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1028 Ein kleiner Feldzug

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Am Ende waren es die Gilden, die den letzten Anstoß gaben.

Berichte über Piraterie waren ohnehin in den letzten Jahren an der Tagesordnung gewesen. Mit einer Regentin, auf die niemand so recht hören mochte, einem jungen handlungsunfähigen König und einen alten, handlungsunwilligen Thronrat, hatten die Piraten sich fast unbehelligt wieder ausgebreitet und große Teile des Landes erneut besetzt, dort, wo das Delta an das Meer grenzte. Schiffe wie Dörfer mussten Schutzgeld zahlen, um überhaupt einigermaßen unbehelligt zu bleiben, und selbst das nützte nicht immer. Die Piraten holten sich Lebensmittel und Frauen aus den Dörfern und Geld und Gut von den Kaufleuten. Wer sich wehrte, starb.

Die Seidengilde wurde vorstellig. Der Thronrat schmetterte ihr Hilfeersuchen ab, unter Hinweis darauf, dass die Seidengilde genug verdiente, um selbst mehr Wachen zu bezahlen. Den Gewürzhändlern ging es nicht besser.

Dann sprach jemand vor, mit dem überhaupt kein Mitglied des Thronrates gerechnet hatte.

Ein vierschrötiger, stiernackiger Mann, der so überhaupt nicht zu den ziselierten Alabastersäulen und den goldgeschmückten Kerzenständern passen wollte, zwischen denen er einherging.

„Prakat von der Steinmetzgilde!” Die Stimme des Herolds dröhnte durch den Audienzsaal.

Der Mann baute sich vor Inagoro auf, zwar mit einer angemessen demütigen Verneigung, aber seine Gestalt war keine, die höfische Formen verinnerlicht hatte. Er strahlte Kraft aus und tatkräftige Energie.

„Ihr müsst etwas gegen die Piraten unternehmen, Majestät!”, dröhnte sein tiefer Bass durch den Raum.

„Ich muss?”, fragte Inagoro betont sanft.

Prakat zuckte zusammen, verneigte sich hastig noch einmal. „Meine Worte waren schlecht gewählt, Majestät. Ich meinte damit, es ist in Eurem ureigensten Interesse, dass den Piraten das Handwerk gelegt wird.”

„Erläutere mir das.”

Prakat räusperte sich, fuhr sich mit der Hand über den Bart und begann dann zu reden, langsam zuerst. Aber mit jedem Wort wurde er sicher, schneller – und lauter. „Ich vertrete die Steinmetzgilde. Wir sind diejenigen, die Häuser, Tempel und Paläste in Sawateenatari bauen. Wie Ihr wissen dürftet, Majestät, wird in dieser Stadt – und auch an Eurem Palast – unentwegt gebaut. Die Steinbrüche aber, aus denen unser Material stammt, sind sehr weit weg.

Steine aus den Drachenbergen können wir natürlich den Tsaomoogra herabschiffen. Bei den begehrten weißen und roten Steinen aus den Drachenschwanzbergen oder gar dem schwarzen Basalt aus den grauen Schluchten aber geht das nicht. Da sind wir auf den Land- oder Seeweg angewiesen. Und während der Regenzeit, so wie jetzt, können wir nur den Seeweg nutzen. Trotz des großartigen Straßenbauprogramms Eures verehrten Großvaters Kanatamehme sind immer noch weite Teile unseres Straßennetzes unbefestigt. Die Wagen mit den Steinladungen sind einfach zu schwer, sie bleiben in dem Morast stecken. Wir müssen also den Seeweg nutzen – oder wir müssen aufhören zu bauen.

Damit aber wären weder Ihr noch unsere sonstigen Kunden einverstanden.

Auf dem Seeweg allerdings fangen uns seit einigen Jahren regelmäßig die Piraten ab und verlangen Schutzzoll. Unsere Schiffe sind durch die Steine so sehr beladen, dass sie nur schwerfällig manövrieren und die Piraten mit ihnen leichtes Spiel haben. Anfangs waren die Schutzzölle moderat, aber in diesem Jahr sind sie derart hoch geworden, dass sie unseren ganzen Gewinn auffressen. Eine Gilde ohne Gewinn kann nicht existieren. Und, wie ich vorsichtig anmerken möchte, Majestät, eine Gilde ohne Gewinn kann auch keine Steuern zahlen.”

Das war endlich ein Argument, das der Thronrat verstand. Bauwerke, die nicht ausgeführt werden konnte, Steuereinnahmen, die der Staatskasse fehlten. Der versammelte Thronrat empfahl dem König einstimmig, den Piraten den Krieg zu erklären.

*

Niemand, der seine Sinne beisammen hatte, führte während der Regenzeit Krieg in den Sümpfen. Inagoro wartete, bis die Regenzeit vorbei war und der Wasserstand des Tsaomoogra sich normalisierte.

Dann zog er seine Truppen zusammen.

Er deklarierte seinen Feldzug allerdings nicht als Krieg. Natürlich nicht. Alleine das Wort Krieg reichte schon, um die halbe Bevölkerung in Panik zu versetzen. Außerdem hätte er dann die Kaufleute und Händler empfindlich in Unruhe versetzt.

Nein, Inagoro deklarierte seinen Feldzug als Strafexpedition.

*

Piraten waren eine Sache. Mücken eine ganz andere. Falls Inagoro bislang gedacht hatte, dass Sawateenatari während der Regenzeit ein Mückenparadies war, wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Das wahre Mückenparadies lag hier im Delta. Gegen die blutrünstigen kleinen Stechsauger waren selbst die Krokodile nicht mehr als eine unangenehme Randerscheinung. Fluchend schlug er wieder zu. Die Mücke war tot. Sein Arm juckte trotzdem. Wie machten die Einheimischen das nur, inmitten dieser Mückenschwärme so stoisch ruhig zu bleiben?

Einer dieser Einheimischen stand gerade vor ihm und behauptete dreist, dass es hier keine Piraten gäbe. Weit und breit nicht, im ganzen Delta nicht, und hier schon gar nicht.

„Ach ja?“ Inagoros Augenbrauen schossen in die Höhe. „Nun, dann bist du nutzlos für mich. Werft ihn den Krokodilen vor.“

Die Wachen ergriffen den Mann und zogen ihn fort.

„Halt, wartet, nicht! Mir fällt gerade doch noch einer ein!“

Inagoro gab den Wachen ein Handzeichen, den Mann wieder zurückzubringen. Sie schleiften ihn nicht gerade besonders sanft über die Schiffsplanken und warfen ihn vor Inagoro auf den Boden.

„Sieh an“, bemerkte er trocken. „Dein Gedächtnis ist offenbar doch noch nicht völlig zu Sumpfbrei geworden. Dann erzähl mir mal, was dir doch noch eingefallen ist.“

Der Mann presste seine Stirn auf dem Boden. „Majestät, verzeiht, bitte, mein Fehler, ich habe nicht nachgedacht. Da ist tatsächlich jemand, den ihr als Piraten bezeichnen könnte. Zumindest habe ich gehört, er hätte vor zwei Monden mit vorgehaltenen Waffen von den Schiffen der Gewürzgilde eine gute Summe Geld erpresst.“

„Würde mich auch ausgesprochen wundern, wenn es eine andere Bezeichnung als ‚Pirat’ für so jemanden gäbe.“

Der Mann murmelte etwas Unverständliches.

„Wie bitte?“

Er bekam keine Antwort. Inagoro winkte dem Zuchtmeister. Der Mann trat vor, holte aus. Der Peitschenhieb hinterließ auf dem Rücken des Knienden einen blutigen Streifen.

„Also, was hast du gesagt?“

Der Mann aus dem Delta hob den Kopf von den Planken und blickte trotzig hoch. „Steuereintreiber, habe ich gesagt.“

Einen Moment schien jeder auf dem Schiff den Atem anzuhalten. Dann lachte Inagoro los. Nach kurzem Zögern fielen die Soldaten verhalten mit ein.

„Steh auf“, bedeutete er dem Mann. „Wie heißt du?“

„Enki.“

„Enki, es gibt nicht viele Bürger Karapaks, die es wagen würden, so mit ihrem König zu reden. Ich honoriere deinen Mut und lasse dich leben. Du wirst, solange ich hier im Delta bin, als mein direkter Berater fungieren.“ Er trat an den Mann heran, fasste unter sein Kinn und zog ihn hoch, so dass sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. „Allerdings solltest du dir einer nicht ganz unerheblichen Kleinigkeit bewusst sein, Enki. Wenn du mich je wieder belügst, bist du Krokodilfutter. Unwiderruflich.“

Enki belog ihn kein zweites Mal. Inagoro war sich jedoch sicher, dass der Sumpfbewohner ihm die eine oder andere Wahrheit schlichtweg verschwieg. Er wusste nur nicht, wollte Enki die Piraten schützen, oder tat er es aus Prinzip, weil die Bewohner des Deltas den karapakischen Eroberern auch nach zwei Generationen noch immer nicht trauten?

Enki führte ihn tatsächlich zu einem Piratennest.

„Leer. Ausgeflogen.“ Der Hauptmann starrte nicht weniger düster als Inagoro auf den leeren Platz zwischen den Hütten. Mit der Stiefelspitze schob er die Asche der Feuerstelle auseinander. Darunter glomm es noch schwach. „Sie sind gewarnt worden.“ Er sah zu Enki herüber.

„Unmöglich. Der Mann stand die ganze Zeit praktisch neben mir.“ Inagoro sah zu seinen Schiffen herüber. Die breiten, hohen Rümpfe leuchteten ochsenblutrot über das grüngelbe Schilf. Die Fahne hing schlaf am Mast, hier im Delta regte sich kein Lüftchen. „Sie brauchten wohl auch keine Warnung außer der, die wir ihnen selbst gegeben haben. Wie hoch ist das Schilf? Kaum mehr als zwei Köpfe über Mannshöhe. Unsere Schiffe liegen zweieinhalb Mannslängen über der Wasserlinie. Gut für Transporte, aber miserabel, wenn man in so flachem Gelände ungesehen irgendwohin kommen möchte. Wir brauchen andere Schiffe.“

Der Hauptmann runzelte die Stirn. „Schiffe zu bauen braucht Zeit.“

„Habe ich gesagt, dass ich sie bauen will? Hier im Sumpf hat so gut wie jeder ein Schiff. Wir werden die, die wir brauchen beschlagnahmen. Du wirst dafür sorgen. Wenn wir das nächste Mal losfahren, wird uns niemand vorzeitig sehen können.“

Die Sumpfleute waren nicht gerade begeistert, als die königliche Marine ihnen die besten Schiffe konfiszierte. Aber angesichts einer Tausendschaft schwer bewaffneter Soldaten beschränkten sich ihre Proteste auf leises Murren und ein paar geschüttelte Fäuste. Der Hauptmann beschlagnahmte auch gleich noch die notwendigen Arbeitskräfte, da seine Soldaten, wie er ganz richtig annahm, absolut keine Ahnung hatten, wie die flachen, schmalen Sumpfboote zu handhaben waren.

Den Soldaten war es nicht ganz geheuer, dass sie jetzt auf Augenhöhe mit den Krokodilen verkehrten. Aber was konnten sie schon tun, außer dem guten Beispiel ihres Anführers und Königs zu folgen?

Enki wusste, wohin die Piraten ausgewichen waren. In das große Schilfmeer an der rechten Uferseite flussabwärts. Eine eintönige Fläche, bewachsen mit hohem Schilfgras, die von keinem Baum und keiner Anhöhe unterbrochen wurde und sich bis zum Salzwasser erstreckte. Die Hütten der Dörfer darin waren mit Schilf gebaut und gedeckt und von ihrer Umgebung kaum zu unterscheiden. Die Dörfer waren so klein, dass die Soldaten auf den Booten übernachten mussten, und lebten ganz offensichtlich nur von Fisch, Krokodilfleisch und gerösteten Schilfwurzeln. Jedenfalls war es das, was man Inagoro und seinen Soldaten zu Essen vorsetzte.

Der Tsaomoogra floss so langsam, dass er fast stand, und das wenige Land, das aus seinen trübbraunen Fluten auftauchte, bestand aus stinkendem Schlick. Inagoro verlor fast die Geduld. Dank der zahllosen, ausgiebigen Mäander des Flusslaufes, waren sie am nächsten Abend kaum näher an der Mündung als am Tag zuvor, trotz eines ganzen Tages angestrengten Ruderns. Aber als er in dem dritten Dorf abends erwähnte, dass es vielleicht schneller sei, einfach eine Schneise durch das Schilf zu schlagen und zu Fuß zu gehen, sahen ihn Enki und die Dorfältesten an, als sei ihm ein zweiter Kopf gewachsen.

„Wenn Ihr unbedingt sterben wollt …“

„Wieso?“

„Im Schilf leben die schwarzen Büffel. Die greifen alles an, was sich in Ihrer Nähe bewegt.“

„Ich habe schon mehr als einen Büffel gejagt“, knurrte Inagoro.

„Und es sind Schlangen darin. Jede Menge. Jede einzelne von ihnen tödlich giftig. Nur Selbstmörder gehen durch das Schilf.“

Der Dorfälteste hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Noch bevor auch nur einer von Inagoros Begleitern reagieren konnte, flog das Messer durch die Luft. Mit einem satten „Tokk“ landete es in einem der Stützbalken hinter ihm.

Inagoro hob die Hand. Der Soldat, der schon mit seinem Schwert ausholte, erstarrte, ließ dann das Schwert sinken. Der Älteste lächelte dünn, erhob sich und ging sein Messer holen. Er hielt es Inagoro unter die Nase. Etwas Grünes war daran aufgespießt, das mit acht dünnen Beinen zappelte.

„Und die sind dort auch. Hier im Dorf halten wir sie kurz. Aber im Schilf werdet ihr sie auf jedem zweiten Blatt finden. Ihr Biss ist nicht tödlich. Aber er schmerzt höllisch. Ich garantiere Euch, ein Soldat, der von einer Sumpfspinne gebissen wird, kämpft mindestens drei Tage nicht mehr.“

„Eure Argumente sind stichhaltig“, gab Inagoro zu. „Dann bleibt wirklich nur der Flusslauf.“

Besagten Flusslauf hätten sie am vierten Tag wohl ohne Enki nicht einmal gefunden. Der Tsaomoogra schien sich in tausend Arme zu verästeln. Die meisten von ihnen endeten als Sackgassen. „Das reinste Labyrinth. Wie finden die Handelsschiffe hier durch?“

Enki zuckte mit den Schultern. „Genauso wie Ihr, mein König. Sie brauchen einen Lotsen, der hier aus der Gegend stammt.“

Inagoro erschlug eine weitere Mücke. „Wie weit ist es noch?“

„Wir müssten den Schlupfwinkel der Piraten morgen erreichen.“

Dann war dieses elende Dorf vor ihnen die letzte Station. Den Göttern sei Dank. Inagoro war es gründlich leid, in stinkenden Schilfhütten zu schlafen.

Immerhin waren die Leute gastfreundlich. Sie versorgten ihren Herrn und König sogar mit einer jungen Frau, die sein Lager teilte und deren Gegenwart wundersamerweise die Mücken fernzuhalten schien. Sie lachte, als er sie darauf ansprach. „Das ist das Kaui-Öl. Jeder hier benutzt es.“

Inagoro hatte den Ältesten gesagt, dass er am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang los wollte. Die Piraten sollten gründlich überrascht werden. Die Dorfleute hatten sich nicht dazu geäußert, aber als Inagoro mit dem ersten grauen Streifen am Horizont aufstand, war das Frühstück für ihn und seine Soldaten bereits bereitet. Er aß schnell und mechanisch und war auf seinem Boot, sobald es hell genug war, die Umgebung einigermaßen zu erkennen.

„Herr, wartet!“ Das war die junge Frau, die ihn in der Nacht verwöhnt hatte. „Ihr habt doch darüber geklagt, dass die Mücken Euch förmlich auffressen. Wollt ihr nicht etwas von dem Kaui-Öl mitnehmen?“

Selbstredend wollte Inagoro. Er hieß die Ruderer zu warten. Die junge Frau eilte zur Hütte zurück und verschwand darin.

Der Himmel wurde heller. Der Horizont wies jetzt bereits einen rosa Streifen auf. Inagoro war drauf und dran, auch ohne das Öl aufzubrechen.

Dann kam sie wieder aus der Hütte, einen schweren Krug auf ihrer Hüfte. Sie balancierte ihn vorsichtig zu seinem Boot. „Ich habe mir gedacht, dass Ihr mehr davon brauchen könnt. Nicht nur für Euch, meine ich.“

Sieh an, die Kleine dachte mit! Inagoro lächelte, bedankte sich, ließ den Krug sorgfältig zwischen den Sitzbänken verstauen und gab endlich den Befehl zum Aufbruch.

Die Piraten waren ausgeflogen. Vermutlich unmittelbar vor ihrer Ankunft, denn die Kochfeuer brannten noch, die Töpfe hingen noch darüber. Sie mussten gewarnt worden sein. Und da dieses Mal ihre Schiffe sie nicht verraten haben konnten, gab es nur eine Möglichkeit.

„Die Dorfleute!“ Inagoro musterte den Krug mit dem Kaui-Öl mit finsterem Blick. „Sie haben mich reingelegt. Haben mich damit lange genug aufgehalten, dass eines ihrer eigenen Boote vor mir losfahren und die Piraten warnen konnte.“

Er ließ alles im Dorf der Piraten zerstören.

Auf dem Rückweg machten sie in dem gleichen Dorf wie am Abend zuvor wieder Halt. Die Dorfbewohner waren genauso spurlos verschwunden wie die Piraten. Inagoro ließ auch dieses Dorf zerstören.

Zweimal der gleiche Reinfall. Mit einem Gegner, den man nicht zu packen kriegte, war kein Staat zu machen. Inagoro verdoppelte seine Patrouillen. Irgendwie musste er doch die Piraten finden können!

Die Piraten fanden ihn. Genauer gesagt, seine Männer.

Als das erste Boot nicht zurückkam, dachte er sich nichts dabei. Ein Unglücksfall. Vielleicht hatten sie einen treibenden Baum gerammt. Oder sich mit einem besonders großen Krokodil angelegt.

Dann fehlten zwei Boote.

Inagoro ließ die Boote nur noch im Verbund ausfahren. Mindestens vier Boote zusammen.

Von den sechzehn Booten, die er dieses Mal losgeschickt hatte, kam ein einziges zurück, nur noch mit der Hälfte der Männer besetzt. Der Dienstälteste von ihnen, ein graubärtiger Soldat, erstattete Bericht.

„Wir sind vorschriftsmäßig gefahren, immer zwei Boote nebeneinander, keine fünf Bootslängen auseinander, alle vier. Und dann kamen sie plötzlich angeschossen, aus diesen schmalen Krokodilslöchern im Schilf, wo keines unserer Boote durchpasst. Schmale, leichte, hochbordige Plankenschiffe, nichts so Schwerfälliges wie diese Sumpf-Flachboote, mit denen wir unterwegs sind. Sie sind zwischen uns durchgeschossen wie Rennpferde zwischen Ochsen. Die Hälfte unserer Männer war bereits tot, bevor wir überhaupt nach den Waffen greifen konnten. Den Hauptmann haben sie zuerst erledigt. Danach wusste keiner von uns so recht, was wir machen sollten, und wir sind einfach zurückgerudert. Die haben uns die ganze Zeit umrundet. Das vordere linke Boot ist überhaupt nicht mehr weggekommen, da waren gleich drei von den Piratenbooten. Unsere Männer waren tot, bevor wir außer Sicht waren. Wir anderen drei sind kaum vorwärtsgekommen. Schließlich haben die ganz hinten angehalten und sich den Piraten zum Kampf gestellt, damit wir anderen wegkamen. Ich konnte noch sehen, wie das Boot geentert wurde. Und dann haben sie uns mit Pfeilen beschossen, und an den Pfeilen waren so kleine Behälter, und als die aufgeschlagen sind, sind die kaputtgegangen, und da waren diese kleinen Mistspinnen drin. Sie haben viele von uns gebissen, manche mehrfach. Die, die es am schlimmsten erwischt hatte, konnten sich vor Schmerzen nicht mehr rühren. Wir haben alle, die sich noch bewegen konnten, auf ein Boot gepackt und sind so schnell es ging weggerudert. Ich habe gesehen, wie die, die auf dem anderen Boot zurückblieben, von den Piraten ins Wasser geworfen wurden. Sie haben noch gelebt, als sie reingeworfen wurden.“

Und im Wasser hatten die Krokodile gewartet.

So ging es nicht weiter. Er brauchte endlich einen Erfolg. Nicht nur seine Soldaten wurden langsam mürbe. Er musste etwas ganz anderes versuchen.

Inagoros Finger trommelten auf den schmalen Tisch. Da war doch diese ganz spezielle Taktik gewesen, mit der seinerzeit der berühmte Feldherr Kaguiki die Nomadenstämme erfolgreich aus der Grasebene vertrieben hatte. Wenn er die ein bisschen abwandelte … So sehr unterschied sich der Schilfsumpf nicht von dem endlosen Grasmeer, das der Süden Karapaks damals noch gewesen war.

Er musste den richtigen Wind abwarten.

Es war ein zermürbendes Warten. Der Wind blies überhaupt nicht, oder aus der falschen Richtung. Nicht mehr lange, und die Regenzeit begann. Dann konnte er nur noch seinen Plan vergessen und sich zurückziehen. Inagoro wurde nervös und reizbar, die Männer gingen ihm aus dem Weg.

Dann kam der Morgen mit dem richtigen Wind. Befehle liefen von Boot zu Boot. Kleine Fässer wurden verteilt. Die rekrutierten einheimischen Ruderer schauten verblüfft auf die vielen Pfeile, die zusätzlich an Bord gebracht wurden. Die Boote fuhren los, ein jedes zu einem anderen Seitenkanal auf der windabwärts gelegenen Seite des Hauptarmes. Dort wurden zur Mittagszeit die Fässer geöffnet.

Als die einheimischen Ruderer sahen, was die Fässer enthielten, wurden sie unruhig, konnten nur mit Waffendrohungen niedergehalten werden. Auf einigen Booten kam es zum offenen Aufstand. Das waren diejenigen, deren Heimatdörfer auf der windabwärts gelegenen Seite lagen. Diese spontanen Aufstände wurden blutig beendet. Dann wickelten die Soldaten die pechgetränkten Lappen um die Pfeile, entzündeten sie und schossen die Flammen in den Schilfwald.

Wenig später stand das ganze Schilf auf dieser Seite des Tsaomoogra lichterloh in Flammen. Schwarzer Rauch ballte sich darüber, zog mit dem Wind und den Flammen in Richtung Meer. Enki stand an der Bordwand, beobachtete mit geballten Fäusten und zusammengepressten Lippen das Schauspiel und sagte keinen Ton.

Inagoro wartete.

Das Feuer erlosch spät in der Nacht, als es keine Nahrung mehr fand.

Am nächsten Morgen kamen Boote aus dem verbrannten Delta. Männer, Frauen und Kinder waren darauf, auch einige Hunde und Hühner. Sie sahen nicht auf, als sie an den karapakischen Booten vorbeiruderten.

Aber Enkis Fäuste lockerten sich.

Inagoro trat zu ihm. „Deine Leute?“

„Sieht so aus, als ob sie es überlebt haben.“

Enki klang nicht sonderlich glücklich darüber. „Willst du zu ihnen?“

„Wozu? Sie würden mich bestenfalls erschlagen.“

„Hast du gesehen, ob alle aus deiner Sippe dabei waren?“

Enki sah ihn ziemlich merkwürdig an. „Nein. Ein paar der Männer fehlten.“

Das konnte nur eines bedeuten. Sie waren zu den Piraten gegangen.

Die Sumpfleute kannten das Schilf, wussten wie schnell es sich in der Trockenzeit durch ein unachtsames Feuer oder ein Gewitter entzünden konnte. Es hatte nur wenige Opfer unter ihnen gegeben, ganz so, wie Inagoro es kalkuliert hatte. Schließlich wollte er seine Untertanen nicht umbringen, ihnen nur eine Lehre erteilen. Es sah nur nicht so aus, als ob sie das verstanden hatten. Etliche der Ruderer desertierten. Vermutlich würde er sie bei den Piraten wiederfinden.

Als ihm der nächste Deserteur gemeldet wurde, ließ er die ganze Rudermannschaft hinrichten. Danach war Ruhe. Aber es war eine ungemütliche Ruhe.

Gerade war Inagoro soweit, dass er auch die andere Hälfte des Schilfsumpfes niederbrennen wollte, da kamen endlich Unterhändler mit der grünen Fahne. Etliche der Dorfältesten aus dem Delta, und zwei, drei Gestalten, die ihm unbekannt waren, die, ihrer strohähnlichen Haarfarbe nach, wohl mischblütig waren. Vermutlich Abgesandte der Piraten. Sie stellten sich nicht vor, sie redeten auch nicht, beobachteten nur, und Inagoro hütete sich, sie anzusprechen. Er tat so, als gäbe es diese Männer überhaupt nicht.

Die Dorfältesten führten die Verhandlungen. Sie versicherten ihm, dass die Piraten sich zurückgezogen hatten. Die beiden Hauptarme des Tsaomoogra-Deltas waren wieder frei, hier würden die Handelsschiffe nichts zu befürchten haben. Bei den Seitenarmen mochte das anders aussehen, aber dort würden doch wohl ohnehin keine Handelsschiffe fahren. Die Flussarme dort waren viel zu eng, verwinkelt, der reinste Irrgarten, in dem außer ein paar Verrückten und den Krokodilen niemand freiwillig hineinschwamm. Und eine weitere Strafexpedition dort hinein sei unnötig, viel zu aufwändig für das Wenige, was man damit erreichen könne.

Inagoro verstand die unterschwellige Drohung. Mit steinernem Gesicht hörte er die Gesandten zu Ende an, hieß sie dann, in zwei Tagen zurückzukommen, wenn er sich entschieden habe.

Zwei Tage, in denen er auf Krokodiljagd ging.

Danach teilte er den Dorfältesten mit, dass er die Strafexpedition als erfolgreich betrachtete und sie jetzt beenden würde, da er keine Lust habe, noch länger in diesem mückenverseuchten Sumpf zu bleiben. Zuhause warteten wichtigere Dinge auf ihn.

Enki fuhr mit nach Sawateenatari. Er hatte nicht im Sumpf bleiben wollen, sich stattdessen freiwillig zur Armee des Königs gemeldet.

Auf der Fahrt den Fluss hinauf trommelten die Siegestrommeln der roten Schiffe. Die Handelswege waren wieder frei. Niemand erwähnte, dass dieser ganze Feldzug keinen einzigen Piraten eliminiert hatte.

*

Sirit hörte, dass ihr Sohn aus dem Delta zurück war, und ging, ihn zu begrüßen.

Inagoro stand am Kartentisch. Die steile Falte, die in der letzten Zeit so häufig seine Stirn durchfurchte, hatte sich vertieft. Er starrte auf die Karte, auf das Abbild des Deltas, das immer noch tiefrot schimmerte. Lediglich an den beiden Hauptarmen des Tsaomoogra durchbrach eine dünne braune Linie das Rot.

„Soll ich dich beglückwünschen?“, fragte Sirit.

„Wozu?“ Inagoro hob nicht den Kopf. „Dieser Kriegszug war ein Fiasko. Das weißt du so gut wie ich. Meine Truppen waren dreimal so stark wie damals die meines Großvaters. Er hat das Delta erobert. Ich habe es kaum geschafft, eine einfache Handelsroute wieder zu öffnen.“

„Den Händlern wird das reichen. Und die sind diejenigen, die dir Steuern zahlen.“

„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Piraten diesen Handelsweg wieder schließen.“

„Das werden sie nicht“, sagte Sirit.

Jetzt sah Inagoro sie doch an. „Was macht dich so sicher, Mutter?“

„Die Dörfer am Strom zahlen jetzt wieder Schutzgeld. So, wie vor ihrer Eroberung durch Kanata.“

„Das heißt, sie arbeiten mit den Piraten zusammen. Verdammt, ich hätte doch das ganze Schilfmeer abbrennen sollen.“

„Du siehst das falsch“, sagte Sirit sanft. „Es ist nicht ausschlaggebend, wer tatsächlich die Macht im Delta hat. Solange alle finanziellen Interessen abgedeckt sind, stört sich kein Pirat daran, wenn deine Fahne offiziell über dem Delta weht. Die Piraten brauchen das Geld der Dörfer. Die Kaufleute brauchen freie Handelswege. Die königliche Schatzkammer braucht die Steuern der Kaufleute. Und dein Stolz braucht die Fahne. Ihr habt doch alle bekommen, was ihr wolltet.“

Mit einem Lächeln, das die königlichen Wachen erblassen ließ, rauschte Sirit wieder hinaus. Inagoros Hand krallte sich in die Karte.

Das Volk feierte seinen erfolgreichen König. Die Vergleiche mit seinem ruhmlosen Vater wurden weniger. Die mit seinem verehrten Großvater häufiger.

Der Thronrat feierte ihn nicht. Der rechnete ihm stattdessen vor, wie teuer diese Strafexpedition gekommen war. Pro eingesetztem Soldat die fünffachen Kosten eines Soldaten im Vergleich zu Tolioros Zeiten. Und dessen Kriege hatten damals schon als exorbitant teuer gegolten.

So langsam begriff Inagoro die feindselige Haltung seiner Mutter. Ganz offenkundig diente der Thronrat nicht dazu, den König zu unterstützen, sondern sah seine Existenzberechtigung darin, ihn zu gängeln.

Das Spiel konnten zwei Seiten spielen. Der königliche Geheimdienst bekam Befehl, das Privatleben gewisser Mitglieder des Thronrates einmal näher unter die Lupe zu nehmen. Irgendwo würde sich schon ein wenig schmutzige Wäsche finden lassen. Und wenn nicht … Nach der letzten Debatte war Inagoro durchaus bereit, besonders lästigen Nörglern den einen oder anderen Beweis unterzuschieben.

*

Die Festlichkeiten aufgrund seines hochgespielten Erfolges im Delta waren kaum beendet, als Inagoro einen weiteren Grund zum Feiern bekam. Fabriele gebar ihr Kind, und wie bei seinen ersten beiden Gemahlinnen war es ein Sohn. Der zweite lebendige, gesunde Sohn. Inagoro gab ihm den Namen Tokana. Draußen in den Straßen tanzte das Volk ausgelassen. Die Götter blickten wohlwollend auf Karapak und auf das Königshaus. Wie sollte man da nicht feiern wollen!

Zum dritten Mal hielt Sirit einen Enkel in den Armen. Zumindest hatte dieser keine Mutter, die darauf aus war, die königliche Familie umzubringen. Fabriele brachte sogar ein schwaches Lächeln zustande, als sie ihre Schwiegermutter mit dem Kind sah. Sie atmete allerdings hörbar erleichtert auf, als Sirit das Kind der Amme zurückgab. Durchaus verständlich. Nicht einmal Inagoro konnte seiner Mutter völlig unbefangen ins Gesicht sehen. Ihre Spiegelaugen hatten sie vom Rest der Menschheit abgesondert.

Fabriele bemühte sich. Aber sie konnte nicht verhindern, dass ihre Unterlippe leicht zitterte, als sie Sirit jetzt ansprach. „Ihr habt mir diese Schwangerschaft überhaupt erst ermöglicht. Ohne Euch hätte ich noch immer keinen Sohn. Ich würde es begrüßen, wenn Ihr auch weiterhin in meiner Nähe bleibt und über die Familie Eures Sohnes wacht.“

Sirit neigte zustimmend das Haupt. Sie konnte sich denken, wie schwer der Ersten Gemahlin diese Worte gefallen waren. Aber die junge Frau hatte einen scharfen Verstand bewiesen. Sie wusste, wo sie Verbündete fand. Sirit würde ihrerseits zusehen, dass sie es Fabriele leicht machte und sich möglichst selten direkt bei ihr blicken ließ.

De facto änderte sich also nichts, auch wenn Fabriele jetzt offiziell die Erste Frau im Sommerharem war. Nur dass Sirit im Gegensatz zu den meisten früheren Königswitwen nicht im Winterharem verschwand, auch wenn sie sich dort vorsorglich einen weiteren Wohnsitz eingerichtet hatte, in den sie sich manchmal zurückzog.

Die Diener wussten anfangs nicht so recht, was sie davon halten sollten, stellten es aber nicht infrage. Es stand ihnen nicht zu, das Verhalten der Königlichen zu kritisieren.

Inagoro begrüßte es. Zum einen wusste er, dass seine Mutter ohnehin Mittel und Wege gefunden hätte, sich auch weiterhin überall einzumischen, zum anderen bereitete es ihm eine grimmige Freude, zu sehen, wie der Thronrat auf Sirits wiederholtes Auftauchen reagierte.

Noch jemand schien sich zu freuen. Sirit bekam erneut eine Blumenschale, dieses Mal mit Herzblättern. Der traditionelle tolorische Glückwunsch zur erfolgreichen Geburt eines gesunden Stammhalters. Sie tauchte verzückt ihre Nase in den würzigen Duft. Wann hatte sie das letzte Mal Herzblätter gerochen? Damals war ihr kleiner Bruder Pino geboren worden, und die Herzblätter hatte die Wöchnerinnenstube ihrer Mutter fast in eine grüne Wiese verwandelt.

Ihre jüngste Zofe Visari war geradezu entzückt, als sie die frischen Herzblätter roch. Kein Wunder, das Mädchen kam aus dem Norden und war vermutlich, ähnlich wie Sirit, der stickig-süßlichen Gerüche Sawateenataris herzlich überdrüssig. „Es wäre schön, wenn es hier mehr Dinge gäbe, die so herrlich frisch riechen“, bemerkte sie.

Sirit stellte auch diese Blumenschale auf das inzwischen recht volle große Tablett, zu den anderen Bergblumen, die in der künstlichen Kühle des Zaubers niemals zu welken schienen. Wer immer ihr diese Blumen schickte, er wusste, dass ein Teil ihres Herzens in Tolor geblieben war.

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