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2.

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„Genosse Wauer, du weißt sicher, dass du hier im Betrieb von den Genossen und Kollegen sehr geschätzt wirst“, begann der namenlose Mann, der zwanglos an Uwe Singers mächtigem Besprechungstisch lümmelte und Martin Wauer eingehend musterte, ohne irgendwelche Zurückhaltung zu üben. Der Kaderleiter selber war nicht anwesend, obwohl er diesen Termin durchgestellt hatte. Dafür nahm der neue Parteisekretär an der schon Ende August avisierten Besprechung teil.

Der Verbindungsmann, der hier für den Betrieb die DDR-Staatssicherheit repräsentierte, hatte sich nicht vorgestellt und Wauer wunderte sich darüber, dass alle, auch er selbst, diese Machtdemonstration wie selbstverständlich über sich ergehen ließen. Niemandem, auch ihm nicht, würde es einfallen, den Genossen von „der Firma“, wie man diese Behörde, wenn man unter sich war, im allgemeinen Umgangston flapsig betitelte, zu bitten oder gar aufzufordern, sich vorzustellen.

„Na ja, dass ich nach all den Jahren nicht gerade unbeliebt bin, weiß ich“, entgegnete er, indem er sich bemühte, seine Abneigung nicht zu zeigen.

„Du wirst auch besonders wegen deiner konstruktiv kritischen und direkten Art gelobt, vor allem vom Genossen Schäfer“, fügte der sehr korrekt gekleidete, mittelgroße, vierschrötige Mann hinzu. Ein großer Kopf mit schlohweißem Haar krönte seinen massigen Leib. Seine Aussprache war die, die Wauer von in Berlin eingewanderten Schlesiern kannte, und er rollte das „R“ in der charakteristischen Art dieser Landsleute. Der Stasimann mochte schon über sechzig Jahre alt sein, genau ließ sich das nicht ausmachen, da er ein glattes Gesicht mit nur wenigen Fältchen um Mundwinkel und Augen und den rötlichen Teint östlicher Bauersleute hatte. Der Tschekist wirkte nicht unfreundlich, jedoch lächelten seine Augen nicht, wenn er sprach.

„Der Genosse Wauer übt meist die heftigste Kritik in Bezug auf Mängel, die die Arbeitsproduktivität in unseren Bereichen betreffen. Er wurde schon zwei Mal als Aktivist und einmal zusammen mit seiner Brigade als Kollektiv der sozialistischen Arbeit ausgezeichnet“, warf Fritz Rauch beflissen ein.

Als ob er das nicht schon alles wüsste, dachte Wauer und er fing an, sich innerlich aufzuregen über die unwirkliche, schizophrene Atmosphäre, die infolge dieser nichtssagenden Floskeln plötzlich im Raum vorherrschte.

„Es besteht wohl hier allgemein kein Zweifel, dass ich stets für den Frieden und die Erhöhung der Arbeitsproduktivität in unserem Staat eintrete. Besonders übrigens für die Verbesserung der Arbeitsmoral!“, hörte er sich plötzlich sagen, erschrak sogleich leicht wegen des sarkastischen Tons, den er angeschlagen hatte und bemühte sich dann, den Stasimann anzulächeln.

„Ja, ja“, sagte dieser gelangweilt, „das hörte ich ja eben schon. Die Frage, die mich interessiert ist, ob du nicht noch mehr für unsere Republik tun kannst. Seit dem KSZE-Prozess legt unsere Partei- und Staatsführung, wie du ja wohl weißt, gesteigerten Wert auf engagiertere Mitarbeit vor allem kritischer Leute, sofern ihre Kritik konstruktiv ist. Das ist manchmal nicht so leicht zu unterscheiden, ob es sich um subversive Diskussion oder um vorwärts bringende Beiträge handelt.“

„Was denn mehr? Ich engagiere mich schon immer mehr als viele andere. Manche reden auch nur sozialistisch daher. Wenn man dann guckt, was sie für Arbeit abliefern, hält sie leninschen Forderungen eher weniger stand“, erwiderte Wauer, Sicherheit gewinnend.

„Ja, die leninschen Prinzipien. War ein bisschen schwierig, die Sache zwischen Lenin, Trotzki und Stalin. Vielleicht war es ganz gut, dass es Dzerzhinsky und Berija gab. Was meinst du?“, erwiderte der Genosse der Firma und grinste.

„Na ja, Stalin und Berija haben im Spiegel der Geschichte wohl nicht gerade für den wirklichen Sozialismus gestanden“, gab Wauer, im vollen Bewusstsein, dass er sich damit auf einen schmalen Grat begab, kampflustig zurück. Nikita Chruschtschow sollte zum 20. Parteitag der KPDSU nicht umsonst mit diesen beiden abgerechnet haben.

„Wir brauchen auch keine Duckmäuser heutzutage. Aber die Welt ist schlecht und der amerikanische und westdeutsche Imperialismus sind noch immer stark. Sie zwingen uns zu Rüstungsanstrengungen, die wir dringender für die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern benötigen würden. Und sie nehmen über die Medien und alle möglichen anderen Kanäle Einfluss auf unseren Staat. Du siehst ja, was gerade in Sachen „Lutherjahr“ und Raktenbeschluss läuft. Das sind Dinge, die gar nicht spaßig sind. Und manche sind auch bisschen naiv in ihrer Vorstellung, was da seit dem Papstbesuch in Polen und Reagens Berlinbesuch wirklich läuft. Nachdem, was mir der Genosse Singer erzählte, als ich ihn fragte, erscheinst du manchmal etwas blauäugig. Kann das sein?“

„Wenn ich geradlinig bin, muss das ja nicht blauäugig sein, oder woraus schließt man sowas? Findest du mich auch naiv, Fritz?“

Der gutmütige neue Parteisekretär wand sich fast sichtbar in dieser unangenehmen Situation. „Ich mag ja, dass du manchmal so heißblütig bist. Viele andere sagen gar nichts oder nicht das, was sie denken“, äußerte er schließlich.

Es entstand eine Pause.

„Unser Verein möchte dich zur Mitarbeit haben“, sagte der namenlose Genosse plötzlich ohne Übergang. „Du hast einen Cousin in München, der arbeitet bei so einer großen Chemiebude. Du schreibst dich mit ihm, wie wir wissen, und hast dich voriges Jahr in Warschau mit ihm getroffen. Du arbeitest hier aber in einem sicherheitsrelevanten Bereich und niemand weiß, für wen dein Cousin noch tätig ist. Also musst du die Verbindung zu ihm abbrechen oder dich dem Staat gegenüber so verpflichten, dass wir was von ihm erfahren, er aber nichts über diesen Betrieb hier.“

„Ich habe nicht die Absicht, Geheimagent zu werden!“, warf Wauer nach kurzer Überlegung ein. Außerdem liegt meine persönliche Geheimhaltungserklärung bereits in der Kaderakte. Wenn ich dagegen verstoßen würde, hätte das ja wohl arbeitsrechtliche und sogar strafrechtliche Konsequenzen.“

„Das meine ich doch nicht!“, fuhr der Genosse unwirsch dazwischen. „Es geht darum, verlässlichere Informationen über die Zuverlässigkeit bestimmter Genossen und Kollegen zu erhalten und darüber, wie unser sozialistischer Bewusstseinsstand wirklich ist. Was drüber in den Zeitungen steht, wissen wir schon.“

Jetzt war es also heraus. Wauer überlegte hektisch. Was konnte er ihnen schon sagen, was sie noch nicht wussten? Was passierte, wenn er eine Zusammenarbeit ablehnte? Gab es irgendeine schlaue Ausrede, die ihn aus dieser Situation herausbringen konnte. Denn eins wusste er aus seinen Gesprächen mit Weißheimer, dass eine Arbeit für die Stasi jegliche persönliche Freiheit zum Erliegen brachte. Er konnte nicht mehr reisen, wie er wollte, nicht einmal mehr im Ostblock. Er konnte sich nicht mehr mit Robert in Prag oder gar in Berlin treffen. Und über wen sollte er wohl berichten? Zum Beispiel auch über Freunde, Kollegen, seine Geliebte und seine Exfrau?

Gesprächssplitter mit Greif fielen ihm ein. Und eine Bemerkung seines Vaters, der fünf Jahre bei den „Bolschewiken“, wie er sie unbeirrt und unbelehrbar konstant benannt hatte, in Gefangenschaft gewesen war: „Trau´ den Bolschewiken nicht, mein Großer“, hatte er einmal in einem Anflug von Mitteilsamkeit zu ihm gesagt, „die haben sich alle gegenseitig umgebracht. Nur Stalin ist geblieben. Denen kannst du nur entkommen, wenn du stur und herrschsüchtig ´njet´ sagst. Das verstehen sie und akzeptieren es sogar meistens, denn sie sind Russen.“

„Ich glaube nicht, dass ich euch was nützen kann. Und ich habe auch, ganz ehrlich, keine Lust für eine solche Arbeit. Ich kann mich nur noch einmal verpflichten, keinerlei Betriebsgeheimnisse nach draußen zu geben, was eigentlich selbstverständlich ist“, sagte Martin Wauer dann bedächtig. „Aber ansonsten möchte ich mich hier auf meine Arbeit konzentrieren, das nützt unserer Gesellschaft, glaube ich, am meisten.“

Der Mann von der Normannenstraße lächelte fast unmerklich, sagte aber nichts. Fritz Rauch sagte: „Du brauchst doch gar nicht mehr zu tun, als hin und wieder über Stimmungen und Meinungen in deinem Umfeld zu berichten.“

„Das ist doch wohl deine Aufgabe als Parteisekretär unserer führenden Partei. Denn das ist ja wohl auch der Sinn von Politik, Stimmungen und Meinungen der Bevölkerung zu analysieren und ernst zu nehmen“, entgegnete Wauer mit heftigerem Tonfall, als er eigentlich gewollt hatte.

„Ja, klar“, sagte der Stasimann, „aber es geht um mehr. Deshalb wäre es schon gut, wenn du mir, bevor wir den Konvent aufheben, wegen der Geheimhaltungsfragen hier mal was unterschreiben würdest.“ Dabei schob er Wauer ein Papier im A-5-Format und einen Kugelschreiber herüber und sah in kalt an.

Wauer nahm sich trotz seiner inneren Aufregung die Zeit, den kurzen Text durchzulesen. Die Note lautete, dass er, der Unterzeichner, sich verpflichtete, als informeller Mitarbeiter Stillschweigen über seine Tätigkeit gegenüber jedermann zu üben. Das genau also wollte dieser Genosse von ihm! Er wusste, wie in einer plötzlichen Erleuchtung, dass er auf keinen Fall unterschreiben durfte.

Er blickte eine Weile vor sich hin, bevor er sagte: „Ich werde weder informeller noch direkter Mitarbeiter deines Ministeriums. Dafür sind andere zuständig.“ Es war ein klares „Njet“.

„Na gut, wenn du es dir noch überlegst, kannst du ja Bescheid geben. Wir brauchen nämlich genau solche Leute, wie dich. Oder ist deine Loyalität zur Partei doch nicht so unumstößlich, wie deine Genossen hier behauptet haben?“, sagte der Namenlose leise und ruhig, aber mit sarkastischer Schärfe in der Stimme. „Du kannst wieder an deine wichtigere Arbeit gehen. Ich habe mit dem Genossen Rauch noch was anderes zu bereden.“

Martin Wauer verabschiedete sich steif. Ihn erfasste ein Gefühl, bei dem er sich wie neben sich stehend empfand. Zu Fritz Rauch sagte er mit trockenem Hals: „Du könntest ja dann vielleicht noch bei mir vorbei kommen.“

Der Parteisekretär sagte nichts und Wauer verließ das Zimmer.

Fritz Rauch war am darauffolgenden Nachmittag nicht zu ihm in die Projektierungsabteilung gekommen. Martin Wauer fand keine innere Ruhe mehr, um an seinen Aufgaben irgend etwas machen zu können und beschloss, nach Hause zu gehen. Draußen lockte ein sonniger Oktobertag. Die Strahlen der tief stehenden Sonne hatten für kurze Zeit in sein Arbeitszimmer geschienen und spiegelnde Reflexe auf sein Zeichenbrett gezaubert. Nur wenn er sofort losginge, würde er draußen noch Reste von ihr zu sehen bekommen.

Er schloss ab und verabschiedete sich kurz von Frau Wolfhardt, der Bereichssekretärin, sagte ihr, dass er noch etwas in der Karl-Marx-Allee zu besorgen habe und stieg die Treppen der zwei Stockwerke hinunter. Er wandte sich aber nicht in Richtung U-Bahnhof Luxemburg-Platz, sondern verließ den Betriebskomplex auf der anderen Seite, ging die Max-Beer-Straße hinüber, überquerte die Karl-Liebknecht-Straße und ging dann am riesigen Quartier des „Hauses der Elektrotechnik“ und über die Kreuzung am „Haus des Reisens“ vorbei, um auf die Karl-Marx-Allee zu gelangen.

Im Kino International lief „Die Weiße Rose“ von Michael Verhoeven. Er hatte den Film noch nicht gesehen, wollte aber unbedingt noch hin, vielleicht zusammen mit Helga. Er blieb auf der linken Straßenseite, um hin und wieder einen zwischen den Häuserschatten hervorlugenden Sonnenstrahl zu erwischen und überquerte dann den Strausberger Platz. Hinter ihm im Westen waren einige rosa Streifen am Himmel zu sehen. Die wenigen Bäume an der Magistrale nach Osten hatten noch Blätter, welche in schöner Herbstfärbung prangten.

Er überlegte, dass er immer noch in die U-Bahn steigen konnte, wenn ihm der Weg bis zum Frankfurter Tor und die Warschauer Straße hinunter bis zur Libauer Straße zu weit würde.

Seine innere Unruhe legte sich beim Laufen nicht. Denn seine Gedanken kreisten unablässig um die Frage, welche Konsequenzen sein „Njet“ haben könnte. Er beruhigte sich mit der Überlegung, dass die Stasi schließlich nicht die Staatsmacht sei und die Partei über ihr stehe. Man hörte manchmal Gerüchte, dass ihr Einfluss auf die Lebensläufe Widerspenstiger bis in die Familien hineinreichen würde. Aber die Stalinzeit, in der Leute, die Kritik anmeldeten, von der Straße weg einfach auf Nimmerwiedersehen verschwinden konnten, war vorbei. Die politischen Ereignisse in Polen und Ungarn, die KSZE-Verhandlungen und die Ost-Westgespräche hatten bereits mehr Bewegungs- und Informationsfreiheit gebracht.

Dass ein kleiner Bauprojektant nicht für den DDR-Geheimdienst arbeiten wollte, würde die Firma nicht aus der Bahn werfen. Selbst das Wissen über seine Beziehungen zu seinem Vetter musste ihn nicht über Gebühr besorgt machen, denn so interessant konnte er für die Partei- und Staatsführung gar nicht sein, dass sie außer den normalen Checks wegen seiner speziellen Tätigkeit große Überwachungsprojekte starten würden. Er beschloss, darüber mit Helga zu reden. Durch ihren Mann hatte sie ein paar Erfahrungen in solchen Dingen.

Wauer benutze ab Magdalenenstraße nun doch die U-Bahn, lief vom Frankfurter Tor noch hinunter in seine Straße, stieg dann die Treppen zur vierten Etage hoch und betrat seine Wohnung.

Er mixte sich eine Wodka-Cola, legte sich Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ auf und streckte sich auf seine Ledercouch. Helga würde übermorgen wieder zu ihrem Wochenendbesuch kommen, wenn alles normal lief. Seine Gedanken kreisten in den nachfolgenden Stunden aber seltsamerweise mehr um Barbara und Lothar, als um Helga und das Stasiproblem.

Morgenrosa

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