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Die Hüterin der Toten

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Die Baba Yaga galt als eine der mächtigsten Hexen der Welt. Ihre Landsleute fürchteten und verehrten sie gleichermaßen. Angeblich lebte sie tief verborgen in den Wäldern des Zarenreiches. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, als Helferin, Mahnerin oder Strafende in Erscheinung zu treten. Manche berichteten davon, dass sie auf dem Rücken eines Flammenpferdes durch frostklirrende Wälder ritt. Andere behaupteten, sie hätten sie in einem riesigen Mörser über den Himmel fliegen sehen und anderen Unsinn. Ihre Hütte soll auf Hühnerbeinen stehen und sich fortbewegen können. Angeblich besaß sie Zähne aus Eisen und der Brunnen hinter ihrem Haus soll randvoll gefüllt sein mit dem Blut leichtsinniger Jungfrauen. Sie galt als die Torhüterin zur Unterwelt und soll mit den Toten sprechen können. Ich hatte sie bisher für nicht mehr als ein Schreckgespenst gehalten, mit dem man Kindern Angst einjagte.

»Die Baba Yaga gibt es wirklich?«

Irina lächelte. »Oh, es gibt sie wirklich, dessen seid euch gewiss. Ob sie euch helfen wird, steht auf einem anderen Blatt. Wenn die Baba Yaga etwas ist, dann unberechenbar.«

Rose begann, mit ihren Fingern auf der Tischplatte zu trommeln. »Das beruhigt mich nicht gerade.«

»Dann bist du eine kluge Frau.«

»Wie finden wir sie?«, fragte ich.

»Keiner kennt den Weg zu ihr, heißt es. Und niemand wird sie finden, wenn sie nicht gefunden werden will.«

»Das hilft uns nicht weiter«, murrte Rose.

»Anders als hier sind die Hexen im Zarenreich eine eingeschworene Gemeinschaft. Die Baba Yaga ist so etwas wie ihre Anführerin. Sie hält ihre schützende Hand über sie und es heißt, sie genießt das Vertrauen des Zaren.«

Mit der Hand verscheuchte sie die Vögel, die begonnen hatten, sich um die letzten Körner zu streiten. Wild flatternd stoben sie vom Tisch und flogen hinauf zur Decke, wo Blumenkübel mit Schnüren an den Balken angebracht waren.

»Der Zar, so heißt es, fragt sie sogar gelegentlich um Rat – sehr zum Missfallen seiner Minister.«

Rose schien wenig beeindruckt. »Wir können kaum den Zaren bitten, uns zu seiner Hexenfreundin zu führen.«

»Wer weiß, vielleicht hat er sie gar zur Hochzeit seines Sohnes geladen.«

»Deine Landsleute sind verrückt!«

Irina zuckte mit den Schultern. »Und vielleicht sind die Leute hier nur übertrieben misstrauisch.« Ihr Blick fiel auf das Grimoire vor uns. »Vielleicht auch nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Der Punkt ist: Einige Hexen wissen vermutlich, wo die Baba Yaga zu finden ist. Und wenn sie euch den Weg nicht weisen wollen, so besteht immerhin die Möglichkeit, dass sie eine Botschaft von euch übermitteln. Wenn die Baba Yaga gewillt ist, euch zu helfen, wird sie zu euch kommen.«

Hinter meiner Stirn begann ein dumpfer Schmerz zu pochen. »Warum sollte sie uns helfen wollen?«, fragte ich und massierte meine Schläfen.

»Weil sie neugierig ist, jedenfalls sagt man das. Und weil ihr etwas besitzt, an dem sie interessiert sein könnte.« Irina nickte in Richtung des Buches.

»Das Grimoire? Wir sollen es ihr überlassen?«

»Was wollt ihr sonst damit anfangen?«

»Eigentlich hatten wir darüber nachgedacht, es bei dir zu lassen«, sagte ich vorsichtig.

Irina fuhr zurück. »Auf keinen Fall! Außerdem werdet ihr es brauchen. Wenn sich die Baba Yaga nicht damit bezahlen lässt, dann wird es ihr zumindest Aufschluss über den Zauber geben, mit den du in Berührung gekommen bist.«

Sie massierte sich den Nacken. »Es ist ein schreckliches Buch, das ihr da in eure Obhut genommen habt. Ich mag es nicht länger als nötig hier in der Mühle haben. Nicht nachdem ich mir solche Mühe gegeben habe, sie von allem Bösen zu reinigen. Na ja, von fast allem.«

»Bisher haben wir nichts von seiner ›bösen Aura‹ bemerkt«, sagte Rose. Weder hatte das Buch uns Albträume beschert noch uns Schaden zugefügt – sah man mal von dem missglückten Zauberritual ab, für das ich mir selbst die Schuld geben durfte. Aber dass etwas Unheimliches von dem Folianten ausging, war uns beiden von Anfang an klar gewesen.

Irina blieb unbeeindruckt. »Dann solltet ihr froh sein. Wann brecht ihr auf?«

»Bald.«

»Lasst euch lieber nicht zu viel Zeit. Der Weg ins Zarenreich ist weit.«

»Wir kennen eine Abkürzung«, sagte ich. »Der Jungfernfelsen.«

Irina lächelte kurz, presste dabei jedoch die Lippen so fest aufeinander, dass ich es beinahe nicht erkannt hätte. »Er ist ein Feentor.«

»Ihr überrascht mich«, sagte sie und blickte dabei Rose an. »Seid ihr schon einmal durch die Anderswelt gereist?«

Rose schüttelte den Kopf.

»Ihr müsst vorsichtig sein, und schnell.« Sie riet uns, worauf wir beim Durchschreiten des Tores achten mussten. Es überraschte mich nicht wirklich, dass Irina sich mit den Wegen durch die Anderswelt auskannte.

»Gebt mir eure Dolche«, verlangte sie, nachdem sie uns alles erklärt hatte. Reflexartig hob ich meine Hand an die Lederscheide, in der mein heiß geliebter Silberdolch steckte. Rose besaß den gleichen. Die beiden schmalen Waffen waren einfach gearbeitet. In das Eisen war jedoch Silber gemengt, und dadurch waren die Dolche großartige Verteidigungswerkzeuge gegen schwarze Magie.

»Warum?«, fragte ich.

Irina stand auf und schob sich einen kleinen schwarzen Zopf hinters Ohr, der sich aus ihrer Frisur gelöst hatte.

»Wenn ihr mir die Waffen für eine Nacht überlasst, kann ich sie mit einem Zauber besprechen, der euch schützt. Und ich kann einen Beutel fertigen, in dem ihr das Grimoire verbergen könnt, damit nicht jede Hexe auf zehn Meilen Entfernung wittern kann, was ihr mit euch herumtragt.«

»Du hast es doch auch nicht gewittert.«

»Ich bin auch keine dunkle.«

Ich blickte hinüber zu Rose. Die zögerte einen Moment, dann zog sie zu meiner Überraschung ihren Dolch und legte ihn vor Irina.

Sie lächelte warm. »Danke.« Dann wandte sie sich mir zu. Ich umgriff das kühle Heft meines Silberdolchs und legte ihn neben seinen Zwilling. »Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte ich verlegen. »Ich trenne mich nur nicht gern von ihm. Er gibt mir Sicherheit.«

»Mach dir keine Sorgen. Du bekommst ihn morgen Vormittag zurück. Besucht mich auf dem Wochenmarkt.« Sie lächelte verschmitzt. »Vielleicht ist Björn dann ja wieder zu Hause und kann euch begleiten.«

»Vielleicht«, räumte Rose ein, und ich hörte ihr an, dass sie nicht wusste, was sie von Irinas Anspielung halten sollte. Auch ich war überrascht. Björn und Irina?

Ihr nächster Satz ließ mich dieses Thema jedoch vollends vergessen:

»Ich brauche für den Zauber noch etwas von eurem Blut. Und ein paar Haare.«

»Geht jetzt«, forderte Irina uns auf, nachdem wir ihrer Aufforderung folgend tatsächlich ein paar Blutstropfen in eine bronzene Schale hatten fallen lassen, ebenso wie ein paar Haare.

Sie klang nicht unfreundlich, aber bestimmt. »Ich habe noch viel zu tun. Und nehmt das Buch mit. Ich will es nicht um mich haben.«

Das wollte ich inzwischen auch nicht mehr, doch da hatten wir wohl keine Wahl. Rose packte das Grimoire in ihren Beutel und schulterte ihn.

Ich trank mit einem kräftigen Zug meinen Becher aus.

Dann traten wir den Heimweg an. An der Türschwelle zum Flur drehte sich Rose noch einmal um. »Ich warne dich. Treib keine Spielchen mit uns.«

Irina breitete die Arme aus und deutete mit einer Geste auf all die Pflanzen, die in Kübeln im Zimmer wuchsen. »Rosalie Lennards­tochter, glaube mir. Wenn ich euch Böses wollte, wärt ihr schon längst nicht mehr am Leben.«

Palast aus Gold und Tränen

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