem Boden. Ein Arm war etwas angewinkelt. Es sah aus, als hätte sie sich zum Schlafen niedergelegt. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck des Staunens, aber ihre Augen waren leer, ihre Haut kalt wie der Nachtboden.

Marles Mutter berührte die Tote, bewegte sacht ihren Arm. „Sie ist noch nicht starr“, sagte sie leise. „Sie ist kaum eine halbe Kerze tot.“

„Wir haben Großmutter kaum eine halbe Kerze lang gesucht“, sagte Marle fassungslos. „Sie ist gestorben, während wir sie gesucht haben. Wir hätten schneller sein müssen! Wenn wir bloß schneller gewesen wären …“

„… dann wäre sie genauso tot wie jetzt“, gab ihre Mutter zurück. „Wahrscheinlich ist sie gestorben, als du aufgewacht bist.“

„Aber … wieso …“

„Ihr Geist ist zu dir gekommen und hat dich geweckt. Sie wollte, dass du kommst und sie findest.“

„Warum ich? Du bist doch ihre Tochter! Ich bin nur ihre Enkelin!“

Marle begann zu weinen. Ihre Mutter legte ihr den Arm um die Schultern. „Tochter“, sagte sie, „du bist diejenige von uns beiden, zu der die Geister sprechen. Du bist diejenige von uns beiden, die Dinge bemerkt. So war das schon, als du klein warst. Das ist auch der Grund, weshalb Mutter dich als ihre Nachfolgerin ausgesucht hat und nicht mich.“

Marle schluchzte auf.

„Weine nur, Kleines“, murmelte ihre Mutter und strich ihr übers Haar. „Weine nur. Heute bist du noch einmal mein Kind, meine kleine Tochter, heute darfst du schwach sein und weinen. Morgen bist du die neue Duka. Die Duka muss stark sein für ihr Volk. Die Duka muss stark sein für uns alle. Morgen darfst du nicht mehr weinen. Darum weine heute.“

Und während ihre Mutter sie in den Armen wiegte wie ein kleines Kind, ließ Marle ihren Tränen freien Lauf. Zusammen betrauerten sie die Mutter, die Großmutter, die Duka. Zusammen betrauerten sie ein Leben, das zu Ende gegangen war, und ein Leben, das nie wieder das gleiche sein würde.

Es dauerte vier Tage, bis der Scheiterhaufen errichtet war. Vier Tage, in denen die tote Duka auf dem Marktplatz von Ganen aufgebahrt war, vier Tage, in denen weinende, klagende Frauen von ihrer aller Mutter Abschied nahmen. Vier Tage, an denen der erste Schnee in Ganen fiel. Dann zündete Marle das Totenfeuer an.

Als das Feuer erloschen und die Asche der Duka sicher in den Lehm gemengt war, mit dem die Männer die Wand des Sippenhauses ausbesserten, war Marle die neue Duka.

Ihre erste Amtshandlung bestand darin, die ohnehin noch versammelten Frauen in die Halle der Worte zurückzurufen.

„Ihr wisst, was meine Großmutter von euch wollte“, sagte sie. „Ich will nichts anderes. Die Frostgeister sind zurückgekommen, und wir müssen unser Volk vor ihnen schützen.“

„Niemand weiß das sicher“, protestierte eine der alten Frauen. „Alles, was wir haben, ist ein Opferplatz der Eisleute. Und ein paar tote Händler, die vielleicht einfach zu dumm waren, den Weg in den Bergen zu finden.“

„Wir haben mehr als nur das“, sagte Marle hart. „Während das Totenfeuer brannte, wurden weitere Tote gefunden. Und dieses Mal ist es keine Frau von den Eisleuten, dieses Mal ist es kein fremder Händler. Dieses Mal starben unsere Hirten und unsere Herden. Die Herde auf der Wasserleite wurde überfallen. Alle achtundsiebzig Tiere und alle fünf Hirten sind tot.“

Einen Moment war es so still in der Halle der Worte, dass man das Dachstroh im Wind knistern hörte. Dann brandete eine Vielzahl von Stimmen auf.

Am Ende setzte Marle sich durch. Es brauchte dazu nur einen einzigen Satz. „Ich bin die Duka!“ Selbst die ältesten der Frauen hatten den Kopf gesenkt und zugestimmt. Sie würden Brennholz aus den Tieflanden kaufen müssen. Möglichst viel davon gleich beim ersten Mal, denn merkten die Karapakier erst einmal, wie dringend sie das Brennholz haben mussten, würden sie unter Garantie die Preise ins Uferlose steigen lassen. Einen Moment hatte Marle überlegt, ob man nicht auch die Karapakier warnen müsste. Aber dann ließ sie es, vorerst. Die Tieflandleute würden ihr vermutlich nicht eher glauben, als bis sie selbst die Bekanntschaft der Frostgeister gemacht hatten. Irgendwann in nicht allzu ferner Zeit würden sie zusammen kämpfen müssen. Wenn nicht, gäbe es in den Bergen recht bald keinen Lebensraum mehr für Menschen. Aber Marle war sicher, dass ihre Verhandlungsposition im kommenden Frühling besser sein würde als jetzt.

Es machte ihr Angst, dass sie so dachte. Wie kam es, dass sie dermaßen kaltblütig den Tod anderer Menschen einkalkulierte? Der fremde Junge, der sich von der Tatsache, dass sie jetzt die Duka war, nicht von Besuchen abhalten ließ, war der einzige, mit dem sie darüber redete. In seinen Augen stand ein Alter, dass seiner Gestalt weit voraus war. „Du bist die Anführerin deines Volkes, ihre Mutter“, sagte er. „Eine Mutter muss tun, was für ihre Kinder am besten ist. Und wenn ihre Kinder in Gefahr sind und sie nicht alle retten kann, dann muss sie mit Bedacht wählen, damit wenigstens so viele wie möglich überleben.“

Marle schaute in die eiswasserhellen Augen. „Es ist doch erst drei Sommer her, dass du mir den Krug von der Quelle nach Hause getragen hast. Wie kann das sein, Grau, dass du in so kurzer Zeit älter und weiser geworden bist als ich?“

Am nächsten Tag waren der fremde Händler und sein Sohn verschwunden.

Dafür kamen die Frostgeister in die ersten Dörfer der hohen Lagen.

Hornstachler

Подняться наверх