Читать книгу Morgenrosa - Christian Friedrich Schultze - Страница 10
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ОглавлениеIn Wauers Projektierungsabteilung wie auch in der Kombinatsleitung herrschte nach seiner Rückkehr von seiner einwöchigen Dienstreise in die ungarische Hauptstadt, um die ihn der eine oder andere beneidet hatte, zunächst kollegiale Freundlichkeit und gute Atmosphäre. Wauer erzählte dem Chef Manfred Schäfer, der von allen Leitungsmitgliedern nur „M.S.“ genannt wurde, von seinen Erlebnissen mit den ungarischen Kollegen und unterbreitete seine Arbeits- und Verhandlungsergebnisse. Auch mit anderen Kollegen wurde über Budapest, seine freiheitliche Atmosphäre und seine ziemlich eigenständige Politik im Rahmen des Comecon gegenüber dem Westen diskutiert.
Natürlich fuhren auch andere Ostberliner, so oft es sich bei all den Umständen einrichten ließ, dorthin ein Visum und vor allem Umtauschbescheinigungen für ein paar Forint zu bekommen, gerne in die ein weltoffenes Flair verströmende ungarische Metropole oder an den beliebten Plattensee mit den zahlreichen Weinhöhlen an seinem Nordufer. Gerade auch deswegen waren viele Kolleginnen und Kollegen an den Erlebnissen interessiert, die einer, der sogar auf Betriebskosten dorthin reisen durfte, dabei gehabt hatte. Wauer gab gern und eloquent Auskunft, verschwieg dabei aber vor allem seine Begegnung mit seinem Cousin Robert und seine wilde Nacht mit dieser Susza, der musizierenden Edelnutte, im Rundhotel „International“.
Nachdem seit seiner Rückkehr etwa drei Wochen vergangen waren, geschah etwas, das Wauer innerlich aufhorchen ließ und das er als eher ungewöhnlich einstufte. Er wurde vom Kaderleiter, Genossen Uwe Singer, zu einer Unterredung eingeladen. Dessen Dienstzimmer in der vierten Etage des Verwaltungsgebäudes war ziemlich spartanisch eingerichtet, sah man einmal von dem großen Schreibtisch und dem ebenso überdimensionalen Besprechungstisch, an dem mindestens zwölf Kollegen Platz finden konnten, ab. Beide waren, ebenso wie die Wandregale und die beiden Aktenkleiderschränke, in originaler Esche furniert, die allerdings schon ziemlich nachgegilbt wirkte. Diese Möbel entsprangen schlichter, aber gediegener Tischlerarbeit, die man so heute nur noch in Einzelanfertigung bekam und die deshalb von den üblichen Spanplatten-Büromöbeln angenehm abstachen. Über allem hing in noch größerer Ausführung als üblich das Farbfoto des Parteiführers Erich Honecker.
Singer bedeutete Wauer, nachdem sie sich wie gewöhnlich begrüßt hatten, dass er am großen Besprechungstisch Platz nehmen solle und setzte sich ihm ohne irgendwelche Papiere oder Unterlagen gegenüber.
„Na, Spaß gehabt in Budapest?“, fragte er, die Unterhaltung beginnend.
„Klar doch, in Budapest immer, weißt du doch, Uwe.“
„Haben sie dich wieder mit ihrem Tokayer traktiert?“
„Nee, ich trinke doch keinen so schweren Weißwein. Kati und Ferenc wussten das noch. Deshalb gab es guten trockenen Rotwein, manchmal Birnenschnaps dazu; merkwürdige Mischung“, erwiderte Wauer.
„Und - seid ihr mit allem klar gekommen. Werden sie uns die Projekte und die Baugruppen rechtzeitig liefern können?“
Wauer stutzte. Seit wann interessierte sich der Herrscher über die Personalakten für Einzelheiten der Produktion und der Projektierung? Er würde in der nächsten Leitungssitzung ohnehin erfahren, wie es um die Planerfüllung und die Vertragserfüllungen stand und sich wie immer dabei langweilen.
„Unterschriftsreif war jedenfalls alles, was wir mit ihnen vereinbart haben. Nun müssen noch die großen Chefs ran. M.S. muss ja die Sache auch noch vom Außenministerium absegnen lassen“, antwortete er vorsichtig.
„Hast du ´ne Ahnung, warum sie dich ausgerechnet ins Rundhotel einquartiert hatten?“, fragte Singer plötzlich.
„Wieso, da waren wir das letzte Mal doch auch?“
„Das ist zwei Jahre her!“, bemerkte Singer.
„Ja und? Ist was passiert in den zwei Jahren?“
„Vieles“, meinte Singer jetzt gedehnt. „Besonders in Polen. Hat man dich da angequatscht? Neuerdings verkehren dort, wie man hört, auch viele Westler und reichlich Nutten.“
„Mich hat niemand angequatscht“, sagte Wauer trocken. „Allerdings habe ich einen Abend in der Himmelsbar verbracht und mit einigen schönen Ungarinnen geflirtet. Die meisten haben ja mal bei uns gearbeitet oder studiert und sprechen ganz gut deutsch.“
„Und verdienen sich bisschen Westgeld nebenbei“, ergänzte Singer.
Wauer spitzte die Ohren. Hatten sie ihn doch überwacht? Wussten sie mehr oder sogar alles? Aber wenn sie wirklich etwas wussten, dann hätten sie ihn bereits ganz anders in die Mangel genommen. Es musste um etwas anderes gehen.
„Mann, weißt du wie viele Mädchen sich hier im Domhotel oder zur Messe in Leipzig ein paar blaue Kacheln3 dazu verdienen. Sex ist eben ein sicheres Geschäft und kann ganz ohne besondere Diplome und Prüfungen betrieben werden. Ist ja auch irgendwie bemerkenswert, dass Manager aller Länder und besonders der oberen Etagen so gern ´rumvögeln. Dann hätten wir eben keine Intershops aufmachen dürfen“, deklamierte er ungehalten.
„Na, reg dich nicht gleich auf, Martin. Du weißt doch, dass du im sicherheitsrelevanten Bereich arbeitest. Da unterstehst du nun mal besonderen Regeln.“
„Klar, weiß ich das! Sagt irgend jemand, dass ich sie breche oder gebrochen habe?“ Wauer wollte es wissen. Am besten, wenn das jetzt geklärt wurde.
„Sagt niemand. Aber unser Bau in Lichtenberg erregt, sagen wir mal, auch internationales Interesse. Ich brauche dir doch nicht zu erklären, dass der Westen genau wissen möchte, wo wir stehen“, entgegnete Singer.
„Wenn wir schon mal was mit Weltniveau bauen, haben wir die Schweden oder Finnen doch sowieso dabei.“
„Klar doch. Aber wir müssen dennoch vorsichtig sein. Und es geht ja auch gar nicht nur darum, dass es irgendwelche Agenten erfahren, sondern dass unser Laden nicht in den Verruf kommt, dass er Kollegen mit Sicherheitsrisiko beschäftigt.“
„Mann, Uwe, nun lass´ doch die Katze aus dem Sack. Du kannst doch tacheles mit mir reden, ich bin doch nicht der Klassenfeind!“ Wauer war jetzt klar, woher der Wind wehte. Sie hatten herausbekommen, dass er sich mit Robert schrieb oder irgendwas in dieser Richtung, Prag, Großschönau, Warschau. Hoffentlich nicht sogar Budapest!
„Also, es ist so“, begann Singer, „man überprüft uns gerade wegen des Lichtenberger Baus. Und da haben wir festgestellt, dass du einen Vetter in Dingsda, in München hast, mit dem du dich sogar hin und wieder schreibst und den du voriges Jahr auch in Polen getroffen hast. Und das finden die Genossen von der Sicherheit überhaupt nicht so gut. Deshalb soll ich mit dir reden. Vielleicht könnte eine Aussprache mit den Genossen organisiert werden. Sie wollen mit dir reden.“
Wauer war schlagartig klar, dass er in einer Zwickmühle saß. Sagte er nein, wüssten sie, was sie zu tun hätten. Sagte er ja, war er ihnen ebenfalls ausgeliefert. Er überlegte fieberhaft. Dann sagte er: „Ja, warum nicht, warum sollten wir uns nicht mal unterhalten. Kommt ja darauf an, was sie von mir wollen und was ich machen muss. Ich werde mich ja wohl nicht gerade im Nahkampf ausbilden lassen müssen.“
„OK, ich arrangiere das. Unser Kontaktmann wird mal abends hierher kommen. Ich sag dir Bescheid.“
Es war schon merkwürdig, dass selbst der hundertprozentige Genosse Uwe Singer offensichtlich gewisse Schwierigkeiten hatte, auf diesem Terrain zum operieren. Als Kaderleiter hatte er ständigen Kontakt zu den Genossen von der inneren Staatssicherheit zu halten. Er wusste, dass bei der Stasi eine zweite Akte über die mittleren und höheren Kader geführt wurde. Und trotzdem war es keine Routine für ihn, den Mittelsmann herzugeben.
Wauer musste eine Entscheidung treffen. Das war ihm klar. Beunruhigt überlegte er, wie er aus dieser Klemme herauskommen könnte. Denn so naiv war er lange nicht mehr, dass ihm nicht bewusst war, wenn er nur den kleinen Finger böte, dass sie den ganzen Kerl nehmen würden. Und das wiederum würde bedeuten, dass er sein ganzes Umfeld für den Rest seines Lebens würde belügen und betrügen müssen. Eigentlich wusste er bereits heute, dass es das nicht wert war. Sein quälender Bewusstseinswandel bis zum Tage der h-moll-Messe in Budapest konnte doch nicht umsonst gewesen sein!
Die folgenden Arbeitstage vergingen aber, als wäre nichts geschehen. Beim nächsten Treffen zum so genannten Parteilehrjahr war das Thema „Martin Luther, Reformator, und die Lehren für die sozialistische Revolution“ dran. Das war ein scharfer Stoff!
Und es beschäftigte nicht nur die Oberen und die Kirche. Im kommenden Jahr fand das „Lutherjahr“ in ganz Deutschland, vor allem aber auch in der DDR statt, weil fast alle Lutherstätten im Osten Deutschlands lagen. Eisenach, die Wartburg, Wittenberg und Leipzig, alles war hier. Diesmal hatte der Westen bis auf Worms nicht viel zu bieten. Und bei aller ideologischen Indoktriniertheit der Partei- und Staatsführung – es war eben auch ein gutes Devisengeschäft zu erwarten. Da musste man schon einmal ein paar Kompromisse eingehen! Es mutete überaus merkwürdig an, wenn man Honecker und Genossen mit den Kirchenführern aus Ost und West über die Abläufe des Jahres 1983 verhandeln sah. Einmal saßen sie sogar in der „dicken Marie“4 zu Greifswald zusammen auf den vorderen Kirchenbänken…
Martin Wauer, dem in dieser Zeit immer bewusster wurde, dass ihm sein streng lutheranischer Vater den Vornamen des Augustinermönchs mit Bedacht gegeben hatte, wollte nun mehr über diesen mittelalterlichen Mönch wissen. Ihm genügte das fünfteilige Filmwerk, das das Fernsehen der DDR mit Ullrich Thein in der Hauptrolle ausgestrahlt hatte, als Erklärungsmuster nicht. Er glaubte, dass die Verantwortlichen für diese Produktion wenig Spielraum für die Darstellung des wahren Lebens des Thüringers gehabt hatten. Dies stimmte zwar, wie es sich herausstellte, so nicht. Aber Wauer blieb misstrauisch. Er beschaffte sich einschlägige Literatur und vertraute lieber auf die von ihm selbst recherchierten Quellen. Wie stets in solcher Situation, half ihm dabei Helga.
Nur der Teufel wusste, wo sie immer die passende Westliteratur herbekam. Aber auch der glaubte Wauer mittlerweile nicht mehr alles. Die Broschüren enthielten allerdings einige ins Neudeutsche übertragene problematische Luthertexte. Las die heute noch irgend jemand? Wauer war beeindruckt, was er da heraus bekam.
Eigentlich hatte Luther dasselbe Problem wie er. Er verzweifelte an der Doppelbödigkeit der Moral seiner Kirche, die öffentlich Wasser predigte, die Bergpredigt des Gottessohnes Christus über alles hob und für sich selbst und ihr bevorzugtes Leben eine Unterdrückungshierarchie aufgebaut hatte, die ihresgleichen suchte. Und weil Luther an Gottes und Jesus Christus Existenz glaubte, setzte er die 97 Thesen5 über die Falschheit des Ablasshandels in die Welt, just in dem Moment, als die Erfindung des Buchdrucks eine beachtliche Vervielfältigung seiner Schriften ermöglichte. Und damit begann eine Entwicklung, die er selber nicht vorhergesehen hatte.
Mutig war der Mann gewesen! Er hatte nicht widerrufen, wie viele andere vor ihm, die ebenfalls durchblickten. Und er hatte, getreu seinen Überzeugungen von der Sinnlosigkeit des Zölibates, eine lebenstüchtige adelige Nonne geheiratet und mit ihr ein halbes Dutzend Kinder gezeugt. Aber wie passten zu diesen Taten seine Schriften zu den Juden und zu den aufständischen Bauern?
Hatte er Recht darin gehabt oder war er, wie die meisten Menschen, den Weg von links unten in der Jugend nach rechts oben im Alter gegangen? Mit welcher räudigen Sprache dieser Theologieprofessor über Juden und Bauernaufstände herzog, war schon ebenso außerordentlich, wie seine Sprachmächtigkeit bei seinen Bibelübersetzungen, mit denen er den Deutschen endlich eine einigermaßen einheitliche Schriftsprache gegeben hatte.
Konnte Martin Luther für Martin Wauer ein Vorbild sein? In einer Hinsicht wohl schon: Er fiel niemals um! Er war nur sich selbst treu, mitsamt seiner unbegreiflichen Frömmigkeit. Wauer wollte es sich merken.
In der Parteilehrjahrsdiskussion war Wauer der Bestvorbereitete. Uwe Singer und Fritz Rauch waren dennoch nicht dankbar für Wauers Beiträge. Sie schwammen im faktischen Nichtwissen. Den übrigen Genossen, vielleicht aber sogar ihnen als Parteileitung des Betriebes, wurde der Aktualitätsbezug des Lutherschen Lebens ziemlich offenbar. Fing hier die Zukunft an?