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Martin Wauer war mit dem Nachtzug von Budapest in Berlin angekommen. Die Hauptstadt der DDR, Rumpfstadt mit antifaschistischem Schutzwall gegen Westberlin, Millionenmetropole mit Enklavencharakter, Zentrum von Baudenkmälern der deutschen Kaiserzeit, war sein Zuhause. Der internationale schwedische Fernzug traf mit fünfzig Minuten Verspätung auf dem Ostbahnhof ein. Für wenige Privilegierte, vornehmlich schwedische und andere westliche Staatsbürger, fuhr er via Stralsund und Saßnitz im Bauch der Fähre Trelleborg weiter bis nach Malmö.

Als Wauer mit seinem kleinen Rollkoffer im Schlepptau aus dem ungemütlichen, nur mit düsteren Farbanstrichen versehenen, um diese frühe Zeit wenig bevölkerten, Hauptbahnhof der DDR-Hauptstadt hinaus ins Freie trat, nieselte es und die Wolken hingen tief. Dieses allgemeine Grau störte seine Stimmung merkwürdigerweise nicht. Im Gegenteil, er war froh, dass er diesen Entschluss gefasst und sich durch seinen Cousin daran nicht hatte irre machen lassen.

In Ostberlin mutete das Wetter eher herbstlich an und es war merklich kühler, als es in der hochsommerlichen ungarischen Metropole gewesen war, die er erst gestern Abend verlassen hatte.

Es war ein schmerzlicher und bedrückender Abschied gewesen. Aber er fühlte sich dennoch erleichtert wie nach einem gelungenem Befreiungsschlag. Die Lähmung der Resignation, die sein Gemüt seit mehr als drei Jahren in einer Art babylonischer Gefangenschaft gehalten hatte, war wie durch Zauber verschwunden. Er stand schwer in der Schuld Roberts, das wusste er. Auch war ihm klar, dass sein lieber und besorgter Vetter nach all den Jahren und den oftmals unter schwierigen Bedingungen organisierten Begegnungen, die stets unter Einhaltung konspirativer Regeln stattfanden, kaum verstehen konnte, dass er nach all dem, so kurz vor dem fast sicheren Ziel, noch absprang. Sie waren so nahe am Ergebnis ihrer langen Vorbereitungen gewesen! Ganz abgesehen davon, dass der österreichische Pass, den Robert besorgt hatte, auch nicht gerade billig gewesen war.

Umso krasser war die Kehrtwende, die Martin Wauer nach tagelangem Warten in der ungarischen Hauptstadt auf den Cousin und die von ihm engagierten Verbindungsleute plötzlich, nachdem sie endlich bereit gestanden hatten, vollzogen hatte. Aber nachdem sich der Mann jahrelang mit seiner Desillusionierung in der realsozialistischen Gesellschaft der DDR herumgequält und seine Flucht in den Westen vorbereitet hatte, wusste er in der lebensfrohen Magyarenstadt eines Abends nach jener Bachschen h-moll-Messe in der Pester Matthäuskirche plötzlich, was und wohin er wollte.

Er gehörte nicht in diesen abendländischen Kapitalismus, Willy Brandt hin und Ronald Reagan her. Es musste im Osten etwas passieren. Er war nicht der einzige, der dieses Gefühl hatte. Auch in den Diskussionen unter den Genossen ging es seit der Ausbürgerung Wolf Biermanns und dem darauf folgenden Ausreisestrom beliebter und bekannter Künstler und den Auseinandersetzungen mit anders denkenden Sozialisten wie Robert Havemann um wichtige Fragen der weiteren Gestaltung eines demokratischen Sozialismus, obwohl diese Vokabel in den formelhaften Verlautbarungen der Partei- und Staatsführung neuerdings nicht mehr angewandt wurde.

In Polen hatten bereits ernsthafte politische Kämpfe stattgefunden und selbst in der Deutschen Demokratischen Republik konnten sie einem nicht mehr alles verbieten. Es kam, darüber war er sich im klaren, darauf an, was sich in der Sowjetunion entwickeln würde. Stalin und Mao waren immerhin längst tot. Und die Vietnamesen würden den von den US-Amerikanern unterstützten Pol Pot früher oder später niederringen. Die merkwürdigen Worte des alten Lehrers, den sein im März verstorbener Vater, Karl Wauer, hin und wieder zitiert hatte, gewannen jetzt eine ganz andere Bedeutung. Und auch die prophetischen Ahnungen Dostojewskis schienen angesichts der letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ganz allmählich Wirklichkeit zu werden: „Im Osten geht die Sonne auf – im Westen ist ihr Untergang vorbereitet.

Auch wenn sich Wauer noch nicht ganz sicher war, ob mit diesen Weissagungen Russland, China oder die Länder Mittelasiens gemeint waren, konnte man doch mit einiger Aufmerksamkeit spüren, dass seit den Massenstreiks und der Gründung der Solidarnosz in Polen 1980 und seit dem Berliner Appell von Robert Havemann und Rainer Eppelmann Anfang des Jahres, im Osten etwas in Bewegung geraten war. Er würde dabei sein. Das hatte er sich in den Budapester Nächten geschworen. Er würde gegen die Nachtmahre der stalinschen Vergangenheit in den Krieg ziehen und für einen freien Sozialismus kämpfen. Und er würde sich viel mehr als bisher um seinen Sohn Lothar kümmern…

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