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3.

Ein krachender Donnerschlag, ähnlich dem Einschlag einer Granate, riss Christopher Vanelli aus seinem unruhigen Schlaf. Nachfolgendes Grollen und Aufflackern weit entfernter Blitzeinschläge deuteten darauf hin, dass sich das Unwetter noch lange nicht legen würde.

Christopher blickte zum Fenster. Feinste Trommelgeräusche an den Scheiben zeugten von einer rasch herannahenden Regenfront. Jede Lichtkaskade ließ die Lamellen der inwendig montierten Fensterroulade gleich scharfkantiger, langer Messer aufblitzen. Zwischen ihnen zeigte sich das Wolkengefüge, das sich wie eine brodelnde Masse auf das Festland zubewegte. Schon wenig später peitschten die Windböen Fontänen geballten Regens in regelmäßigen Abständen gegen Glas und Fassade. Bäume und Sträucher bogen sich in ekstatischer Manier nach dem Willen des Sturms.

Plötzlich huschte eine schattenhafte Silhouette am Fenster vorbei. Christophers bisherige Gleichgültigkeit gegenüber dem stürmischen Treiben änderte sich blitzartig. Wer hielt sich bei einem solchen Sturm im Freien auf? Sollte sich hier ein Einbrecher herumtreiben, hatte er für sein Vorhaben das denkbar ungünstigste Wetter ausgesucht. Oder handelte es sich lediglich um einen Obdachlosen? Es wäre jedoch das erste Mal, dass sich so eine arme Seele hierher verirrt hätte. Aber auch Einbrecher waren bislang beim Cabin Point keine aufgetaucht.

Michelle lag regungslos auf der anderen Seite des Bettes und atmete flach und gleichmäßig. Sie hatte einen wesentlich tieferen Schlaf als er. Die vier Quirls lagen aneinandergekuschelt in ihrem Kunststoffbehälter, in dem sie mit synthetischen Faserdecken ein Nest gebaut hatten, in das sie sich verkriechen konnten. Sie ließen sich durch das Unwetter nicht im Geringsten stören, hatten sie doch solche Phänomene auf ihrem Heimatplaneten MOLANA-III zur Genüge erlebt.

Christopher kroch unter der Decke hervor und schlüpfte in seine Shorts. Leise verließ er das Zimmer, tappte im Halbdunkeln den Gang entlang und durchquerte die geräumige Küche. Der Glaserker bot einen großzügigen Ausblick auf den Vorplatz, auf den steil nach unten führenden Kiesweg und über die gesamte Whiting Bay, von der aufgrund des anhaltenden Regens nicht allzu viel zu sehen war.

Er stellte sich nahe an die Glasscheibe und starrte hinaus, suchte nach einer menschlichen Gestalt, die es nicht gab. Dann kontrollierte er die Außentür. Sie war abgeschlossen. Von innen. War es nur eine Sinnestäuschung gewesen? Seine optische Erinnerung vermittelte ihm jedoch einen anderen Eindruck. Er war sicher, dass es sich um eine menschliche Gestalt gehandelt hatte, die von links nach rechts vor dem Fenster vorbeigehuscht war.

Ein dumpfer Knall schreckte ihn auf, ähnlich eines zuschlagenden Fensters. Das Geräusch kam aus dem Innern des Hauses. Doch kein vernünftiger Mensch würde bei diesem Wetter das Fenster offen lassen. Christopher drehte sich um, durchquerte die Küche und begab sich zurück in den langen Flur. Leise öffnete er das Zimmer, in dem Ernest und Keyna friedlich schiefen, als könnte sie nichts auf der Welt davon abbringen. Das Fenster war geschlossen. Ernest hatte sich in den vielen Jahren, die er hier lebte, an diese Stürme gewöhnt.

Geräuschlos zog Christopher die Tür wieder zu und begab sich zum nächsten Zimmer, das seit kurzer Zeit von Neha bewohnt wurde. Seit sich ihre Schwangerschaft dem Ende zuneigte, zog sie sich immer öfter zurück und verbrachte viel Zeit alleine. Vor ein paar Tagen hatte sie schließlich den Wunsch nach einem eigenen Zimmer geäußert. Christopher und Michelle hatten sich überrascht gezeigt, war Neha das Alleinsein doch bisher immer besonders schwergefallen.

Neha ihrerseits hatte Christophers und Michelles Unbehagen sofort gespürt und sie mit der Erklärung beruhigt, dass sie während ihrer verbleibenden Schwangerschaft viel Ruhe benötigen würde und deswegen vermehrt die Einsamkeit suche. In Wirklichkeit verbrachte sie viel Zeit in völliger Abgeschiedenheit und versank oftmals in einen meditativen Zustand. Was sie in solchen Phasen jeweils durchlebte, hatte sie bisher nicht verraten. Christopher vermutete, dass sie dabei mit ihrer Sphäre in Verbindung stand.

Als Christopher vor ihrer Tür stand, hörte er die Geräusche des Sturms deutlicher. Sie kamen aus ihrem Zimmer. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt. Doch bevor er sich auf das Innere konzentrieren konnte, schlug ihm, gleich einer Ohrfeige, ein kalter und feuchter Windstoß ins Gesicht. Unmittelbar danach krachte das Fenster erneut mit einem lautem Knall zu.

Christopher stieß die Tür weiter auf und betrat das Zimmer. Nehas Bett war leer. Die nächste Windböe riss den Fensterflügel wieder auf und fegte einen weiteren Schwall nasskalter Luft durchs Zimmer. Mit ein paar schnellen Schritten erreichte er das Fenster und schloss es.

Aber wo war Neha? In der Toilette brannte kein Licht, soviel hatte er vorhin sehen können, als er an der Tür vorbeigegangen war.

Ein schrecklicher Gedanke beschlich ihn. Wenn sie nicht im Haus war – Küche und Wohnzimmer waren vorhin ebenfalls leer gewesen –, wo war sie dann? Doch nicht etwa draußen im Sturm? War sie aus dem Fenster gestiegen?

Hastig verließ Christopher Nehas Zimmer, eilte zum Erker zurück und starrte erneut nach draußen. Aber so sehr er die gesamte überschaubare Umgebung absuchte, er konnte keine Menschenseele sehen. Er eilte den Gang zurück in sein Zimmer, zog sich einen Pullover über und holte aus dem Schrank seinen Regenumhang.

»Was ist los?«, murmelte Michelle.

»Nichts«, antwortete er leise. »Ich muss nur schnell draußen etwas nachsehen. Schlaf ruhig weiter.«

Ein leises Murren, dann wieder regelmäßiger Atem. Mehr war von Michelle nicht zu hören.

Erneut im Erker angekommen schlüpfte Christopher in seine Stiefel, öffnete die Tür und spürte sofort den peitschenden, nassen Wind. Regentropfen stachen ihm wie unzählige winzige Nadeln ins Gesicht. Schützend zog er die Kapuze über den Kopf und schloss den Klettverschluss.

Gesenkten Hauptes schritt er an seinem Fenster vorbei in die Richtung, in die sich auch der Schatten bewegt hatte. Auf der Südseite des Bungalows führte eine kleine Gartentreppe auf den durch dichtes Gebüsch geschützten Sitzplatz mit offener Feuerstelle. Doch schon von der der ersten Stufe aus konnte Christopher erkennen, dass sich hier niemand aufhielt.

Er drehte sich um. Linkerhand des Sitzplatzes, der Böschung entlang, führte eine steile Steintreppe zum Weg hinab, der in die Whiting Bay hinunterführte. Nach einem Augenblick des Zögerns stieg Christopher, den Blick stets auf den steilen Weg gerichtet, die Stufen hinunter. Als er den letzten Absatz erreicht hatte, glaubte er, für einen kurzen Moment eine Gestalt erkannt zu haben, die weit unten, wo der Pfad nicht mehr so steil war, zwischen den zwei großen Felsen hindurchhuschte. War es Neha? Wenn ja, was wollte sie am Strand?

Ohne zu zögern setzte sich Christopher in Bewegung und rannte den Weg hinunter, immer darauf bedacht, auf dem nassen Kies nicht auszurutschen. Wieder und wieder peitschten Kaskaden von stechenden Wassertropfen in sein Gesicht.

Neha, wo bist du?, dachte er intensiv, in der Hoffnung, sie würde seine Gedanken empfangen.

Nehas Empfangsbereitschaft für mentale Impulse war unterschiedlich. Es gab Momente, in denen sie darauf ansprach und entsprechend reagierte. Aber oftmals geschah nichts. So wie jetzt.

Einige Minuten später erreichte Christopher die beiden Felsen, zwischen denen der Weg schmaler wurde und leicht nach rechts abbog. Ein behelfsmäßiges, von Hand beschriftetes Metallschild mit der Aufschrift CAR TRAP hatte vor langer Zeit unkundige Fahrzeuglenker davor gewarnt weiterzufahren. Ein Relikt aus tiefster Vergangenheit, denn der größte Teil der persönlichen Fortbewegungsmittel auf der Erde bestand aus Bodengleitern oder voll automatisierten Elektromobilen. Im Schutz einer der beiden Felsen hatte dieses Schild auch den Ausläufern der beiden Tsunamis standgehalten, die vor über hundertfünfzig Jahren an die irische Südküste geprallt waren.

Christopher schenkte dem Schild keine Aufmerksamkeit und verschwand zwischen den beiden Felsen. Für einen kurzen Moment spürte er fast nichts mehr vom windigen Regenschauer. Doch als er wenig später auf den mit Sand und feinem Kies bedeckten Strandboden hinaustrat, empfand er den Wind dafür umso heftiger. Einige der Böen rissen ihn beinahe von den Füßen. Er senkte den Kopf, um überhaupt richtig atmen zu können.

Nach einigen Metern blieb er stehen. Er befand sich vor einem unbekannten Gebilde, das schon seit ewiger Zeit hier stand und von dem niemand wusste, wer es angefertigt hatte. Es bestand aus verwitterten Ästen, die in den Boden gerammt und mit großen Steinen fixiert waren. Die gesamte Skulptur sah einem großen Hundeskelett sehr ähnlich. Unter den Einheimischen kursierten die wildesten Gerüchte um dieses Ding. Man munkelte, es sei über hundert Jahre alt. Von den Alteingesessenen getraute sich niemand, in seine Nähe zu treten, geschweige denn, es anzufassen.

Christopher drehte sich um die eigene Achse und inspizierte die nähere Umgebung. An der Felswand, einige Meter vom Hundeskelett entfernt, entdeckte er einen hellen Fleck, der nicht ins Bild passte. Soviel er wusste, gab es hier keine hellen Steine, vor allem nicht so große. Der Sandstein, aus dem die irische Südküste hauptsächlich bestand, besaß eine dunkelgraue Farbe, hervorgerufen durch Schmutzpartikel, die aus der Atmosphäre ausgewaschen und abgeregnet wurden. Stürme und Wellen fraßen sich seit Jahrhunderten ins Landesinnere und veränderten fortwährend den Küstenverlauf.

Christopher schritt auf den weißen Fleck zu und spürte sofort neue Windböen im Rücken. Nach wenigen Metern erkannte er eine am Boden sitzende Gestalt, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und das Gesicht auf den Knien ruhend.

»Neha?«, schrie er in das Heulen des Windes hinein.

Keine Reaktion.

Er trat noch näher heran, ließ sich unmittelbar vor ihr auf die Knie nieder und berührte mit den Fingern ihren Arm. Die Gestalt zuckte zusammen, hob erschrocken den Kopf und starrte ihn mit großen Augen an. Wasser tropfte von den Haaren und rann über das gesamte Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Was tust du hier?«, fragte Christopher, als er sich Nehas Gesicht soweit genähert hatte, dass sie ihn trotz des Sturmlärms verstehen konnte. »Du holst dir noch eine Lungenentzündung.«

Ohne zu antworten starrte sie ihn apathisch an. Es schien, als blicke sie durch ihn hindurch. Christopher kannte diesen Zustand. Alles deutete darauf hin, dass sie einmal mehr mit ihrer Sphäre in Kontakt stand.

Endlich vernahm er ihre Stimme, konnte aber nicht verstehen, was sie sagte.

»Wasser«, wiederholte sie.

»Was ist mit dem Wasser?«, fragte er.

»Ich muss ins Wasser.«

»Das geht doch nicht. Du würdest ertrinken.«

Er setzte sich neben sie, zog seinen Regenumhang aus und bedeckte damit ihre und seine Schultern. Behutsam legte er seinen Arm um sie und zog sie an sich. Sofort spürte er ihren Kopf an seiner Schulter. Kurz darauf wandte sie sich ihm zu, umarmte ihn und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals.

Schweigend saßen sie an die Felswand gelehnt, dem heftigen Regen und den ungestümen Böen ausgesetzt. Einige Meter von ihnen entfernt brandete Welle für Welle ans Ufer und überflutete einen großen Teil des vor ihnen liegenden Strands. Wäre jetzt nicht Ebbe, würden die Wellen mit ihrer ganzen Urgewalt an die Felswand schlagen.

Nehas Zittern hatte sich gelegt. Während sie sich noch fester an ihn schmiegte, spürte er ihren warmen Atem an seinem Hals.

Plötzlich griff sie nach seiner Hand, führte sie unter dem Pullover zu ihrem Bauch und legte sie sanft darauf.

Wärme. Leben. Eine Woge der Ruhe und des Friedens durchflutete ihn, ließ ihn die Augen schließen und abtauchen. In seinen Gedanken verwandelte sich die Umgebung in eine lichtdurchflutete, riesige Kuppel, formten sich skurrile, blaue Türme. Die Geräusche des Sturms rückten in den Hintergrund, verwandelten sich in Stille und Geborgenheit.

»Ahen kommt.«

Nehas Worte drangen wie durch einen dumpfen Schleier zu ihm. Seine Hand streichelte ihren Bauch, als wollte er das ungeborene Kind liebkosen.

»Wann?«, fragte er.

»Sehr bald.«

»Es wird alles gut gehen.«

Dann entstand eine schweigsame Pause.

»Ich muss zu meiner Sphäre«, sagte Neha nach einer Weile. »Ich muss ihn dort zur Welt bringen.«

»Dafür müssten wir nach TONGA-II fliegen.«

»Ja.«

»Wann?«

»So schnell wie möglich.«

Der Hüter der Sphären

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