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Das Feentor

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Der Jungfernfelsen war eine hohe Gebirgsnadel, die sich am Ufer des Mains steil in die Lüfte reckte. Er war weithin sichtbar, weil er hoch über die Wipfel der Laubbäume hinausragte, die den Fluss zu beiden Seiten umgaben. Sein Name mochte romantisch klingen, bekommen hatte er ihn allerdings, weil immer wieder, Generation um Generation, Mädchen auf ihm verschwunden waren.

Verborgen im Felsgestein gibt es ein Tor in die Anderswelt, erzählten die Menschen, die in seinem Schatten lebten. Nur unverheiratete Mädchen finden den Weg dorthin.

Vor drei Jahren hatten Rose und ich allerdings herausgefunden, dass für das Verschwinden der Jungfrauen nicht das Feentor verantwortlich war, sondern ein Wassermann, der an dieser Stelle auf dem Grund des Flusses lebte. Ida, die Tochter eines Knopfmachers aus einem nahen Städtchen, nannte ihn ihren »grünen Prinzen mit den nassen Haaren«. Sie konnte von Glück sagen, dass ihre Tante klug genug gewesen war, zu erkennen, wer Idas Verehrer in Wirklichkeit war. Und dass sie mit der Frau eines Bauern befreundet war, der uns dafür bezahlte, seinen Kornspeicher von einer lästigen Koboldplage zu befreien. So hatten wir Ida retten können, ehe sie ihrem »grünen Prinzen« in sein nasses Reich folgen konnte. Es war uns sogar gelungen, den Wassermann zu vertreiben und dem Jungfernfelsen seinen Schrecken zu nehmen. Für eine Weile. Weder Rose noch ich waren so naiv zu glauben, den Wassermann für immer von seinem Zuhause verjagt zu haben. Aber vielleicht ließ er die Mädchen der Gegend für eine oder zwei Generationen in Ruhe. Ich hoffte, sie würden sich daran erinnern, wie man sich vor einem wie ihm schützen konnte, wenn er zurückkehrte.

Als ich den Jungfernfelsen jetzt vor mir sah, war ich sofort wieder von seiner Schönheit gefesselt. Der helle Schiefer hob sich deutlich vom Dunkelgrün der Wälder ab. Schlank und majestätisch ragte er in den Himmel. Der Fluss zu seinen Füßen schimmerte im Licht der Spätnachmittagssonne wie ein silbernes Band.

Um es schneller hierher zu schaffen, hatten Rose, Björn und ich den Nachmittag auf Pferderücken verbracht, und mir schmerzte gewaltig das Hinterteil. Immerhin lenkte mich das Reiten von den Hexenmalen auf meinen Unterarmen ab. Die Pferde hatten wir von Lennards und Helenes Nachbarn geliehen. Björn begleitete uns, damit er die Tiere zu ihm zurückbringen konnte.

»Seht ihr?« Rose, die ein Stück vor Björn und mir ritt, drehte sich im Sattel um und grinste. »Ich habe euch doch gesagt, wir schaffen es vor Einbruch der Dunkelheit hierher.«

»Freu dich nicht zu früh«, konterte er. »Ich sage euch, es wird heute noch gewittern.«

Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den Himmel, über den mehrere graue Wolkenfelder zogen.

»Vielleicht nicht dort, wo wir hingehen«, sagte ich. Björn zuckte nur mit den Schultern.

»So oder so, wir sollten weiter.« Mit einem Schenkeldruck gab ich meinem Pferd zu verstehen, zu Rose aufzuschließen. Björn folgte uns und eine Weile lang schwiegen wir.

»Bist du aufgeregt?«, fragte ich Rose, als wir eine halbe Stunde später vor einem schmalen Spalt im Schiefer standen, aus dessen Tiefe uns ein geheimnisvolles blaues Licht entgegenleuchtete. Es hieß, Feentore schützten sich selbst und hielten sich vor den Augen der Menschen verborgen. Wir beide waren schon einmal hier gewesen und hatten es sofort wiedergefunden. Allerdings hatten wir es noch nie durchschritten.

Rose konnte den Blick nicht vom seltsamen Durchgang nehmen. »Ich kann mir durchaus angenehmere Arten zu reisen vorstellen.«

»Jedoch kaum schnellere.«

»Nein.« Sie ließ den Kopf im Nacken kreisen, bis es knackte. Dann drehte sie sich zu Björn um, der mit unseren Pferden ein paar Schritt hinter uns stand. Wir hatten uns bereits von ihm verabschiedet, aber offenbar wollte er warten, bis wir tatsächlich das Feentor durchschritten, ehe er den Heimweg antrat. Rose hob zum Abschied ihren Eschenstab, ich winkte ihm. Björn lächelte uns aufmunternd zu.

»Na komm.« Rose schob sich seitlich durch den Felsspalt. Im himmel­blauen Licht verschwammen ihre Konturen und lösten sich auf. Schließlich war sie ganz verschwunden. Mit gezogenem Silberdolch in der Hand folgte ich ihr. Wäre mir klar gewesen, was dann geschehen würde, hätte ich statt meiner Waffe besser ihre Hand gehalten.

In meinem Geburtsland bezeichnete man Feen als das Volk unter dem Hügel. Deshalb hatte ich mir die Anderswelt immer wie eine riesige Höhle vorgestellt, deren Wände aus wurzeldurchzogener Erde, Flechten und Moos bestanden. Nachdem die Felsen mich verschluckt hatten, betrat ich jedoch ein Plateau, von dem aus ich in ein dicht bewaldetes Tal blicken konnte. Üppig belaubte Bäume strebten dem Himmel entgegen. Wenn ich mich hinkniete und über den Felsrand nach unten griff, konnte ich fast ihre Kronen berühren. Das Blattwerk war jedoch nicht einfach nur grün wie bei den Bäumen in unserer Welt. Zwischen gewöhnlichen Eschen und Tannen, Buchen und Eichen mischten sich Bäume, deren Laubkleider dunkelrot, silbern und sogar golden leuchteten. Der Wind, der durch sie hindurchfuhr, ließ die Blätter nicht bloß rascheln, sondern auch klirren. Dutzende kristallklare Bachläufe schlängelten sich durch den Wald und in der Luft hing der Geruch von Glockenblumen.

Erst nach einem Augenblick begriff ich, dass ich allein war.

»Rose?«, rief ich leise. Meine Stimme verhallte ungehört. »Rose?«

Ich blickte mich nach allen Seiten um, doch da war niemand. Als ich mich umdrehte, um durch das Feentor zurückzugehen, sah ich, dass der Spalt im Felsen sich geschlossen hatte.

»Na großartig.«

Was hatte Irina uns geraten? Das Tor kann euch an viele Orte auf dieser Welt führen. Deshalb ist es so wichtig, dass ihr euch auf euer Ziel konzentriert.

»Ins Zarenreich«, flüsterte ich, während ich mich anschickte, einem schmalen Pfad zu folgen, der sich ins Tal hinunterwand. »Ich will ins Zarenreich.«

Hoffentlich hatte Rose dasselbe getan.

Ob sie schon dort angekommen war?

Meine Unterarme begannen zu kribbeln. Regten sich die Zeichen oder war das Gefühl nur meiner Aufregung geschuldet?

Bleib ruhig, mahnte ich mich, weil ich bemerkte, dass mein Puls sich beschleunigte. Die Symbole auf meiner Haut kribbelten eindeutig. Ich musste all meine Willenskraft aufbringen, um nicht an ihnen zu kratzen.

Mein Weg ins Tal führte an einem kleinen Wasserfall vorbei. Gischt setzte sich wie Tautropfen auf meine Haut. Mit jedem Schritt verstärkte sich der Geruch nach Glockenblumen.

Ins Zarenreich, beschwor ich meinen Wunsch innerlich wieder und wieder. Nichts geschah.

Plötzlich hörte ich ein Rascheln, als würde man schnell durch die Seiten eines Buches blättern. Die Temperatur sank schlagartig und die Tropfen auf meiner Haut gefroren zu Eis.

Ich verharrte in der Bewegung und packte den Silberdolch fester. War dies normal? Irina hatte nichts dergleichen erwähnt.

Die Male des Hexenfluchs begannen zu brennen. Ich ballte die Finger meiner linken Hand zur Faust, ignorierte das Gefühl und beschleunigte meine Schritte.

»Ich muss ins Zarenreich«, sagte ich erneut.

»Wo bist du?«, hörte ich plötzlich den Ruf einer Frau. Es war nicht Rose’ Stimme, aber ich kannte sie. »Wo versteckst du dich?« Die Frau klang sanft und freundlich.

Margarete, schoss es mir durch den Kopf. Natürlich sagte ich nichts. Die Stimme klang älter als das Mädchen aus meinen Visionen. Sie klang wie die der jungen Frau, zu der Margarete herangewachsen wäre. Hätte die Kindsmörderin sie nicht getötet. Hätte sie nicht Margaretes Körper gestohlen.

Ich wusste, wer mich rief. Entschlossen reckte ich mein Kinn vor. Vielleicht mussten Rose und ich uns gar nicht bis ins Zarenreich durchkämpfen. Vielleicht konnte ich all das, was mich umtrieb – der Fluch, die Kindsmörderin, Rache für Hans und Margarete –, bereits hier und jetzt erledigen.

Die Haut an meinen Unterarmen brannte inzwischen, als hätte ich sie in den Bau von Feuerameisen gestoßen. Die immer stärker werdende Kälte setzte mir zusätzlich zu.

»Du hast etwas, das mir gehört!« Mit einem Mal war die Stimme nicht lockend und sanft, sondern schneidend scharf wie der Winter.

Rose, rief ich stumm. Ich könnte ein bisschen Unterstützung gebrauchen.

Die Hexe würde sich nicht einfach einen Dolch ins Herz stechen lassen. Ich bezweifelte ohnehin, dass sie eines besaß. Wenn ich ihr nun entgegentrat, wie konnte ich sie besiegen?

Für gewöhnlich versuchten Rose und ich, so viel wie möglich über unsere Gegner in Erfahrung zu bringen. Welche Schwächen besaßen sie? Wie äußerten sich ihre Stärken? Wie konnte man sie in eine Falle locken?

»Bring mir das Buch!«, verlangte die Hexe.

Vorsichtig drehte ich mich im Kreis, um herauszufinden, aus welcher Richtung ihre Stimme kam. Noch immer war ich allein.

»Bring mir das Buch, oder es wird dich umbringen. Ich werde dich umbringen.«

Etwas biss mich in den Unterarm, so fest, dass ich zusammenzuckte und alle Mühe hatte, nicht vor Überraschung und Schmerz aufzuschreien. Als ich den Blick auf meinen Unterarm richtete, blickte mich die Kreuzotter, die sich von den Seiten des Buches auf meinen Arm geschlängelt hatte, bösartig an.

Zeig dich, hätte ich der Hexe am liebsten entgegengeschleudert. Dann bring ich dir dein verdammtes Buch. Aber ich hielt mich zurück.

»Wie heißt du?«, fragte die Hexe, jetzt wieder lockend. »Verrat mir deinen Namen.«

Plötzlich wuchs eine Wand aus Eis vor mir aus den Felsen und versperrte mir den Weg ins Tal. Überall um mich herrschte Sommer, doch vor mir erstreckte sich über die ganze Breite des Pfades eine glatte Eisfläche, die mehrere Mannslängen hoch war. Durch ihre durchscheinende Oberfläche glaubte ich einen dunklen Schemen zu erkennen. Die Gestalt einer Frau, die sich auf mich zubewegte. Die Hexe.

»Da bist du«, sagte die Fremde, und ich konnte sehen, wie sie eine Hand auf ihre Seite der Eiswand legte. Sie schien groß zu sein, größer als ich, und schlank. Mehr konnte ich nicht erkennen. Das Eis war dick und verzerrte die Konturen der Hexe. Ich erkannte nur undeutlich ihre Gestalt, jedoch keine Gesichtszüge.

»Das Buch gehört dir nicht«, sagte die Hexe. »Gib es mir, und ich mache dich reich.«

Ich tat ihr noch immer nicht den Gefallen, zu antworten. Stattdessen holte ich ein kleines Beutelchen aus meinem Ranzen, in dem ich Salz aufbewahrte.

»Du musst mir nur verraten, wo du bist«, lockte die Hexe, ganz so, als hätte sie mir nicht erst vor einem Augenblick mit dem Tod gedroht.

Sie kann nicht zu mir kommen, erkannte ich. Das Eis schützt nicht nur sie, es schützt auch mich.

Das war seltsam. Wir starrten uns an, auch wenn wir uns nicht richtig erkennen konnten. Aus dem Nichts erblühten Blumen in der durchsichtigen Wand. Zuerst hielt ich sie für Rosen. Dann erkannte ich, dass es Blut war, erstarrt im kalten Griff des Eises. Die Symbole aus dem Grimoire umschlangen meine Arme inzwischen wie glühender Draht. Die Hand, mit der ich den Dolch hielt, zitterte.

Silber tötet Hexen, versuchte ich mich zu beruhigen. Falls sie die Eiswand durchbricht, ist sie geliefert. Aber ich wusste, so einfach würde es nicht werden.

»Verrat mir deinen Namen«, forderte die Hexe.

Ich schnaubte. »Verrat du mir erst deinen.«

Wieder musterten wir uns und selbst die Zeichen auf meiner Haut erstarrten für einen Augenblick, als wollten sie abwarten, was als Nächstes geschah.

»Margarete«, flüsterte die Hexe.

Zorn durchflutete mich, heißer und heftiger als der Biss der Hexenmale.

»Du hast kein Recht auf diesen Namen!«, fauchte ich, hob den Arm und stieß die Spitze des Dolches direkt ins Eis. Als das Silber das gefrorene Wasser berührte, verwandelte es sich in einen Spiegel. Plötzlich sah ich nicht mehr den Schemen meiner Gegnerin, sondern mich. Ausgehend von der Stelle, auf die ich mit dem Dolch eingestochen hatte, zogen sich haarfeine Risse über die Oberfläche. Gleichzeitig trug mich mein eigener Schwung nach vorn. Während um mich herum Teile des Spiegels in einem Splitterregen zu Boden fielen, machte ich einen Ausfallschritt.

Und plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, befand ich mich nicht mehr auf einem Bergpfad in der Anderswelt, sondern auf einem bewaldeten Hügel. Die Bäume um mich herum waren einfache Bäume, in deren Unterholz Wildtiere raschelten. Es roch auch nicht mehr nach Glockenblumen, sondern nach Pilzen, Holz und Erde. Und neben mir stand Rose.

Ich befand mich im Zarenreich. Von der Hexe war weit und breit nichts zu sehen.

»Na, das ging ja wirklich schnell«, sagte Rose und wandte sich mir zu. Als ihr Blick auf mich fiel, riss sie die Augen auf. »Geht es dir gut?«

Ehe ich antworten konnte, hörten wir hohe, klagende Laute.

Palast aus Gold und Tränen

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