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Klein und blau

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Die anstehende Entscheidung passte Inagoro nicht im mindesten. Aber die Lage ließ ihm keine Wahl. Die Wüstenkrieger waren wie vom Erdboden verschluckt. Ausgerechnet jetzt, wo er liebend gerne einen handfesten, angreifbaren Gegner gehabt hätte. Dabei hatte Inagoro die ganze Zeit das Gefühl, dass etwas in der Luft lag. Nicht greifbar, aber er hatte böse Träume. Er tigerte unruhig im Raum auf und ab, hielt dann erneut an seinem Schreibtisch an und sah mit schmalen Augen auf die ausgebreitete Landkarte. Der Norden war unruhig, wie immer. Aber die Grenzburgen hatten die Lage im Griff, zumal überall dort wegen der Frostgeister auch Zauberer stationiert waren. Der Süden dagegen war seit Anfang des Jahres ruhig. Verdächtig ruhig. Leider aber auch zu ruhig, als dass er es rechtfertigen konnte, den Ersten Feldherren Katuro weiterhin dort zu stationieren. In einer Gegend, in der es einfach keine Feinde mehr gab, war ein Erster Feldherr fehl am Platz. Er würde seinen entfernten Vetter wohl oder übel in die Hauptstadt zurückbeordern müssen.

Inagoro fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. Neun Mordanschläge auf seine Söhne hatte es während Katuros Abwesenheit gegeben, sieben davon alleine auf seinen Erstgeborenen. Diesen potentiellen Thronanwärter zurückzurufen hieß, die Gefahr für seine Söhne mindestens zu verdoppeln. Aber er hatte keine Wahl. Jedes Zögern würde man ihm nun als Schwäche auslegen.

Am nächsten Morgen würde der Bote reiten, der Katuro zurückrief.

*

Endlich! Erster Feldherr Katuro knurrte zufrieden, als er den königlichen Befehl las. Seine Augen glitzerten böse. Das hier brachte ihn nicht nur in Reichweite des Königs und seiner Bälger, die ihm den Weg zum Thron versperrten. Es brachte ihn auch in Reichweite seines Vaters. Mit dem hatte er noch ein ganz gewaltiges Hühnchen zu rupfen. Hatte der Alte doch tatsächlich noch ein paar zusätzliche Söhne gezeugt und ihm damit unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass auch er ersetzbar war. So wie seinerzeit sein Bruder Mauro.

Einen Moment schwelgte er in Rachefantasien. Dann riss er sich zusammen. Es war noch zu früh. Zunächst brauchte er seinen Vater noch. Jedenfalls solange, bis er gewisse Kontakte ermittelt hatte, die sein Vater eifersüchtig hütete. Fürs Erste würde er ein mustergültiger Sohn sein.

Herzog Komato war angenehm überrascht. Ganz offensichtlich hatte sein nichtsnutziger Sohn in der Wüstenfestung gelernt, dass er alleine nicht klarkommen konnte. Katuro zeigte sich gefügig, ja geradezu beflissen, mit seinem Vater zusammenzuarbeiten. Komato dachte an die drei Söhne, die er in der Zwischenzeit mit seiner neusten Gattin gezeugt hatte, als Reserve für alle Fälle. Möglicherweise würde er die doch nicht brauchen. Aber zunächst galt es, den Weg zum Thron freizuräumen. Da waren immer noch die beiden Prinzen und nicht zuletzt der König, jung genug, um jede Menge weitere Söhne zu zeugen, sollte den Prinzen etwas zustoßen. Er musste eine Möglichkeit finden, sie unauffällig alle drei aus dem Weg zu räumen. Soweit man den Tod eines Königs überhaupt unauffällig nennen konnte.

Wie sich bei einer kleinen, internen Besprechung zeigt, hatte auch sein Sohn sich darüber einige Gedanken gemacht.

*

Zwei Dinge waren Sirit sonnenklar: Sie war die wahrscheinlich schlechteste Großmutter aller Zeiten. Es kostete sie Überwindung, ihre Enkel überhaupt zu berühren, geschweige denn, sie in den Arm zu nehmen. Aber von solchen Liebesbezeugungen hatte schon Inagoro nicht viel abbekommen. Es war, als hätte Tolioro alles in Sirit getötet, das lieben konnte. Laut einer Bemerkung, die Zauberin Pi einmal über Sirits Spiegelaugen gemacht hatte, mochte das aber auch sein Gutes haben. Pi hatte gemeint, Spiegel würden die Energie jeder Person plündern, mit denen sie in Berührung kamen. Noch hatte Sirit davon nicht viel gemerkt, sie fühlte sich stark wie eh und je. Mit einer Ausnahme. Soweit sie das selbst beurteilen konnte, schien ihr Körper deutlich schneller zu altern. Sehr deutlich. Sie hatte sich ausgerechnet, dass ihr bei dieser Alterungsgeschwindigkeit kaum die Hälfte der Zeit eines normalen Lebens blieb.

Und das bedeutete, dass ihr Leben bereits zu mehr als der Hälfte gelebt war.

Aber jeder Zauber forderte seinen Preis, und sie war gewillt gewesen, diesen Preis zu zahlen.

Die andere Tatsache, die Sirit nicht leugnen konnte: Sie hatte Glück, dass Fabriele sie noch im Sommerharem tolerierte. Die meisten Ersten Gemahlinnen in Karapaks Geschichte hatten die Mutter ihres Gatten in den Winterharem verbannt, sobald sie durch die Geburt eines Sohnes dazu berechtigt waren. Sirit war keine Karapakierin. Sie hatte es nicht gewusst, und niemand hatte ihr das seinerzeit gesagt. Sonst wäre vielleicht einiges anders gekommen.

Oder auch nicht. Ihr Gatte hätte immer noch versucht, sie umzubringen.

Aber Fabriele tolerierte sie. Immerhin hatte sie der jungen Frau nicht nur zu einer Schwangerschaft verholfen, sondern auch mindestens einen Mordversuch auf ihren Sohn abgewehrt. Es hatte seine Vorteile, wenn man Gift buchstäblich sehen konnte. Und auch wenn es in den letzten zwei Jahren keine weiteren Anschläge mehr auf einen der Prinzen gegeben hatte, so schien es doch sowohl Fabriele als auch Sirit nicht geraten, in ihrer Wachsamkeit nachzulassen.

Mi, die alte Sklavin, die sich ihr Gnadenbrot als Kinderfrau verdiente, lächelte breit über den ganzen zahnlosen Mund. Schon wieder neue Geschenke für ihre Lieblinge! Noch dazu Holzfiguren! Besonders Kanagoro, der Älteste, spielte seit neustem mit Begeisterung damit. Vorzugsweise, wenn diese Figuren Krieger zeigte und er mit ihnen die berühmtesten Schlachten seiner kriegerischen Ahnen nachstellen konnte. Diese hier würden ihm gefallen. Wüstenkrieger mit und ohne Pferde, karapakische Grenztruppen in Wüstenkleidung, dazu einige geschnitzte Zelte und Ziegen der Wüstenkrieger und ein paar jeder wilden Tiere, die in der Wüste lebten. Schlangen, Skorpione, Taranteln.

Der Überbringer des Geschenkes verneigte sich kurz und verschwand, bevor sie fragen konnte, von wem dieses Geschenk überhaupt kam. Aber das war ja wohl egal. Niemand kam einfach so in den Palast, dafür sorgen die Wachen schon. Noch weniger kam jemand einfach so auch nur in die Nähe des Sommerharems.

Und die kleinen Figürchen in dem Korb sahen nun wirklich nicht so aus, als ob sie einem der Prinzen gefährlich werden konnten. Mi nahm die größte der Holzfiguren in die Hand. Ein General. Die Gesichtszüge waren nicht sehr individuell, glichen denen seiner Holzsoldaten, aber Bemalung, Kleidung und Schwert kündeten deutlich von seiner Rolle. Einen flüchtigen Moment hatte sie fast selbst Lust, mit den Figuren zu spielen.

Aber nein, das gehörte sich überhaupt nicht. Jetzt schnell zu den Prinzen. Wie die sich freuen würden!

Es war erstaunlich, dass es noch immer Spielzeug gab, das die jungen Prinzen noch nicht hatten. Unwillkürlich musste Sirit lächeln, als sie die begeisterten Stimmen der beiden Jungen hörte. Noch spielten sie zusammen, trotz des Altersunterschiedes. Im kommenden Jahr allerdings würde für Kanagoro die Ausbildung bei der Palastgarde beginnen. Dann brauchte Tokana neue Spielgefährten. Nach ihm hatte Fabriele eine Tochter bekommen, und, wie Sirit gelernt hatte, in Karapak war es völlig unüblich, dass ein Junge mit seiner kleineren Schwester spielte.

„Da ist sogar ein General dabei! Den kriege ich!“

Kommandieren konnte Kanagoro jetzt schon sehr gut. Der Junge kriegte es ja auch von allen Seiten immer wieder erzählt, dass er der zukünftige König war.

„Du nimmst die Wüstenkrieger!“

Sirit merkte auf. Wüstenkrieger als Spielzeug? Das musste sie sehen. Sie trat auf die Veranda.

Vor der alten Mi stand ein großer Korb, und davor lagen, quer über den Boden verstreut, viele kleine, geschnitzte, bunt bemalte Holzfiguren. Kanagoro war bereits dabei, seine Soldaten einzusammeln und zu einer Armee aufzustellen. Tokana hockte unschlüssig daneben, in der einen Hand eine Ziege, in der anderen einen berittenen Wüstenkrieger. Mi schüttete weitere Figuren aus. Eine davon war leuchtendblau. Sirit zuckte zusammen und ging näher.

Die blaue Figur hatte auch die Aufmerksamkeit der Jungen geweckt. Tokana ließ die Ziege fallen und streckte die Hand nach der Figur aus. Kanagoro schlug ihm auf die Finger. „Ich bin der Ältere. Ich darf mir zuerst die Figuren aussuchen. Das ist meine.“ Er hob die Figur hoch.

Jetzt konnte Sirit erkennen, was es war. Ein blauer Skorpion. Die giftigsten tödlichsten Tiere der Wüste. Sehr fein ausgearbeitet. Feiner als die anderen Holzfiguren. Sirits Nackenhaare stellten sich auf. Sie sah noch einmal hin, dieses Mal unter vollem Einsatz ihrer Spiegelaugen.

„Fallenlassen!“

Kanagoro war so irritiert über den plötzlichen, scharfen Kommandoton, dass er den blauen Skorpion sofort losließ und sich verstört umsah. Auch Tokanas Wüstenkrieger fiel auf den Boden. Ein Bein des geschnitzten Pferdes brach ab.

„Zurück! Alle!“

Wie durch Zauberei lag plötzlich ein scharfer, kleiner Dolch in Sirits Hand. Mi stieß einen Laut des Entsetzens aus, wuchtete sich hoch, packte Tokana und wich mit ihm bis zur Brüstung zurück. Kanagoro machte ebenfalls zwei Schritte zurück, blieb dann aber stehen. „Ein zukünftiger König flieht nicht!“

„Ein König, egal ob zukünftig oder gegenwärtig, der nicht flieht, wenn es geraten ist, ist ein sehr dummer König und sehr bald auch ein toter König“, gab Sirit scharf zurück. Sie zielte. Und dann schnellte ihr Dolch herab. Die kleine blaue Figur zuckte.

*

„Ein weiteres Attentat.“ Inagoro nahm den Dolch auf und betrachtete den Skorpion. „Diese Tiere gibt es nur in der Wüste.“

Jeder im Raum wusste, wer gerade aus der Wüste in die Hauptstadt zurückgekommen war.

„Wieso hat das niemand bemerkt? In einem Korb, der durch die Gegend getragen und dann ausgeschüttet wird, würde kein Skorpion der Welt ruhig sitzen bleiben.“

„Er trug eine Lähmfessel.“ Sirit deutete auf den Rest eines dünnen Fadens, der kaum sichtbar von der Schwanzspitze zum mittleren Leibsegment des Tieres führte. „Ich habe einige Zeit in der Wüste verbracht. Einer der Wüstenkrieger hat mir mal erzählt, wie sie diese speziellen Skorpione fangen. Sie nehmen eine Haarschlinge dazu. Wenn sie die richtige Stelle erwischen, können die Skorpione sich nicht mehr bewegen. Dann kann man mit ihnen machen, was man will. Auch spielen.“

„Aber wenn die Fessel reißt …“

„Was sie mit Sicherheit getan hätte, denn deine Söhne kannten weder diese Tiere noch die Gefahr. Sie hätten lediglich ein dünnes Band gefühlt, dass sie beim Spielen störte.“

Inagoros Zähne mahlten. „Dieser Bastard!“

„Wir haben keine Beweise“, bemerkte Sirit vorsichtig.

„Ich weiß.“ Inagoros Blick wanderte zu dem leblosen Körper. Mi hatte sich voller Entsetzen über ihre Nachlässigkeit selbst die Kehle aufgeschlitzt. „Und dummerweise auch niemanden mehr, den wir befragen könnten.“

Er drehte sich auf dem Absatz um und ging, den Dolch mit dem Skorpion noch immer in der Hand.

Sirit sah ihrem Sohn gedankenverloren nach. Derjenige, der ihr von den Skorpionen erzählt hatte, war Nior gewesen. An einem jener kalten Abende in der Wüste, als sie sich an seinem Feuer wärmte, hatten sie einen Skorpion beobachtet, der wohl unter den Herdsteinen Zuflucht gesucht hatte und jetzt darunter hervorkroch, weil die Steine in der Glut zu heiß wurden. Es war ein kleiner, schwarzer gewesen, weder besonders gefährlich noch besonders angriffslustig. Sie hatten ihn wegkrabbeln lassen.

„Es gibt diese auch in blau“, hatte Nior gesagt. „Die Blauen sind die gefährlichsten. So einen musste ich einfangen, mit bloßen Händen, als ich meine Prüfung ablegte, bevor der Stamm mich aufnahm. Der Schamane hatte mir das als Aufgabe gestellt. Bring mir einen lebendigen blauen Skorpion, hatte er gesagt. Wahrscheinlich hat er gedacht, ich wüsste, wie das geht, denn in der Wüste lernen das schon die kleinen Kinder. Man macht einfach eine Schlinge aus Haar. Eine ziemlich lange, damit man außer Reichweite des Stachels bleiben kann. Die hält man so, dass der Skorpion hindurchläuft. Und dann muss man den richtigen Moment abpassen, wenn der Körper direkt über der Schlinge steht und die Schwanzspitze bereits durch die Schlinge durch ist. Dann hochziehen, und wenn man schnell genug reagiert hat, sitzt der Skorpion in der Schlinge fest und ist gelähmt. Aber das wusste ich nicht. Ich habe einen Käfig aus Geierfedern gewoben und eines dieser Tiere dort hineingesteckt. Ich hatte ziemliches Glück, dass ich das überlebt habe.“

Inzwischen war Nior der Schamane. Wie es ihm wohl ging? Nach den Friedensverhandlungen hatte er sich nie wieder bei ihr gemeldet. Fast, als wollte er überhaupt nichts mehr mit Karapak zu tun haben.

Was Nior wohl sagen würde, falls er jemals erfuhr, dass seine Erzählung den Enkeln seines verhassten Bruders das Leben gerettet hatte?

Nior erfuhr es nie. Aber die Berichte von dem neuerlichen, missglückten Attentat auf die Söhne des Königs machte durch ganz Karapak die Runde

Die Priesterin der Flussgöttin befragte die Orakelschale. Sie erschauerte vor dem Bild, dass das blutige Wasser ihr zeigte. Nur der Dolch der Königinmutter hatte Karapak vor einer Katastrophe bewahrt. Und damit meinte die Priesterin nicht den bloßen Tod eines Thronfolgers. Sollte Kanagoro sterben, würde eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die wahrlich vernichtend war. Aber sie konnte nichts tun. Ihr waren die Hände gebunden. Ihre Göttin war nicht geneigt, den Menschen noch mehr Hilfe zukommen zu lassen.

*

Die Aktion war fehlgeschlagen. Komatos Laune war auf einem Tiefstand. Die nächste Zeit würden sie überaus vorsichtig agieren müssen. Der König würde nur darauf warten, dass sie einen Fehler machten und er sie alle beide töten lassen konnte.

Sie brauchten professionelle Hilfe. Darin waren Vater und Sohn sich jetzt einig. Unauffällig ließ Herzog Komato entsprechende Informationen in den einschlägigen Etablissements im Flussviertel ausstreuen. Die Informationen wanderten. Weit. Bis an einen Ort, der sehr weit ab von Sawateenatari lag. Dort trafen sie auf geneigte Ohren.

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