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Das Ritual

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Eine halbe Stunde später saß ich auf einem aufwendig gedrechselten Stuhl in der Hexenküche und ließ zu, dass mir Irina eine glitzernde türkisfarbene Paste auf den Arm pinselte. Obwohl ich selbst mit Pflanzen gut vertraut war, konnte ich nicht herausriechen, aus welchen Bestandteilen das Gemisch genau bestand. Es roch erdig und schwer wie ein Acker nach einem Regenguss.

Rose stand hinter dem Stuhl und ließ uns keinen Moment aus den Augen. Irina nahm sich Zeit, meine Unterarme mit der Paste zu bestreichen. Sie benutzte dazu ein großes Efeublatt. Ob der Grund dafür war, dass sie nicht mit ihrem selbst gebrauten Mittel in Berührung kommen wollte oder aber mit den Symbolen auf meinen Armen, wusste ich nicht. Obwohl sie so stark glitzerte, wurde die Paste durchsichtig wie Wasser, sobald sie mich berührte. Fast augenblicklich sog meine Haut sie auf.

Fasziniert beobachtete ich, wie die Bewegungen der Tinten­symbole langsamer wurden und schließlich erstarrten. Jetzt schienen sie nur noch seltsame Tätowierungen zu sein. Waren sie sogar ein bisschen blasser geworden?

Erleichtert stieß ich die Luft aus – ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich sie angehalten hatte.

»Danke.« Rose drückte Irina tatsächlich kurz am Oberarm. Die zog eine Augenbraue hoch, lächelte jedoch.

»Das sollte eine Weile halten. Du kannst die Bänder abnehmen.« Sie drehte sich um und ging zu ihrem Arbeitstisch zurück, der jetzt über und über mit Pflanzenresten bestreut war. »Dass du rote genommen hast, war eine gute Idee.«

Ich grinste, während Rose damit begann, Knoten um Knoten zu lösen.

»Ich dachte mir, was gegen Kreaturen aus der Anderswelt hilft, kann bei einem Hexenfluch nicht verkehrt sein.«

Mit einem Glasfläschchen in der Hand kam Irina zu uns zurück. Es war nicht größer als mein kleiner Finger und mit einem Korken verschlossen. »Hör mir bitte gut zu. Ich mag dich, und deshalb sage ich dir: Mit Magie spielt man nicht.«

Rose, die gerade das letzte Band von meinem Unterarm löste, richtete sich triumphierend auf. »Da sind wir doch tatsächlich einmal einer Meinung.«

Irina ignorierte sie. »Manchmal ist Wissen gefährlich. Aber meistens ist es gefährlicher, nichts zu wissen und trotzdem mit Dingen herumzuexperimentieren. Das war ein mächtiger Fluch, der auf dem Grimoire dieser Hexe lag, und du hast ihn mit deinem Zauber entfesselt. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn du die Zeichen nicht rechtzeitig gebannt hättest. Ich fürchte, es wäre schlimm für dich ausgegangen. Vielleicht für euch beide.«

Ich senkte betreten den Kopf. »Dann war es doch richtig, den Schutzzauber zu wirken.«

»Ja und nein. Am besten wäre gewesen, du hättest dich dem Buch gar nicht erst genähert. Offensichtlich möchte seine Besitzerin nicht, dass es in falsche Hände gerät. Hier.« Sie drückte mir das Glasfläschchen in die Hand. »Nimm davon jede Nacht vor dem Einschlafen drei Tropfen. Du kannst sie in Wasser auflösen, aber besser ist es, wenn du sie direkt auf die Zunge träufelst.«

Fasziniert betrachtete ich den türkisfarbenen Inhalt des Fläschchens. Es glitzerte wie die Paste, die Irina auf meinen Arm gestrichen hatte, war aber flüssig.

»Was ist das?«

»Du willst lernen, gut. Das ist jedoch nichts, was ich dir in ein paar Stunden beibringen kann.«

Ich spürte, wie Rose’ Griff um meine Schultern fester wurde. Irina bemerkte das offenbar auch. »Das ist etwas, was dir Zeit erkauft. Vielleicht einen Mondzyklus lang, vielleicht etwas weniger. Heilen kann ich dich nicht. Du musst woanders Hilfe suchen. Doch dazu kommen wir später.« Sie richtete sich an Rose. »Wie sehr liebst du deine Freundin?«

»Was ist das für eine Frage?«

»Eine ernst gemeinte.« Sie fixierte Rose regelrecht mit ihrem Blick. »Es gibt eine Möglichkeit, wie du Muireann helfen kannst. Dafür brauche ich dein Blut.«

Rose schluckte.

Ich konnte mir denken, was in ihr vorging.

»Wenn du sie wirklich liebst«, sagte Irina unbarmherzig, »kannst du den Zauber stärker machen.« Sie deutete auf das Glasfläschchen in meiner Hand. »Wir müssen nur ein, zwei Tropfen deines Blutes mit hinzugeben.«

Nach einem Augenblick nickte Rose. »Na gut.«

»Rose, nicht!«, bat ich, während Irina die Schublade der Anrichte öffnete und eine lange, spitze Nadel hervorholte. Mit einer Hand­bewegung entzündete sie den Docht einer Kerze, die auf der Anrichte stand, und hielt die Spitze der Nadel in die Flamme.

»Ihr müsst keine Angst haben«, sagte sie. »Das ist keine schwarze Magie. Im Gegenteil. Die Macht, die die Wirksamkeit des Trankes stärken wird, kommt von hier.« Sie legte eine Hand auf ihre Brust und lächelte uns an. »Hat deine Familie immer noch Schwierigkeiten damit, dass du dich in eine Frau verliebt hast?«

Rose zuckte mit den Schultern. »Eigentlich haben sie sich ganz gut daran gewöhnt.«

»Sehr gut sogar«, bekräftigte ich und griff nach ihrer Hand. Ich fühlte mich bei ihr zu Hause mehr willkommen, als das es jemals im Haus meiner Tante der Fall gewesen war.

»Bis auf meinen Bruder und seine Frau«, ergänzte Rose.

»Die Ziege …«, sagte Irina und verdrehte die Augen.

Ich blickte sie überrascht an. »Wer hat dir verraten, dass wir sie so nennen?«

»Björn hat es erwähnt.« Sie streckte Rose die Hand entgegen. »Gib mir deinen Zeigefinger. Ich schwöre, es wird dir nicht schaden.«

Während Rose tat, worum Irina sie bat, entkorkte ich das kleine Fläschchen, um es bereitzuhalten. Dann stach Irina Rose mit der Nadel in den rechten Zeigefinger. Zwei Tropfen Rot fielen in die grünblaue Flüssigkeit und wurden von ihr absorbiert.

»Mach die Flasche wieder zu und schüttle sie ein paarmal hin und her, bis sich das Blut mit dem Trank vermischt hat«, wies mich Irina an.

Rose steckte derweil die Fingerkuppe zwischen die Lippen und saugte daran. Sie beobachtete, wie Irina die Spitze der Nadel erneut in die Kerzenflamme hielt. »Siehst du«, erklärte sie dabei. »Ich verbrenne die Blutreste, die sich noch auf der Spitze befinden. Ich bin nicht daran interessiert, dir und den Deinen zu schaden.«

Sie blies die Kerze aus und streckte uns die Nadel entgegen. »Wenn ihr euch wohler damit fühlt, könnt ihr sie mitnehmen.«

Rose schüttelte verlegen den Kopf. »Es tut mir leid, dass ich vorhin so misstrauisch war.«

»Schon gut. Was kann man auch sonst von einer Hexen­schlächterin erwarten? Willst du jetzt etwas Apfelsaft?«

Rose nickte. Ich seufzte erleichtert auf. Dass sich die Situation ausgerechnet durch dieses Ritual so entspannte, damit hätte ich nicht gerechnet. Unwillkürlich fragte ich mich, ob Irina mit Rose’ Blut doch einen kleinen Zauber gewirkt hatte.

»Das Blut in dem Trank.« Ich hob das Fläschchen. Sein Inhalt wirkte jetzt eine Spur dunkler als zuvor. »Funktioniert es genauso wie Blutmagie?«

Irina reichte Rose den Tonkrug und wandte sich mir zu. »Im Grunde ja. Aber das, was du als Blutmagie bezeichnest, ist etwas ganz anderes. Jede Art von Magie wird durch Energie gespeist. Durch die Energie, die aus dir selbst kommt. Durch Energie, die freiwillig gegeben wird, um zu behüten und zu beschützen. Blut ist nur ein Magieträger. Was die Dunklen tun, die Abtrünnigen wie jene, die die Kinder getötet hat – das ist nicht, wie Blutmagie sein sollte. Sie haben sie pervertiert. Sie wollen Macht, ohne den Preis dafür zu zahlen. Ohne etwas von sich selbst zu geben. Blut ist jener Energieträger, den sie am einfachsten stehlen können. Sie betrügen und verderben, um das Gleichgewicht zu halten.« Sie drehte den Kopf und sah Rose sehr ernst an. »Ich möchte nie wieder erleben, dass du mich mit einer von ihnen vergleichst. Hexe ist nicht gleich Hexe. Das solltest du wissen, wenn du auf uns Jagd machst.«

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Rose’ Gesicht war unbewegt, doch ich vermutete, dass ihre Gedanken rasten. Ehe sie etwas sagen könnte, ging Irina zum Tisch zurück und ließ sich auf ihrem Platz nieder. »Setzt euch. Wir haben noch einiges zu besprechen.«

Während wir an unseren Getränken nippten, segelten drei Blau­meisen im Sturzflug durch die offene Tür in den Raum und umkreisten die Gastgeberin mit schrillem Gezwitscher. Irina hörte ihnen einen Moment aufmerksam zu, dann verdrehte sie die Augen. »Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt sie in Ruhe lassen.« Sie griff über den Tisch, zog eine reich verzierte Schatulle zu sich und öffnete sie.

»Eine der Katzen«, erklärte sie uns mit vielsagendem Blick. »Sie wollen sie einfach nicht in Ruhe lassen.« Sie griff in das Kästchen, holte eine Handvoll Körner daraus hervor und streute sie direkt auf die Tischplatte. Die Vögel ließen sich flatternd nieder und begannen, nach dem Futter zu picken. Aus dem Gebälk flog auch die Bachstelze wieder herunter und gesellte sich zu den Meisen.

»Zurück zu deinem Problem.« Irina deutete demonstrativ auf meine Unterarme. »Wie ich bereits sagte, habe ich dir nur Zeit erkauft. Die Hexe, der das Grimoire gehört, ist bedeutend mächtiger als ich. Ihren Fluch kann ich nicht brechen.«

Ich stellte die Ellenbogen auf den Tisch und stützte das Kinn in meine Hände. »Und was kann ich dann tun?«

»Wir«, korrigierte Rose und rückte näher an mich heran. »Was können wir tun?«

Irina begann damit, die Pflanzenreste vor sich einzusammeln und in einen Tonkrug zu werfen, der neben ihr auf dem Boden stand.

»Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Zunächst einmal könntet ihr nach der Hexe suchen, die den Fluch ausgesprochen hat, und sie dazu bringen, ihn aufzuheben.«

»Wir haben ohnehin vor, dieses Monster zur Strecke zu bringen.« Rose deutete mit ihren Fingern einen Kehlenschnitt an.

Irina lächelte säuerlich. »Das wäre die andere Möglichkeit. Ein Vorhaben, das leicht nach hinten losgehen kann. Die Zauber einer Hexe sterben zwar für gewöhnlich mit ihr, aber bei Flüchen muss man vorsichtig sein. Es gibt welche, die bereits mehr als ein Jahr­hundert überdauert haben.«

Mein Mund wurde trocken. »Wir wissen ohnehin nicht, wo sie sich aufhält. Wir suchen bereits seit mehreren Monden nach ihr, ohne auch nur eine Spur zu finden.«

»Sie zu finden ist auch nicht, was ich euch raten würde. Statt­dessen solltet ihr zu einer Hexe gehen, die ebenso mächtig ist wie sie. Oder mächtiger.« Sie legte die Hände vor sich auf die Tischplatte. Eine der Meisen begann, auf ihrem Arm herumzuspazieren, doch das störte Irina nicht. »Ich fürchte, davon gibt es nicht viele. Und noch weniger, die auch bereit wären, euch zu helfen.«

»Ich hasse Magie«, entfuhr es Rose. »Das wird ja noch komplizierter, als ich bereits dachte.«

Bisher hatten wir nur selten Hexen gejagt, und wenn, dann waren das immer solche gewesen, auf die man uns angesetzt hatte. Solche also, die sich nicht darum scherten, dass andere Leute wussten, was sie waren.

»Wo finden wir die, die stark genug sind?«, fragte ich deshalb.

Irina zögerte. »Die Königin von Albion würde mir zwar sicher widersprechen, aber die mächtigsten Hexen der Welt leben in meinem Heimatland.«

Rose verschluckte sich fast an ihrer Antwort. »Wir sollen nach Afrika reisen?«

»Nicht nach Afrika«, widersprach Irina. »Obwohl es dort auch einige sehr mächtige Magiewirker gibt. Ich meine das Land meiner Mutter. Ich mag so manches bei den Geistheilern aus Nubien gelernt haben, die Wurzeln meiner Kräfte liegen jedoch im Zarenreich.«

Na wunderbar!

Rose warf mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu. Ich seufzte. »Das trifft sich gut.«

Irina schürzte überrascht die Lippen. »So?«

»Wir denken darüber nach, dorthin zu reisen.«

»Was wollt ihr im Zarenreich? Ihr wisst, solche wie euch sieht man dort nicht gern.«

Damit meinte sie nicht unsere Arbeit als Dämonenjägerinnen.

»Die Suche nach der Kindsmörderin. Gerüchten zufolge hat sie es geschafft, einen Prinzen zu verführen.«

Irina nickte versonnen. »Die anstehende Hochzeit des jungen Zarewitsch. Aber er heiratet die Häuptlingstochter eines Steppen­kriegerstammes.«

»Das haben wir auch gehört. Da uns das Grimoire allerdings nicht weiterhilft«, verlegen zupfte ich an meinen Ärmelsäumen, »hielten wir es für das Beste, uns bei der Hochzeit einzuschleichen, um die adeligen Gesandten aus den anderen Königreichen genauer in Augenschein zu nehmen.«

»Fast alle werden da sein, heißt es«, fügte Rose hinzu. »Es wird ein großes Hochzeitsfest.«

»Hexen sind im Zarenreich hoch angesehen. Kaum jemand dort hängt dem neuen Glauben an, der sich hier überall breitzumachen scheint und die Alte Kunst dämonisiert. Es ist ein gefährlicher Ort aus vielerlei Gründen. Aber ein guter, um Hilfe bei Muireanns Problem zu finden.«

Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder beunruhigt sein sollte. »Können wir uns einfach an den ersten Stadtwächter wenden, dem wir dort begegnen, und ihn fragen, wo wir eine Hexe finden?«

»O nein. So einfach wird das nicht werden. Und wie ich bereits sagte, auch nicht ungefährlich.«

»Wir lassen uns nicht so schnell Angst einjagen.« Rose gab sich selbstbewusst wie immer.

Irina beugte sich vor und lächelte. Sie zeigte dabei alle Zähne. Sie blitzten weiß wie Schnee in ihrem dunklen Gesicht. »Oh, vielleicht solltet ihr das. Es gibt nur eine Hexe im Zarenreich, von der ich mit Sicherheit weiß, dass sie die Macht besitzt, euch zu helfen.« Sie machte eine kunstvolle Pause. Dann fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu: »Habt ihr je von der Baba Yaga gehört?«

Palast aus Gold und Tränen

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