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Eine Tochter verloren, eine Tochter gewonnen

Als der Frühling kam, teilt Taephe ihrem Mann mit, dass sie ihre Tochter nach Kirsitan bringen würde. Sie hätte dort noch ein Versprechen einzulösen. Oke zog den Kopf ein wenig ein, sagte aber nichts. Er gab ihr zwei Dutzend Männer als Begleitung mit und etliche schwer bepackte Ponys. Seine Tochter würde nicht als mittellose Bittstellerin in Ganen auftauchen.

Taephe war sich nicht sicher, wie die Sippen sie aufnehmen würden. Immerhin war sie bereits vor sechs Jahren fort gegangen und hatte seither nichts mehr von sich hören lassen.

Aber sie hätte sich keine Sorgen machen müssen.

Sieben Tagesritte vor Ganen trafen sie auf die ersten Hirten. Was immer die für ein Signalsystem besaßen, danach wusste jedenfalls jeder, auf den sie trafen, bereits Bescheid. Als sie Ganen erreichten, wartete ein großer Pulk Frauen bereits auf sie, an ihrer Spitze eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen. Das musste die neue Duka sein. Und neben ihr standen Betha und Inana. Beide lebten noch! Taephe rollte ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Betha lachte über das ganze Gesicht. Inana breitete ihre Arme aus. Dann fühlte Taephe ihre herzliche Umarmung und wusste, sie war wieder zuhause.

„Natürlich kann Nitiri bleiben. Eine Tochter meiner Schwester ist auch meine Tochter.“ Inana nahm die Kleine auf den Schoß. Nitiri schnupperte an ihr wie ein kleines Hündchen und lehnte sich dann zufrieden an sie. „Spricht sie unsere Sprache?“

„Ich habe ihr im letzten Winter Kirsitanisch beigebracht. Nicht besonders gut, fürchte ich, denn es ist ja auch nicht meine Muttersprache. Aber Kinder lernen schnell.“

„Du hast ihr einen Namen in unserer Sprache gegeben.“

„Als ich ging, sagtest du, dass meine Tochter jederzeit meinen Platz an deinem Herdfeuer einnehmen kann. Ich hatte schon am Tag ihrer Geburt das Gefühl, dass sie hierher gehört.“

Inana legte einen Finger unter das Kinn des Mädchens und drehte sanft ihren Kopf so, dass Nitiri sie ansah. „Kleine Tochter, hat deine Mutter dir gesagt, dass auch ich deine Mutter bin?“

Nitiri nickte ernst.

„Und du weißt, dass du bei mir leben sollst?“

Wieder ein Nicken.

„Willst du denn auch bei mir leben?“

Nitiri steckte einen Finger in den Mund und dachte angestrengt nach. „Mama hat gesagt, du hast mehr Zeit für mich. Und mehr Geschichten.“

Inana wartete geduldig.

„Ich glaube, ich will hierbleiben.“

Die beiden Mütter sahen sich an und lächelten. Taephes Lächeln war durchsetzt von Trauer.

Kira sah die Handschrift der Schicksalsgöttin. Sie hatte alle Kinder mit Drachenblut fortschicken müssen. Und nun kam eine Frau, die ihre Vorgängerin seinerzeit als Schwester aufgenommen hatte, und schenkte ihnen eine Tochter, die über die Blutlinie ihres Vaters das alte Blut erneut in das Volk Kirsitans brachte. Nitiri war so viele Generationen von den ersten Drachenblütigen entfernt, dass ihr Blut keine Gefahr bedeutete. Sie und ihre Nachkommen würden das magische Erbe der Berge wieder in den Sippen erwecken.

Natürlich war sie trotzdem neugierig, was die Karapakierin dazu bewogen hatte, ihre Tochter ausgerechnet nach Kirsitan zu geben. Taephe erzählte es ihr.

„Er hat deine zweite Tochter einfach ausgesetzt?“ Kira war entsetzt. Konnte es wirklich Völker geben, denen das Leben einer Tochter so wenig bedeutete?

„Die Nordleute denken anders als wir.“ Taephe sah die Duka nicht an. „Es war Okes Recht als Vater, über das Leben seiner Tochter zu entscheiden. Was das angeht, hätte er genauso über das Leben eines Sohnes entscheiden können.“

„Wie kannst du das so hinnehmen?“

„Ich stamme aus Karapak. Da sind die Gesetze ähnlich. Die Väter entscheiden, wer in die Familie aufgenommen wird. Nur die Väter. Niemals die Frauen.“

„Wie grässlich! Jeder weiß doch, dass Kinder ein Teil ihrer Mütter sind!“

Taephe sah sie immer noch nicht an. „In Karapak glauben die meisten, dass die Frauen nur ein Gefäß für den Samen des Mannes sind.“

„Glauben die im Norden das auch?“

„Danach habe ich Oke nie gefragt.“

„Glaubst du das?“

Jetzt sah Taephe endlich auf. „Ich habe es geglaubt, bis ich nach Kirsitan kam.“

„Hast du deswegen deine Tochter zu uns gebracht? Damit sie am Leben bleibt?“

„Ihr Leben war nicht in Gefahr. Oke hat sie anerkannt. Ein anerkanntes Kind würde er niemals aussetzen. Im Gegenteil, er würde sie mit Zähnen und Klauen bis zum letzten Atemzug verteidigen. Einmal abgesehen davon, dass auch Ganen kein Leben garantiert, mit all den Frostgeistern in den Bergen. Nein, ich habe meine Tochter hierher gebracht, damit sie niemals in die gleiche Situation kommt wie ich. Dass andere über das Leben ihrer Kinder entscheiden.“

Taephes Stimme klang so traurig, dass Kira unwillkürlich die Hand nach ihr ausstreckte. Sie zog sie hastig wieder zurück, als hätte sie sich verbrannt. In Taephes Augen tanzten die Flammengeister.

„Was ist?“, fragte Taephe erstaunt.

„Nichts …“ Kira stand auf. „Ich habe beinahe vergessen, dass ich noch etwas Dringendes erledigen muss.“ So schnell sie konnte, verließ sie das Sippenhaus.

Am Abend, bevor Taephe wieder in den Norden aufbrach, sprach Kira mit Inana. „Du wirst deine Freundin und Sippenschwester nie wiedersehen.“

Inana sah sie verunsichert an. „Aber es klang nicht so, als ob ihr Mann sie daran hindern würde.“

Kira suchte nach den richtigen Worten. „Inana, über deiner Sippenschwester tanzen bereits die Flammen.“

Inana zuckte zusammen. Als sie sich abwandte, sah Kira in ihrem Gesicht verzweifelte Auflehnung. Traurig sah sie der davoneilenden Frau nach. Es schien ihr zunehmend eher ein Fluch als ein Segen, dass die Flammengeister mit ihr sprachen.

Taephe steckte einen hinreichenden Vorrat des Tees ein, dessen Gebrauch Hinen ihr damals empfohlen hatte. Sie war sich keineswegs sicher, dass Oke ihr erlauben würde, eine eventuelle dritte Tochter ebenfalls nach Ganen zu bringen. Da war es wohl besser, sie bekam überhaupt keine Kinder mehr.

Inana weinte, als sie sich von ihr verabschiedete. Nitiri, die erst jetzt begriff, dass sie sich tatsächlich von ihrer Mutter trennen musste, ebenfalls. Nach der letzten Umarmung floh Taephe förmlich. Auch wenn ihre Tochter noch lebte, sie gehörte ihr jetzt nicht mehr. Sie war halb blind vor Tränen, als sie auf das Pony kletterte. Die Nordmänner, die die weinenden Frauen nur mit einem etwas spöttischen Grinsen quittiert hatten, waren immerhin freundlich genug, sie während des ganzen langen Rittes zurück nicht mehr auf dieses Thema anzusprechen.

Oke verkniff sich ebenfalls jeden Kommentar. Er musterte nur schweigend die leeren Tragtaschen der Ponys und den leeren Kindersattel, griff dann nach seinem Jagdbogen und verließ das Haus. Es dauerte fast fünf Tage, bevor er zurückkam.

Nitiris Name wurde in Okes Familie nie wieder erwähnt.

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