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6.

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M.S. hatte die Dinge im Betrieb so organisiert, dass Wauer nach seinem Sommerurlaub ab dem 1. September des Jahres auf der Baustelle des Industriekomplexes West in Frankfurt-Oder beginnen konnte. Mit Barbara war der zukünftige Bauleiter anlässlich der Osterfeiertage, zu denen er dem Sohn in der Oderstadt einen Besuch abgestattet hatte, übereingekommen, dass er in jenem Jahr Lothar zu einem Zelturlaub nach Strebske Pleso in die Hohe Tatra mitnehmen könne. Der Junge freute sich schon darauf. Immerhin würde er da bereits elf Jahre alt sein, da konnte man mit einem Kind schon einiges unternehmen. Und Campingurlaub war für einen Jungen immer spannend.

Es gab dann doch noch zwei unschöne Auseinandersetzungen im Betrieb. Eine mit dem Kaderchef, der weiterhin eine Erklärung verlangte, dass Wauer jeglichen Kontakt mit seinem Cousin Robert abbrechen sollte. Wauer weigerte sich jetzt mit einer gewissen freudigen Boshaftigkeit, denn er wollte nicht einsehen, dass er seine Arbeit nur dann machen dürfe, wenn er seine Verwandtschaft verleugne. Schließlich waren sie zusammen mit Lothar und Roberts Sohn Friedhelm die letzten vier männlichen Wauers in der Sippe. Er bot immer wieder an, eine extra Verschwiegenheitserklärung zu dienstlichen Angelegenheiten zu unterzeichnen, obwohl, wie er nicht ohne Bissigkeit bemerkte, dies ja bereits ausführlich im Arbeitsvertrag verankert sei.

Auch der Parteisekretär Fritz Rauch lud ihn noch mal ganz förmlich zu einem Gespräch in seiner Eigenschaft als Genosse ein. Wauer ärgerte sich extrem darüber, dass er auf diese Weise die indoktrinierende Arbeitsweise des Machtapparates über sich ergehen lassen musste.

„Weißt du, in welche Kalamität du uns gebracht hast mit deiner Ablehnung?“, fing Rauch an.

„Wen ‚uns’?“, gab Wauer gallig zurück. „Den Betrieb oder die Partei oder dich?“

Na, zuerst den Betrieb. Schließlich ist das ja kein Pappenstiel für Schäfer, wenn er wegen dir den halben Laden umorganisieren muss“, erwiderte Rauch.

Wauer gewann den Eindruck, dass Rauch in Wirklichkeit wenig Lust auf ein solches Gespräch mit ihm hatte und dass er eher gerade eine Pflichtübung absolvierte. „musste er nicht wegen mir, sondern wegen unserer Genossen in der Normannenstraße. Wenn die mir nicht den Nebenjob aufdrücken wollten, gäbe es wohl kaum Probleme.“ Wauer wollte seinen in der Matthäuskirche in Budapest gefassten Vorsatz durchkämpfen, klar seine Meinung zu sagen und seine kleinbürgerlichen Ängste zu bezwingen.

„Darüber sollst du nicht reden, das weißt du! Es hängt ja wohl eher mit deinem Vetter in München zusammen“, erwiderte der Parteisekretär.

„Mensch Fritz“, holte Wauer aus, „du weißt doch selber, dass wir dann die halbe Republik nicht mehr an irgend etwas Spitzenmäßigen arbeiten lassen könnten. Es gibt noch so viele verwandtschaftliche Beziehungen allenthalben! Wie könnten sonst die Intershops so florieren? Du siehst doch, wie wenig uns die Jahre vor den Besuchsabkommen gebracht haben. Mag sein, dass der Mauerbau eine weitere Millionenabwanderung verhindert hat, aber ohne internationalen Kultur- und Wissenschaftsaustausch und ohne wirkliche Diskussion um gesellschaftliche Entwicklungsfragen werden wir die gewünschte technologische und ökonomische Überlegenheit, von der die da oben immer faseln, niemals hinkriegen. Es gehen immer noch viel zu viele gute Leute weg. Ich sehe nicht, dass irgendwo in unserer Partei Auseinandersetzungen im leninschen Sinne stattfinden. Ich meine, wir müssten aus dem sowjetischen Entstalinisierungsprozess viel mehr gelernt haben.“

„Du machst dir´s wie immer zu einfach, Martin. Denkst du, dass die Gefährlichkeit des internationalen Kapitals übertrieben wird? Du siehst doch, was sie überall, in Chile, in Argentinien, überhaupt in ganz Lateinamerika, derzeit auch in Afrika oder in Vietnam, alles angerichtet haben beziehungsweise gerade anrichten.“

„Ob da in heutiger Zeit ein antifaschistischer Schutzwall als Adaption der Chinesischen Mauer hilft, darf aber bezweifelt werden, oder?“, antwortete Wauer trocken.

„Na gut, ich sehe, du lässt nicht mit dir reden. Vielleicht solltest du dir überlegen, ob du in der Partei noch richtig bist. Darüber solltest du wirklich mal nachdenken.“

Daher weht der Wind also auch, dachte Wauer. Laut sagte er: „Wahrscheinlich habe ich von Lenin mehr verstanden als alle die Kleinbürger, die wir inzwischen in der Partei haben.“

„Ich erwarte, dass du mir wenigstens monatlich einen Bericht über Stimmungen und Meinungen in deinem Kollektiv hochgibst“, sagte Rauch abschließend.

Martin Wauer sagte nichts, sondern sah Fritz Rauch nur eindringlich an. Er war sich sicher, dass er niemandem je Berichte über Stimmungen und Meinungen seines Umfeldes liefern würde. Sollten diese Idioten doch in die abendlichen Berliner Kneipen gehen. Da erführen sie ganz ungeschönte Stimmungen und Meinungen des Volkes.

Und merkwürdig, seit diesem Gespräch mit Fritz Rauch im Mai des Jahres 1983 ließen sie ihn erst mal in Ruhe.

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