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Die Ruhe vor dem Sturm

Tief unten im Süden, noch hinter den Drachenschwanzbergen, warf der Schamane der Wüstenstämme die Runenknochen. Er sah auf das Ergebnis, zuckte zusammen. Dann warf er die Knochen erneut. Aber das Ergebnis änderte sich nicht.

Ob die Zauberer in Karapak darum wussten? Vermutlich nicht, sonst wären sie sicher schon längst in panische Betriebsamkeit verfallen.

Ob er sie warnen sollte?

Unsinn. Der Schamane rief sich zur Ordnung. Er hatte mit Karapak nichts zu schaffen. Im Gegenteil, wenn die Zaubererbrut draufging, war das für ihn nur ausgleichende Gerechtigkeit. Aber sein Volk durfte auf keinen Fall darin verwickelt werden. Das war schon einmal geschehen, und sie hätten es fast nicht überlebt. Der Schamane konnte bis heute die Panik nicht abschütteln, die er damals gespürt hatte. Sein Volk musste geschützt werden, um jeden Preis. Er rief die Anführer aller Stämme zusammen.

Keiner der Wüstenkrieger verweigerte sich einem Aufruf des Schamanen. Allerdings war auch keiner von ihnen begeistert über das, was er ihnen sagte. Die Blicke reichten von mürrisch bis trotzig. Der Schamane stampfte mit seinem Stab auf den Boden.

„Ihr habt mich gehört. Bis auf Weiteres keine Raubzüge mehr in den Norden. Ihr meidet den Norden. Keine Raubzüge, kein Handel, keine Frauen, nichts. Was immer ihr tut, ihr werdet einen großen Bogen um die Drachenberge machen.“

Die Wüstenkrieger tauschen unsichere Blicke.

„Wenn wir weder nach Tolor noch nach Karapak können, dann bleibt aber doch nichts!“, bemerkte einer von ihnen vorsichtig.

„Geht nach Süden und schaut nach, ob ihr da andere Beute findet. Und wenn da niemand lebt, schlagt euch meinetwegen gegenseitig die Schädel ein, um Ruhm zu gewinnen“, grollte der Schamane. Aber IHR - GEHT - NICHT - IN - DIE - DRACHENBERGE! Habt ihr mich verstanden? Wenn euch euer Leben lieb ist, bleibt ihr hier. Jeden von euch, der es wagt, trotzdem in die Berge zu gehen, werde ich auf der Stelle aus dem Stamm verbannen und dafür sorgen, dass man ihn jagt und erschlägt wie einen räudigen Hund.“

Mehr als einer der Krieger zuckte zusammen. Offenbar meinte der Schamane es bitterernst.

„Warum …?“, echote es leise durch ihre Reihen. Der Schamane antwortete nicht. Sein Blick war auf die fernen Berge gerichtet, und seine Kiefer mahlten. Einer nach dem anderen wandten die Männer sich um und gingen leise fort.

Der Schamane sah auf die so täuschend friedlichen fernen Gipfel. Hinter den Gipfeln lag Tolor. Und dahinter Karapak. Er dachte an das, was er in den Knochen gesehen hatte. Lähmende, bleierne Angst erfüllte ihn. Was, wenn das, was er gesehen hatte, nicht in den Bergen Halt machte? Wenn es weiterzog? Wenn Karapaks Zauberer den Kampf verloren? Wie sollte er dann alleine etwas bekämpfen, das nicht einmal alle Zauberer Karapaks gemeinsam besiegen konnten?

Die Angst presste sein Herz mit schweren Fäusten zusammen.

Und ganz, ganz tief in ihm weinte ein winziger Teil seines Herzens um Karapak, seine alte Heimat, und um eine Frau mit Spiegelaugen und ihren gemeinsamen Sohn.

*

Weit oben im Norden im Reich Meelas war der kurze Bergfrühling gerade dabei, in den Sommer überzugehen.

Uzal hatte es in der Stadt nicht mehr ausgehalten. Bei so ungewöhnlich schönem, warmem Wetter sollte niemand zwischen Mauern leben. Das war die Gelegenheit, ihrem Bruder auf seiner Sommerwache einen Besuch abzustatten. Sie machte sich auf zum Grenzposten am Adlerpass. Eigentlich waren diese Wachen überflüssig. Nach Jo hatte niemand mehr versucht, Meelas zu betreten. Die südlichen Berge schienen menschenleer zu sein, und auch die Nordlandleute waren wie vom Erdboden verschluckt. Noch bemerkenswerter allerdings fand Uzal die Tatsache, dass auch von den Eisleuten weit und breit nichts mehr zu sehen war. Die Laren hatten Wort gehalten. Die Frostgeisterzäune schützten Meelas wirklich vor allem.

Im Dorf an der Schafschlucht übernachtete sie. Der Empfang war herzlich wie immer, aber irgendwie hatte Uzal den Eindruck, dass die Menschen etwas verstört schienen. Abends, als sie mit den Ältesten bei einem Honigwein zusammensaß, fragte sie danach. Die Ältesten tauschten Blicke. „Mhm, ja“, murmelte einer schließlich. „Wir haben ein paar unserer Weiden verloren.“

„Der Frostgeisterzaun!“, sprang ihm ein anderer bei. „Er schneidet sie vom Dorf ab.“

„Aber was soll das schon ausmachen?“ Uzal war verblüfft. „Das Vieh wird doch von den Zäunen nicht beeinträchtigt. Die Hirten haben doch in den vergangenen Jahren immer die Weiden zwischen den Zäunen genutzt.“

„In den vergangenen Jahren, ja.“ Das war Tonili, ihre Gastgeberin. Die alte Frau biss sich auf die Unterlippe, wusste offenbar nicht, wie sie weitererzählen sollte.

„Es ist ihr Enkel“, versuchte einer der Männer zu erklären.

„Mirko ist diesen Frühling mit unseren Ziegen zu den Weiden zwischen den Zäunen gegangen.“ Tonilis Stimme zitterte jetzt. „Die Ziegen sind zurückgekommen. Mirko nicht.“

„Vielleicht hatte er einen Unfall?“

Tonili schüttelte den Kopf. „Wir sind dreimal suchen gegangen, mit Hunden. Alles, was wir fanden, waren seine Tasche und Spuren eines Nachtlagers. Es sah aus, als hätte er dort übernachtet. Aber es führten keine Spuren wieder von dort weg. Wir fanden auch kein Blut. Nichts.“

„Er war nicht der Einzige“, ergriff einer der Männer wieder das Wort. „Wir haben noch drei weitere Hirten so verloren. Und seitdem geht niemand mehr zwischen die Frostgeisterzäune.“

Uzal dachte an ihren Bruder, der auf dem Weg zum Adlerpass alle drei Zäune queren musste.

In dieser Nacht schlief sie schlecht.

Den Göttern sei Dank, ihre Befürchtungen waren grundlos gewesen. Erleichterung durchflutete Uzal, als sie ihren Bruder heil und gesund in die Arme schloss. Birk war bei ihm, einer seiner Pelzjäger-Kumpane, der jetzt, genauso wie ihr Bruder, mangels Handel keine Abnehmer mehr hatte für seine Arbeit und sich so als Wache über Wasser hielt. Uzal blieb fünf Tage am Pass. Fünf Tage voller Lachen, laut gegrölter Lieder, Jagdgeschichten am abendlichen Feuer, sentimentaler Kindheitserinnerungen und neckischem Spott. Fünf Tage, in denen die Bedrückung, die sie auf dem Weg empfunden hatte, zu Nichts verblasste.

Als sie zurückkam in das Dorf an der Schafschlucht, schien ein Aufatmen durch die ganze Gemeinschaft zu gehen. Uzal wurde klar, dass die Leute nicht damit gerechnet hatten, sie wiederzusehen. „Ich habe die Schutzzäune zweimal durchquert“, sagte sie. „Es ist nichts passiert, und mir ist auch nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Allerdings“, schränkte sie ein, „bin ich auch nur bei Tage dort gewesen. Nachts mag das anders sein.“

Die Ältesten nickten. „Was immer es ist, es scheint also nur innerhalb der Zäune zu geschehen. Außerhalb der Zäune ist es sicher, egal, auf welcher Seite. Dann werden wir die Weiden dort eben nur über Tag nutzen.“

Tonili murmelte etwas Unverständliches. Die einzigen Worte, die Uzal heraushören konnte, waren „ … Steine … zu viele Steine …“

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