Читать книгу Semantik für Lehrkräfte - Christian Efing - Страница 18
2.2.3 Prototypen- und Stereotypensemantik
ОглавлениеWährend die Merkmalsemantik als eine geradezu klassische Vertreterin der strukturalistischen Sprachwissenschaft zu gelten hat, stellen Prototypen- und Stereotypensemantik typische Vertreterinnen der sog. kognitiven Semantik dar. Im Unterschied zur strukturellen verfolgt die kognitive Semantik das Ziel, semantische Phänomene nicht eigens linguistisch zu konstruieren, sondern als mentale Repräsentationen zu analysieren. Oder mit anderen Worten und dabei ein wenig traditioneller ausgedrückt: Die kognitive Semantik versucht, anhand sprachlicher Daten einen Einblick in die Funktionsweise des menschlichen Geistes zu erhalten. Dabei ist eine universalistische Richtung, die sich für sprachlich reflektierte kognitive Funktionsweisen überhaupt interessiert, von einer soziokulturellen Spielart zu unterscheiden, welche mentale Gemeinsamkeiten der Mitglieder einzelner sprachlicher Gemeinschaften herauszuarbeiten versucht.
Unter einem Prototyp wird der beste Vertreter einer Kategorie verstanden (Übersicht bei Gansel 2017). Welche Vertreter das jeweils sind, lässt sich anhand von Experimenten ermitteln. Erste Erhebungen dieser Art wurden in den 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten durchgeführt (vgl. Rosch 1975): Dabei mussten die Probanden beste Vertreter einer Kategorie aus vorgegebenen Beispielen nennen oder Aussagen zu besten Vertretern (mehr oder weniger spontan) bestätigen. Im Falle der Kategorie ergab sich dabei etwa das folgende Bild (vgl. Abb. 223a): Als bester Vertreter erschien robin (das Rotkehlchen), gefolgt von sparrow (Spatz), canary (Kanarienvogel), blackbird (Amsel), dove (taube) und lark (Lerche). Parrot (Papagei), pheasant (Fasan), albatross (Albatros), toucan (Tukan) und owl (Eule) lagen etwas weiter entfernt, flamingo (Flamingo), duck (Ente) und peacock (Pfau) noch etwas weiter; den weitesten Außenseiter bildete schließlich bat (die Fledermaus, die kein Vogel ist).
Abb. 223a:
„Abstufungen der Vogeligkeit“ (Aitchison 1997: 68)
Das Ergebnis der Untersuchung belegt nun zweierlei: Aus einer universalistischen Perspektive der kognitiven Linguistik heraus ist zum einen festzuhalten, dass abstrakte Kategorisierungen im menschlichen Denken (auch) als Prototypikalisierungen erfolgen – in diesem Falle durch eine besonders charakteristische Vogelart, das Rotkehlchen. Zum anderen kann aus einer soziokulturellen Sicht heraus festgestellt werden, dass solche Prototypikalisierungen spezifisch für bestimmte sprachliche Gemeinschaften sind – denn in Australien oder China wird das Rotkehlchen sicher nicht im Zentrum der Prototypikalisierung von Vögeln stehen, sondern eine andere Art. Dies gilt bereits für den europäischen Raum: So kommt etwa das Rotkehlchen in dem volkstümlichen Lied „Alle Vögel sind schon da“ von Hoffmann von Fallersleben (1847) gar nicht vor; hier erscheinen vielmehr „Amsel, Drossel, Fink und Star“ an erster Stelle.
Amsel, Drossel, Fink und Star, aber auch Rotkehlchen und Spatz ähneln sich, sodass ihnen als mehr oder weniger zentrale Vertreter des Prototyps Vogel gemeinsame Eigenschaften zugeschrieben werden können. Eine standardisierte Beschreibung solcher Eigenschaften, die für eine bestimmte Kategorie oder natürliche Art charakteristisch bzw. normal sind, wird als Stereotyp bezeichnet (vgl. Putnam 21990: 41). Im vorliegenden Fall läuft dies insbesondere auf Merkmale wie [klein], [fliegt], [singt] und [gefiedert] hinaus. Diese Merkmale haben nun einen ganz anderen epistemologischen Status als die Seme der Merkmalsemantik: Sie stellen keine sprachwissenschaftlichen Konstrukte zur Unterscheidung von lexikalischen Einheiten eines Wortfelds dar, sondern sind Kriterien einer nach Putnam operationalen Definition, die zur Klärung beitragen, ob ein gegebener Gegenstand zu einer bestimmten Klasse bzw. Kategorie gehört oder eben nicht.
Zusammengefasst lässt sich der Zusammenhang zwischen Prototyp und Stereotyp wie folgt darstellen (vgl. Abb. Abb. 223b): Ein Prototyp stellt den idealen Vertreter einer Kategorie dar (diese Kategorie kann auch als Gattung oder als Hyperonym bezeichnet werden; vgl. Kap. 2.4.2) – hier repräsentiert durch eine einfache Zeichnung, die für einen echten Vogel steht (ggf. eine einzelne Amsel). Dieser Prototyp wird nun durch Vertreter verschiedener Subkategorien mehr oder weniger ideal repräsentiert (diese sind dann entsprechend als Arten oder als Hyponyme zu bezeichnen) – in diesem Falle beispielsweise durch solche von Amsel, Drossel, Fink und Star. Diesen ideal-typischen Vertretern sind nun einige charakteristische Merkmale eigen – hier also etwa [klein], [fliegt], [singt] und [gefiedert]: Diese bilden gemeinsam den Stereotyp, der dem Prototyp entspricht. Zuletzt sind einige weitere Merkmale anzusetzen, die den Vertretern bestimmter Subkategorien zukommen – im Falle der konkreten Amsel zum Beispiel [schwarz] und [gelbe Augen].
Prototyp: | Vogel (Hyperonym) | |
Typische Vertreter (Hyponyme) | Amsel, Drossel, Fink und Star | |
Stereotyp: | Charakteristische Merkmale | [klein], [fliegt], [singt] und [gefiedert] |
Weitere Merkmale eines Referenten – etwa Amsel | [schwarz] und [gelbe Augen] |
Abb. 223b:
Prototyp und Stereotyp (in Anlehnung an Schwarze 1996: 718f.)
Übung 223a
Diskutieren Sie (im Kurs oder in anderer Gemeinschaft) Prototypen und Stereotypen anderer Kategorien – zum Beispiel von Baum, Möbel oder Trinkgefäß. Wie verhalten sich in diesem Zusammenhang Abstrakta wie Vernunft, Freiheit oder Demokratie?