Читать книгу Morgenrosa - Christian Friedrich Schultze - Страница 6

3.

Оглавление

Er hatte wenig geschlafen während der nächtlichen Heimfahrt im Zug. Robert, die Inkarnation an Anstand und Freundlichkeit, hatte ihn noch zum Nyugati pu, dem Westbahnhof auf der östlichen Pester Seite, von welchem aber die meisten Züge in Richtung Westen abfuhren, begleitet, noch einen starken ungarischen Kaffee mit ihm getrunken und immer wieder geseufzt und ihn gefragt, ob er sicher sei, die richtige Entscheidung getroffen zu haben und er diese lange vorbereitete Chance wirklich verstreichen lassen wolle. Wauer wunderte sich, dass ihm der Abschied, so schwer er auch war, keine tieferen Schmerzen bereitete. Er war sich auch sicher, dass er Robert in nicht allzu ferner Zeit wiedersehen würde und sprach mit ihm auch darüber. Nach den neuen Abkommen zwischen den beiden deutschen Staaten war es für Westdeutsche leichter, ihre Verwandten in der DDR zu besuchen. Bisher hatten sie sich nur das eine Mal zur Beerdigung von Wauers Vater im März dieses Jahres in Großschönau in Ostsachsen getroffen. Vorangegangen waren die Treffen in Prag und Warschau. Gerade, wenn er an Warschau dachte und an die Gespräche zu dritt mit seiner Geliebten Helga, überkam ihn wieder das Gefühl von Gewissheit, dass es richtig war, im Osten zu bleiben.

Mit dem gleichmäßigen Hämmern der Waggonräder über den Schienenstößen der altertümlich verlegten Bahngleise war er in der ersten Stunde eingeschlummert, dann aber vom Schaffner und den Grenzkontrolleuren zur Tschechoslowakischen Grenze unsanft geweckt worden. Danach konnte er lange nicht mehr einschlafen. Ihm fiel ein, dass er seit dem Polenbesuch im Herbst 1981 wenig aufmerksam gegenüber den Dingen um ihn herum gewesen war. Einerseits war er von der fixen Idee besessen gewesen, nach drüben abzuhauen und er hatte allerhand mit den Vorbereitungen dazu zu tun gehabt. Andererseits saß der Schock des Weihnachtsfestes des vergangenen Jahres, als ihn Helga inmitten der kleinbürgerlichen weihnachtlichen Idylle seiner neu bezogenen Wohnung wegen der Kindsfrage von einer Minute auf die andere verlassen hatte, noch viel zu tief.

Im Grunde, das wusste er im Tiefsten seines Herzens, waren jene ersten Monate des Jahres 1982, als sie ihm so schmerzhaft fehlte und dann auch noch sein von ihm ungeliebter Vater elendiglich an Krebs gestorben war, die Zeit, die ihn zu seinem Entschluss gebracht hatte, die DDR verlassen zu wollen. Barbara, seine Geschiedene, hatte ihm zudem allerhand Schwierigkeiten wegen des Umgangs mit Lothar gemacht. Bis auf ein paar Tage im Sommer des letzten Jahres und zum Begräbnis des Großvaters im März, hatte sie jegliche Besuche unterbunden. Aber Lothar war jetzt zehn Jahre alt und die Zeit war reif, sich wieder, so gut es ging, um einen Umgang mit ihm zu bemühen. Zeit heilt Wunden! Warum sollte sich in dieser Sache nichts bessern lassen?

Natürlich hatten auch die politischen Entwicklungen, vor allem in Polen, dazu beigetragen, dass sich sein Wunsch, dem Arbeiter- und Bauernstaat den Rücken zu kehren, ständig verstärkt hatte. Der polnische General Wojciech Jaruzelski hatte am 13. Dezember unter massivem sowjetischen Druck das Kriegsrecht über Polen ausgerufen und die Solidarnosz1 verboten. Der Westen hatte den NATO-Doppelbeschluss verkündet und in den USA hatte der Schauspieler Ronald Reagan, ein republikanischer Hardliner, die Präsidentschaftswahlen souverän gewonnen. Dieser ordnete sogleich den Bau einer Neutronenbombe an. Eine neue heiße Phase des kalten Krieges zwischen den NATO-Staaten und dem sozialistischen Lager war eingeläutet worden.

Dass der König von Spanien in Madrid durch persönlichen Einsatz einen Putsch francophiler Militärs verhindert hatte, wurde im Osten kaum wahrgenommen. Auch der Falklandkrieg der Engländer und Argentinier um eine Inselgruppe im Südpazifik, auf der es nur wenige einstmals englische Siedler gab, drang kaum ins Bewusstsein der DDR-Bürger.

Für die meisten Menschen in der DDR war womöglich der Besuch des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, den Erich Honecker am 11. Dezember im Schloss Hubertusstock am Werbellinsee empfing, am bedeutsamsten. Die Bürger des antifaschistischen deutschen Staates waren mit den existenzielleren Sorgen ihres täglichen Versorgungskleinkrieges und des Kampfes um die Erfüllung des gerade beschlossenen neuen Fünfjahresplans der Staats- und Parteiführung beschäftigt. Dass in China Hu Yaobang neuer Staatsführer wurde und in Amsterdam und in Bonn Hunderttausende gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert hatten, interessierte sie weniger. Und dass im April Matthias Domaschk, ein Jenaer evangelischer Dissident, festgenommen wurde und kurz darauf unter mysteriösen Umständen im Stasigefängnis verstarb, oder dass der MfS-Hauptmann Werner Teske wegen seiner Vorbereitungen zum Seitenwechsel hingerichtet wurde, erfuhren die DDR-Bürger erst 1990.

Vorläufig schrieb man das Jahr 1982 – nach christlich berichtigter gregorianischer Zeitrechnung. Nach islamischem Kalender war es das Jahr 1402 und nach jüdischer Zeitenzählung das Jahr 5742. Der Maya-Kalender interessierte zu dieser Zeit in der DDR niemanden, denn größere Ereignisse warfen ihre Schatten voraus.

Am 13. November 1983 jährte sich der Geburtstag des mitteldeutschen Reformators Martin Luther aus Eisleben zum fünfhundertsten Male. Die DDR-Führung, durchaus geschichtsbewußt und kulturell beflissen, musste diesem Datum von Weltbedeutung Tribut zollen. Man war gezwungen, irgendwie mit Luther umzugehen, obwohl man bislang nur Thomas Müntzer richtig hatte gelten lassen. Aber auch die Parteiführung war deutsch und es war gut, nicht nur Karl Marx, Friedrich Engels, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu den deutschen Revolutionären zählen zu können. Mit Goethe, Schiller, Lessing und Herder war es ja auch irgendwie gegangen.

Und so beobachtete nicht nur Martin Wauer, der seinen Vornamen vermutlich wegen seines Vaters Vorliebe für den frommen Reformator bekommen hatte, eine merkwürdige Annäherung zwischen der SED und der Evangelischen Kirche Ostdeutschlands im Rahmen der Vorbereitungen des Lutherjahres 1983.

Zahlreiche Lutherstätten in kirchlichem oder staatlichem Besitz wurden mit erheblichem Kostenaufwand, der für die DDR-Führung nicht einfach aus dem Handgelenk zu schütteln war, restauriert. Mehrere Ausstellungen wurden vorbereitet und ein reger Reiseverkehr zwischen Ost und West setzte wegen der Vorbereitungen für dieses Ereignis ein. Koordination zwischen Staat und Kirche war dringlich, sollte das Ereignis auch ein staatspolitischer Erfolg werden. Bücher wurden gedruckt, Symposien veranstaltet. Sogar das Fernsehen strahlte Sendungen über Luther aus, darunter einen Fünfteiler mit Ulrich Thein in der Hauptrolle, der großen Eindruck auf das gesamtdeutsche Fernsehvolk machte. Was ging in den Köpfen und dem Geiste der Menschen, ausgelöst durch diese Luthermania, wirklich vor?

Die evangelische Kirche war natürlich bestrebt, die Deutungshoheit über Martin Luthers Leben und Werk zu bewahren. Es war zwar nicht das erste Mal, dass man es nicht nur ihr überließ zu interpretieren, welchen geistigen Strom der Thüringer in Bewegung gebracht hatte und vielleicht wieder bringen konnte. Auch die Nazis hatten Luther heroisiert und ihn wegen seiner antijüdischen Schriften in jener Zeit geradezu usurpiert. Aber hatte wirklich nur die Kirche das Recht zu sagen, wer Luther war oder gewesen sein könnte?

Luther war Fundamentalist gewesen. Mit den Pervertierungen der Lehren des Augustinus und noch viel mehr der Bergpredigt durch die katholische Kirche konnte sich der Augustinermönch nach seiner Romreise nicht mehr abfinden. Und heute? Sollten er, Wauer, und viele seiner Genossen, weiter die Pervertierung Marx´scher Revolutionsgedanken durch Lenin und vor allem durch Stalin hinnehmen? War es Luther mit seinen Gedanken von der Freiheit eines Christenmenschen oder die Erfindung des Buchdrucks, oder beides, die letztlich die Aufklärung in Europa in Gang gebracht hatten?

Fest stand: Martin Luther hatte den Deutschen eine einheitliche Schriftsprache geschenkt und schon das allein machte ihn zu einem Giganten der Menschheit, weil es ohne ihn weder Lessings „Nathan der Weise“ noch Schillers „Don Carlos“ oder Goethes „Faust“ gegeben hätte. Wauer staunte, welche geistige Bewegung in die ostdeutsche Gesellschaft durch das bevorstehende Lutherjahr gekommen war. Auch unter den Kollegen und unter den Genossen im Parteilehrjahr nahmen die Diskussionen dazu kein Ende.

Morgenrosa

Подняться наверх