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5.

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Sie hatten auf dem dunklen Weg hinunter zur Straßenbahnhaltestelle nichts mehr besprochen. Sie mussten höllisch aufpassen, um in den Schlaglöchern, die sich in den noch vor dem Krieg mit kleinen Steinen gepflasterten und kaum ausgebesserten Pfaden befanden, nicht hängen zu bleiben und auf dem glatten, festgetretenen Schnee nicht auszurutschen. Schäfer begleitete Wauer noch bis zur Haltestelle und wartete höflich, bis die Straßenbahn kam und sein Projektierungsleiter eingestiegen war. Er nickte ihm nur noch kurz zu. Dann verloren sich ihre Blicke.

Kurz danach fuhr Wauer gemeinsam mit seinem Sohn erstmals in den Winterurlaub. Es gab in diesem Februar viel Schnee in der Niederen Tatra. Sie hatten auch sonst Glück mit dem Wetter, denn es war kalt und die Sonne kämpfte sich mehrfach am Tage erfolgreich durch die Wolken. Lothar stand erst das zweite Mal auf Abfahrtsskiern und Wauer staunte, wie schnell ein Kind diesen Sport erlernen kann. Das Hotel war einfach, aber gediegen und freundlich, und so hatten die beiden eine gute Zeit. Wauer sagte dem Sohn noch nichts davon, dass er bald in seiner Stadt arbeiten würde. Noch war nicht ganz klar, wann diese Umsiedelung erfolgen würde.

Wie es von der Hexe Helga nicht anders zu erwarten gewesen war, brachte sie genau zum Internationalen Frauentag ihre Tochter Isabelle zur Welt. Sie hatte Wauer nach seiner Rückkehr aus dem Winterurlaub lediglich telefonisch mitgeteilt, dass das Kind Anfang März zur Welt kommen würde und dass sie für die Organisation dieses Ereignisses ihren Mann Eberhard verantwortlich gemacht habe. Weitere Begegnungen müssten leider bis danach verschoben werden. Nach Erledigung der Angelegenheit würde sie sich bei ihm melden. Solange müsse er sich in Geduld üben. Wauer hatte sie danach nicht mehr erreicht. Am Telefon hatte sich nach einem abendlichen Versuch, als am Tage niemand auf das vereinbarte Klingelzeichen ´rangegangen war, Herr Nowak gemeldet. Wauer hatte aufgelegt.

Am 8. März 1857 hatte in New York ein spontaner Streik von Textilarbeiterinnen stattgefunden, welche schon damals für mehr Gleichberechtigung, höhere Löhne und zumutbare Arbeitsbedingungen kämpften. Dabei kamen viele Frauen ums Leben, weil dieser Streik schlicht und einfach zusammengeschossen wurde. Fünfzig Jahre danach erinnerte sich die aufkommende Arbeiterbewegung der ganzen Welt wieder dieses Vorfalls. Früher feierte man in verschiedenen Ländern Europas den Feiertag der Arbeiterinnen am 19. März, dem Datum nach dem Gedenktag für die Märzgefallenen der Revolution von 1848 und der Pariser Commune 1871. Am 8. März 1917, gemessen nach dem Gregorianischen Kalender, streikten in Russlands Petersburg die Arbeiter- und Soldatenfrauen und lösten damit die Februarrevolution aus. Es war eine bulgarische Delegation, die auf der Zweiten Internationalen Konferenz kommunistischer Frauen 1921 in Moskau vorschlug, fortan den 8. März international einheitlich als Tag der Frau zu begehen.

Und so geschah es dann. Doch nur wenige im Arbeiter- und Bauernstaat kannten diese Geschichte. Und im Westen berief man sich lieber auf die New Yorkerinnen, obwohl die blutige Niederschlagung dieser Demonstration kaum weniger skandalös war, wie die Ereignisse um die Februarrevolution in Russland 1917. Inzwischen war der Internationale Frauentag in der DDR zu einem fröhlichen Freizeittag für DDR-Arbeiterinnen mit reichlich Alkohol und gesteigerten Sexeskapaden avanciert. Frauen wie Männer begingen ihn im Arbeiter- und Bauernstaat ganz ähnlich, wie die Leute in katholischen Gegenden den Rosenmontag.

Helga Nowak hatte mit Wauer wegen des Namens ihrer Tochter keine Rücksprache genommen. Als sie ihn am 10. März aus dem Krankenhaus Friedrichshain anrief und ihn zu einem Besuch einlud, sprach sie von Isabelle bereits mit solcher Selbstverständlichkeit, als sei stets klar gewesen, dass das Kind ein Mädchen wird und nach der zu raketenhaftem internationalen Ruhm gekommenen Nichte des ermordeten früheren Präsidenten Salvador Allende, Isabel, benannt werden würde.

Der Roman Das Geisterhaus, der in unnachahmlicher Weise die Geschichte Chiles und die Errichtung der Pinochetdiktatur nach fast 160 Jahren Demokratie in diesem Land beschreibt, war in einem Triumphzug ohnegleichen um die Welt gegangen und innerhalb eines Jahres in dreizehn Sprachen übersetzt worden. Soeben in Deutschland erschienen, hatte Helga das Werk förmlich verschlungen und dabei eine tiefe Identifikation mit der chilenischen Schriftstellerin empfunden.

Merkwürdigerweise hatte die DDR-Führung gute Beziehungen zu dem fünftausend Kilometer langen Andenstaat, obwohl Allende einen demokratischen Sozialismus und nicht die Diktatur des Proletariats verkündet hatte und in Chile keineswegs die gesamte Wirtschaft verstaatlicht war. In ihrer umfassenden Repression Andersdenkender ähnelte Ostdeutschland eher dem Pinochet-Regime, wenn auch niemand behaupten konnte, dass die Partei- und Staatsführung derart umfangreiche Folterwellen wie die chilenische Junta übers Land geschickt hatte. Aber die Mauer, den die Partei Antifaschistischer Schutzwall nannte, war eine ebenfalls sehr weitgehende Maßnahme, die die DDR-Bürger in ihren Freiheiten erheblich einschränkte. Das sahen auch manche in den Diskussionen im Parteilehrjahr so und Wauer gehörte zu ihnen.

Am Sonnabend, dem 12. März 1983, fuhr Wauer vormittags hinüber zum Krankenhaus Friedrichshain, fragte sich zur Entbindungsklinik durch und meldete sich beim Pförtner an. Helga kam nach einer Weile im Bademantel herunter, begrüßte ihn mit einem fröhlichen Kuss, als wenn nichts gewesen wäre, und sie sich erst vorgestern, und nicht bereits vor vier Wochen, das letzte Mal gesehen hätten. Ihr Gesicht sah etwas angeschwollen aus und trug noch Spuren von den Atempressungen, die außerdem dunkle Augenringe erzeugt hatten. Außerdem war im linken Auge ein Äderchen geplatzt und der Augapfel schimmerte deshalb rosa. Sie meinte, dass sie sich schon wieder gut fühle. Er merkte ihr auch sonst nichts an.

Allerdings verdeckte der Bademantel ihren Körper. Wauer hätte zu gern gesehen, wie ihr Bauch nun nach der Geburt aussah. Den zeigte sie ihm aber nicht. Stattdessen berichtete sie ihm fröhlich, dass gerade heute am frühen Morgen die Milch eingeschossen sei und er ihre Brüste nicht wieder erkennen würde. Ob er mal Muttermilch trinken wolle.

Angesichts der anderen Besucher im Raum wollte Wauer das nicht, ließ sich aber die rechte Brust zeigen, die nicht viel größer als sonst war, aber nun eine unnatürlich große dunkle Brustwarze hatte. Merkwürdig, dachte er, dass der Mann diesen archaischen Trieb zur Brust behalten hat. Allein schon vom Hingucken wird er regelmäßig wieder geil. Dabei ist es eine nichts weiter als eine Milchdrüse mit ebendieser Funktion, die dieser Körperteil bei seiner Geliebten gerade angenommen und dadurch seine Anmut vorübergehend eingebüßt hatte. Sie mochte ihm seine Gedanken an seinem etwas verstörten Gesicht angesehen haben.

„Sieht ziemlich bombastisch aus, nicht“, meinte sie.

„Ja, Wahnsinn. An so was hat man als Baby auch mal dran gehangen und jetzt guckt man den Weibern zwanghaft wegen ihrer Titten und ihrer Beine nach. Ziemlich beunruhigender Gedanke, dass man so auf die Arterhaltungsattribute programmiert ist.“

„Du musst es natürlich gleich wieder so abstrakt sehen“, entgegnete sie amüsiert. Dann erzählte sie ihm den Verlauf der Geburt und dass sie sich vorsorglich den Damm hatte schneiden lassen in der Befürchtung, dass er reißen könne. Und das wollte sie auf keinen Fall haben, denn es sollte ganz ästhetisch wieder zusammenheilen, er wüsste schon warum. Eberhardt hätte brav die halbe Nacht gewartet. Immerhin habe es sechs Stunden gedauert und es sei alles in allem ein ganz schönes Arschaufreißen gewesen – so drückte sie sich wirklich aus.

Übrigens sei sie jetzt vollkommen rasiert und sie würde sich von der netten Schwester, bevor sie entlassen würde, noch mal nachrasieren lassen, damit sie es ihm zeigen könne. Er könne dann ja sagen, ob sie es so lassen solle. Oder man könne ja auch mal öfters einen neuen Intimbereich kreieren.

Wauer war ziemlich perplex, dass sie sich mit ihm gleich wieder über Sex unterhielt. Er schloss daraus, dass es ihr den Umständen entsprechend wirklich ganz erträglich ging und dass sie nicht, wie manche Frauen, die Männer wegen deren Benachteiligung, keinen Uterus zu haben und damit keine Kinder kriegen zu müssen, nach solch einem Geburtsgewaltakt zu hassen begann.

„Kann ich das Kind denn mal sehen“, fragte er

„Da müssen wir die Stationsschwester fragen gehen. Wir kriegen die Babys ja nur zu den Mahlzeiten. Das ist auch so was, was dringend geändert werden müsste. Wir liegen hier vier Weiber auf einem kleinen Zimmer. Da würden die Babyboxen gar nicht mit hineinpassen. Aber man möchte sie immer bei sich haben. Sie fehlen einem enorm. Den anderen geht das genauso. Sie haben hier ziemliche Angst vor Infektionen. Sie wollen Weltmeister in der Überlebensrate werden.“

Als sie nach oben gingen, bekam die frischgebackene Mutter die Erlaubnis, dem „Bekannten“ den Säugling vorzuführen. Er wurde aus dem Babysaal herausgebracht und Wauer konnte das verschrumpelte, zart gelblich-rosa schimmernde Menschenbündel, welches ziemlich lange schwarze Haare auf dem Kopf hatte, kurz betrachten. Ob ich auch so hässlich gewesen bin, schoss es ihm durch den Kopf. Allerdings war ihm in der kurzen Minute auch aufgefallen, dass Isabelle herrliche blaue Augen und außergewöhnlich lange Fingerchen an ihren winzigen, vielleicht daumengroßen Händchen hatte.

Er versicherte seiner Geliebten, dass er nie ein schöneres Baby gesehen habe. Freilich waren es noch nicht viele, zu denen er Vergleiche hätte anstellen können und an das Aussehen seines Sohnes Lothar als Frischgeborener konnte er sich schon gar nicht mehr erinnern.

Helga war zufrieden. Sie erfuhr auf Anfrage, dass man sie kommenden Montag entlassen werde und teilte dies Wauer mit. Dann wollte sie wieder in ihr Bett und informierte ihn, dass am Nachmittag Eberhard käme, wie übrigens jeden Tag, sie sich aber freuen würde, wenn er Morgen, am Sonntagvormittag, noch mal zu Besuch erschiene, denn wenn sie dann zuhause sei, wäre es in den ersten Wochen wohl ziemlich schwierig, vernünftige Treffen zu organisieren. Was die Umstellung bedeute, wenn man einen Säugling zuhause habe, wisse sie ja nur aus Büchern und könne es sich noch nicht so recht vorstellen.

Als Wauer wieder zurück in seiner Junggesellenwohnung war, an seinem Wodka-Cola nippte und dazu das Doppelviolinkonzert von Bach aufgelegt hatte, wurde ihm ziemlich schnell klar, dass es mit ihr nie mehr so wie früher werden konnte. Ein Kind verändert alles!

Morgenrosa

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