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ОглавлениеEr musste nicht lange auf die S-Bahn in Richtung Ostkreuz warten. Um diese frühe Zeit am Tage waren die Waggons nahezu leer. Was würde er als nächstes tun? Hatte man ihn in Budapest beobachtet? Würde Manfred Schäfer ihm Bescheid geben, ob der Stasibeauftragte des Betriebes einen besonderen Überwachungsauftrag für ihn hatte? Wie würde Helga ihn empfangen? Würde sie sich nach den Monaten, die seit ihrem letzten Zusammensein vergangen waren, überhaupt noch mit ihm treffen, oder hatte sie schon längst einen anderen neben ihrem Mann, den sie nach dem Eklat am Heiligabend 1981 wohl doch nicht verlassen hatte.
Wauer war seinem Chef dankbar, dass der sich für einen Telefonanschluss für seine kleine Wohnung eingesetzt hatte. Immer wieder hatte der Generaldirektor helfend eingegriffen, seit Wauer von Schwarze Pumpe in den Berliner Baubetrieb gewechselt und dort den Projektierungsbereich für den Hochbau übernommen und weiter aufgebaut hatte. Besonders in den Monaten, als er sich von Barbara und Lothar trennte, einschließlich der Zeit der Scheidung und des Kampfes um den Kindesumgang, hatte die verständnisvolle Unterstützung des Chefs und die unkomplizierte Atmosphäre im Leitungszirkel gut getan. Dem Einfluss Weißheimers und M.S. war es auch zu verdanken, dass er nicht allzu lange auf diese Einraumwohnung im vierten Stock eines Altbaus in Nähe des S-Bahnhofs Warschauer Straße warten musste. Zwar war die Fahrt mit S- und U-Bahn mit Umsteigen auf dem Alexanderplatz in die Projektierungsbüros des Kombinates, die in Mitte lagen, etwas länger als vordem. Aber Wauer wusste, dass es viele brave Bürger und sogar Genossen gab, die trotz langer Anmeldezeiten immer noch weit hinten auf den Wartelisten für eigenen Wohnraum rangierten.
Ein Privatanschluss eines Telefons war ein ebenso großes Privileg und konnte für einen Normalbürger wie ihn nur mit außerordentlicher dienstlicher Notwendigkeit begründet werden. Es mochte wohl richtig sein, dass es manche für besser hielten, nur aus Telefonzellen zu telefonieren. Aber dort konnte man keine Anrufe empfangen und außerdem war mindestens jede zweite öffentliche Fernsprecheinheit defekt. Richtig stolz aber war Wauer darauf, dass er mit Hilfe Weißheimers sogar in den Besitz eines Tastentelefons gekommen war.
Als er die Wohnungstür aufgeschlossen und den kleinen Vorraum betreten hatte, beschlich ihn einen kurzen Augenblick das Gefühl, dass er nicht allein sei. Er musste lächeln und beruhigte sich gleich wieder. So wichtig war er für die Organe nun auch nicht! Und versuchte Republikflucht war ihm im Fall seiner Dienstreise nach Budapest kaum nachzuweisen. Er hatte alle dienstlichen Aufträge im Partnerwerk erledigt und war sogar einen Abend mit Ferenc und Kati im Budapester Nachtleben unterwegs gewesen. Sie hatten ihn erst in die Oper und dann in einen der unvermeidlichen Weinkeller mit ungarischer Zigeunermusik eingeladen.
Das Hotel, in dem er gewohnt hatte, hatten die Budapester Kollegen gebucht und auch bezahlt, so war das auf Gegenseitigkeit üblich. Die Dinge hatten also nach außen ihre vollkommene sozialistische Ordnung.
Das Westgeld, welches Robert nicht hatte wiederhaben wollen, musste gut versteckt werden, falls man ihn doch überwachte. Und das schizophrene Reden, welches man in der Öffentlichkeit und unter Kollegen pflegte, musste am Telefon eben zur Perfektion getrieben werden. So hoffte er, dass im Betrieb alles wie bisher gewohnt weiterging. Schließlich verstand er sich mit den Kollegen und seinem Chef wirklich sehr gut und selbst mit dem Parteisekretär gab es so etwas wie ein kollegiales Verhältnis.
Es war nicht so, dass man in den Parteiversammlungen überhaupt nichts sagen konnte. Nur wenn man als Dauerstänkerer aufzufallen begann, war der betriebliche Sekretär erst mal verpflichtet, ein klärendes Gespräch zu führen. Solch eine Unterhaltung war natürlich absurdes Theater, denn weder dieser kleine Funktionär der Parteigruppe, noch der abweichlerische Genosse sagten auch nur annähernd das, was sie wirklich dachten. Und Fritz Rauch war weder ein Stalinist noch ein wirklicher Denunziant, so dass solche Pflichtübungen zwar Zeit kosteten, aber niemandem etwas schadeten.
Wauer schmiss sein Köfferchen auf das kleine Ledersofa in seinem Arbeitszimmer, inspizierte kurz Schlafzimmer, Wohnküche und Bad, holte die Post aus dem Postkasten und begann dann auszupacken. Er nahm die Mappe aus dem Koffer und begann, die Scheine der westdeutschen Währung vorsichtig aus ihren Verklebungen zwischen den Blättern der Unterlagen, die er für seine Dienstberatungen in Budapest benötigt hatte, zu lösen und zählte nochmal dieses Geld. Es waren zweitausend Westmark, ein kleines Vermögen für einen Ostangestellten, wenig für einen Westmanager wie Robert.
Er machte ein Bündel aus den Scheinen, spannte einen Gummi darum und ließ es in die Vase fallen, die in der oberen Etage seines Bücherregals stand. Ob das ein gutes Versteck war, bezweifelte er selber. Er hoffte, dass ihm bald ein besseres einfiel. Den teuer erworbenen österreichischen Pass mit sich zu führen, hatte er sich nicht getraut. Sie vernichteten ihn mit widersprüchlichsten Gefühlen gemeinsam auf der Margareteninsel, indem sie ihn feierlich verbrannten. Er war ziemlich unruhig und darauf gespannt, was ihm die nächsten Wochen bringen würden. Er würde am frühen Abend versuchen, Helga zu erreichen. Nachdem er seine Reiseutensilien aufgeräumt und die Wohnung gelüftet hatte, setzte er sich hin, und schrieb einen Brief an Barbara und Lothar, die seit zwei Jahren in Frankfurt an der Oder lebten und arbeiteten. Er bat sie, möglichst schnell einen Termin zu nennen, wann er ein Vaterwochenende mit Lothar, möglichst in Berlin, verbringen konnte und schrieb die dienstliche und die private Telefonnummer dazu.
Er klebte den Brief zu, pappte eine Briefmarke darauf und machte sich zum Ausgehen fertig, um den Umschlag zum Postkasten bringen zu können. Er musste auch noch Lebensmittel in der HO-Halle einkaufen, denn der Kühlschrank war leer. Er hatte ihn, bevor er nach Ungarn aufgebrochen war, ordentlich abgetaut und mit offener Tür stehen lassen. In den nächsten Wochen musste er alles Inventar wieder ranholen, welches er vor seiner Abreise verkauft oder anderswo untergebracht hatte. Eine aufreibende Aufgabe!
Morgen jährte sich der Mauerbau zum einundzwanzigsten Male.