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Die Mühlenhexe

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Irina lebte in einer stillgelegten Mühle, eine halbe Wegstunde vom Dorf entfernt. Rose und ich gingen den schmalen Pfad am Rand des Waldes entlang, der sich hinter den Feldern fächerartig über die Landschaft ausbreitete. Obwohl es so früh am Morgen war, trieb uns die Hitze den Schweiß auf die Stirn. Deshalb bewegten wir uns eng im Schatten der hohen Fichten, deren harziges Aroma schwer in der Luft hing. Das Buch steckte gut verborgen in Rose’ Schulterbeutel. Ihren Kampfstab aus Eschenholz benutzte sie wie einen Wanderstock. Wenn man einmal von meinem Silberdolch absah, war ich unbewaffnet. Über meiner Schulter hing eine ausgebeulte Leinentasche, in der sich ein halbes Dutzend Hühnereier befanden. Helene hatte sie uns überlassen, damit wir nicht mit leeren Händen an Irinas Tür erscheinen mussten. Ich hatte die Zauberin vor vier Jahren kennengelernt, als Rose sie mit mir aufgesucht hatte, damit sie uns im Kampf gegen einen Schwarzalben beistand. Damals hatten wir uns an sie gewandt, weil uns keine andere Wahl geblieben war. Während ich eine Blindschleiche dabei beobachtete, wie sie vor mir über den Weg schlängelte und dann im hohen Weidegras verschwand, wurde mir bewusst, dass die Situation heute ganz ähnlich war.

Irina war kurz nach mir ins Dorf gekommen. Ursprünglich hatte sie nicht länger als einen Winter bleiben wollen. Inzwischen war die alte, verlassene Mühle, in die sie damals gezogen war, ihr Zuhause. Die Dorfbewohner hatten sie aufgrund ihrer Fremdartigkeit anfangs scharf beobachtet. Sie jedoch scherte sich nicht um die Meinung von Menschen, die zwar hinter ihrem Rücken über sie lästerten, aber dennoch zu ihr kamen, wenn die Not groß war. Sie flehten sie um Heiltränke an oder um Beistand bei einer schwierigen Geburt. Und Irina half, wo sie konnte.

Sie blieb eine Einzelgängerin. Wie ich hatte sie ihr altes Leben hinter sich gelassen und hier ein neues begonnen. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich sie ein Stück weit in mein Herz gelassen hatte. Anders als Rose, die ihr nur mit äußerster Vorsicht begegnete. Hexe bleibt Hexe, und wenn sie sich hundert Mal Zauberin nennt, hatte sie einmal gesagt. Ob sie das Gleiche jetzt auch von mir dachte?

»Fandest du es eigentlich auch seltsam, was deine Mutter vorhin gesagt hat?«, fragte ich, um meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. »Dass es schade ist, dass Björn uns nicht begleiten kann.«

Rose zuckte nur mit den Schultern.

»Es klang ein bisschen so, als wolle sie die beiden verkuppeln«, fuhr ich fort.

»Unsinn!«

Ich unterdrückte ein Grinsen. »Sie sagte, Björn habe Irina in letzter Zeit mehrfach besucht.«

»Freilich.« Rose reichte mir den Eschenstab, damit sie sich den Pferdeschwanz neu binden konnte. »Vermutlich hat er mehr von ihrem ekligen Trank gebraucht.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Oder sie arbeiten an einer Möglichkeit, den Zauber endgültig zu brechen.«

»Meinst du nicht, davon hätten uns deine Eltern erzählt?«

Rose schürzte die Lippen und nahm den Kampfstab wieder an sich. »Wenn es so ist, hat Björn ihnen sicher nichts davon gesagt. Er will ihnen keine falschen Hoffnungen machen.«

Seite an Seite stapften wir weiter über den Waldweg. Ich glaubte nicht, dass Rose recht hatte, hielt es jedoch auch für keine gute Idee, ihr jetzt, kurz vor unserem Besuch bei Irina, zu widersprechen.

Die alte Mühle lag in einer Senke am Waldrand. Der Trampelpfad, dem wir folgten, führte direkt an ihr vorbei. Auf der anderen Seite des Gebäudes, dort wo das stillgelegte Mühlrad hing, plätscherte fröhlich ein Bachlauf über moosbewachsene Steine. Die Mühle hob sich wie eine kunterbunte Oase vor dem Grün des Hintergrunds ab. Tausend Farben explodierten rund um das aus Stein und dunklem Holz errichteten Gebäude: Korn- und Ringelblumen, Holunder und Schafgarbe, tiefrote Rosen, dunkelblaue Schwertlilien und rosa­farbenes Springkraut wetteiferten miteinander um die Vorherrschaft in dem prächtigen Garten, den Irina hegte und pflegte. Ein kleines Fleckchen, das wusste ich, war allein den Heilkräutern vorbehalten. Der größte Teil des Gartens jedoch war ein wildes Durcheinander aus den unterschiedlichsten Blumen, Obststräuchern, Gemüsebeetchen und Giftpflanzen. Kürbisse wuchsen neben Sonnenblumen, Brombeerbüsche neben Feldsalat und unweit der Erdbeeren erhoben sich die langen Stauden des Blutschierlings. Selbst die schmalen Kästen vor den Fenstern der Mühle hatte Irina bunt angestrichen, mit Erde befüllt und dann wild bepflanzt. Vom überdachten Absatz der Außentreppe im ersten Stock ergoss sich Goldregen ein halbes Stockwerk nach unten. Seine kräftige Farbe leuchtete üppig vor der dunklen Holzverkleidung.

Der Anblick war atemberaubend. Vor allem, wenn man wusste, wie die Mühle noch vor wenigen Jahren ausgesehen hatte. Halb verfallen war sie damals ein schwarzer Verschlag gewesen, der selbst im strahlendsten Sonnenschein traurig und unheimlich ausgesehen und eine böse Aura ausgestrahlt hatte. Bei meiner Ankunft im Dorf war die Mühle bereits seit Generationen als Spukhaus verschrien. Jahrzehntelang hatte niemand mehr darin gewohnt. Gerüchte gingen, dass etwas Schreckliches hinter diesen Mauern geschehen war. So recht erinnerte sich aber niemand mehr daran, was wirklich vorge­fallen war. Von Mord und Totschlag war die Rede, eine Zeit lang befand sich die Mühle in Räuberhand. All das Schlechte, was hinter ihren Wänden geschehen war, hatte das Gemäuer selbst verdorben und zu etwas Bösem gemacht.

Niemand war gern hier vorbeigegangen, und so mancher Krämer und Wanderer hatte einen beträchtlichen Umweg in Kauf genommen, nur um nicht auf seinem Weg das seltsame Gebäude zu passieren. Rose hatte mir erzählt, dass die Dorfkinder früher Mutproben abgeschlossen hatten, wer sich näher daran herantraute. Vielleicht hatten die Dorfbewohner auch begonnen, Irina zu akzeptieren, weil sich mit ihrer Anwesenheit die Atmosphäre der Mühle völlig veränderte.

»Dann mal los.« Rose packte ihren Eschenstab, als würde sie in den Kampf ziehen, und trat vom Weg auf den Hof. Grinsend folge ich ihr in das Blumenmeer. In den Rabatten zu meiner Rechten hörte ich Insekten summen, und als wir am Wacholder vorbeikamen, sprang uns eine schwarz-weiß gefleckte Katze in den Weg und blickte uns fragend an. Wo Irina weilte, waren Tiere nicht weit.

»Es ist schön hier geworden, nicht wahr?« Behutsam fuhr ich mit meinen Fingerkuppen über die Blätter. Rose brummte nur. Ich schob mich an ihr vorbei und klopfte an die Tür. Irina war vermutlich eher geneigt, uns zu helfen, wenn ein freundliches Gesicht sie zuerst begrüßte. Außerdem waren die Tintenlinien im Grunde genommen mein Problem.

Irina öffnete nach meinem zweiten Klopfen. Sie hatte ihr schwarzes Haar in zahlreiche kleine Zöpfe geflochten und am Hinterkopf zu einem kunstvollen Knoten hochgesteckt. Es musste Stunden gedauert haben, sich so zu frisieren. Es sah wunderschön aus. Ich hatte so etwas noch nie gesehen.

Als sie erkannte, wer vor der Tür stand, lächelte sie. »Guten Morgen.«

Eine Bachstelze kam über den Hof geflattert und ließ sich auf ihrer Schulter nieder. Sie grub ihre Krallen in den Stoff von Irinas Hemd und schmiegte sich an sie. Die hob den Finger und streichelte sanft die helle Vogelbrust, ließ uns dabei jedoch keine Sekunde aus den Augen. »Na, kommt rein, ihr beide«, sagte sie dann.

Sie drehte sich um und verschwand im Haus, ohne sich zu versichern, dass wir ihr folgten. Über meine Schulter hinweg warf ich Rose einen Blick zu. Die aber zuckte nur mit den Schultern, und so betrat ich die alte Mühle.

Der Flur war schmal und dämmerig. Das dunkle Holz der Wandpaneele ließ ihn finster wirken. Daran konnten auch die Blumenkübel nichts ändern, die überall herumstanden. Ich hatte noch nie gesehen, dass man Efeu auch an einer Wand im Haus hochklettern ließ. So war Irina eben: eigen, wenn es um Pflanzen ging. Und um Tiere. Eine kleine Meise schmetterte uns ein fröhliches Lied entgegen. Sie saß auf einer abgestorbenen Baumwurzel, in die ein gnomenhaftes Gesicht geschnitzt war und die Irina an einer Stelle der Wand befestigt hatte, die noch nicht vom Efeu verschlungen worden war. Über den Boden vor uns flitzten im Zickzack zwei Eichhörnchen. Und durch die Geländerstreben einer Treppe, die steil nach oben führte, steckte ein Fuchs sein spitzes Gesicht. Er beobachtete uns wachsam und schien sich für die anderen Tiere überhaupt nicht zu interessieren.

»Passt auf bei der Treppe«, rief Irina uns zu, während sie vom Flur in eines der hinteren Zimmer abbog. »Den schwarzen Fleck dort habe ich immer noch nicht wegbekommen. Normalerweise ist er nur gefährlich, wenn man in den ersten Stock hinaufwill. Aber wenn Gäste im Haus sind, ist er unberechenbar.«

Unbehaglich warf ich einen Blick nach rechts. Das Zwielicht am Fuß der Treppe schien noch eine Spur düsterer zu sein als im restlichen Flur und irgendwie … kälter. Die Stelle löste widerstreitende Gefühle in mir aus: Beunruhigung, aber auch eine seltsame Faszination. Wie ein grauenhaftes Gemälde, von dem man einfach nicht den Blick abwenden konnte. Mein Herz begann zu klopfen und ich hatte das Gefühl, die Tintenflecken auf meinen Unterarmen herum­krabbeln zu spüren.

Rose schloss zu mir auf und legte mir die Hand auf die Schulter. Ob sie mich damit beruhigen wollte oder eher sich selbst, wusste ich nicht. Ihr ganzer Körper war angespannt.

»Komm«, stieß sie gepresst hervor und schob mich weiter.

Erleichtert atmete ich auf. Ich wusste selbst nicht weshalb, und schritt durch einen Türbogen in einen großen, lichten Raum, dessen hintere Fensterfront vom Fußboden bis zur Decke aus trübem Glas bestand. So dunkel es im Flur gewesen war, so hell war es hier.

Irina ging zu einem mächtigen Eichenholztisch in der Mitte des Raums. Darauf standen nicht nur allerlei Pflanzen, sondern auch Korbschalen, Tongefäße und Glasfläschchen. Vor Irina lagen ein hölzernes Schneidebrett und ein kleines Messer. Sie ergriff Mörser und Stößel. Hexenküche, schoss es mir durch den Kopf. Doch der Raum war so ganz anders als die unterirdische Gift- und Folterkammer der letzten Hexe, deren Haus wir betreten hatten. Wo uns das Grimoire in die Hände gefallen war. Das Kellerverlies jener Hexe hatte nach Blut, Angst und Tränen gestunken. Dieser Raum roch nach Frühling, Freundlichkeit und Leben.

»Wenn ihr Durst habt: Auf der Anrichte dort hinten steht ein Krug mit verdünntem Apfelsaft. Entschuldigt bitte, dass ich euch nicht selbst einschenke. Morgen ist Markttag und es gibt noch viel zu tun.«

Rose griff demonstrativ nach ihrer Wasserflasche am Gürtel und trank einen tiefen Schluck. Innerlich verdrehte ich die Augen, beschloss allerdings, keinesfalls auf das Thema einzugehen.

»Die Mühle ist unglaublich!«, platzte es stattdessen aus mir heraus.

Irina blickte auf und lächelte mich herzlich an. »Danke.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Bank, die auf der anderen Seite des Tisches stand. »Setzt euch.«

Rose setzte zu einer Erwiderung an, aber ehe sie ablehnen konnte, zog ich sie mit mir zur Bank und ließ mich darauf nieder. Unsere Gastgeberin nahm auf einem Holzstuhl Platz, legte jedoch Mörser und Stößel nicht aus der Hand.

»Wie hast du das so schnell geschafft?«, fragte ich neugierig.

Irina grinste mich spitzbübisch an. »Magie.«

Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt.

»Was führt euch zu mir?« Irina zupfte ein paar Blätter von einer Pflanze ab, um sie in den Mörser zu geben.

»Ich dachte, das wüsstest du. Hast du uns nicht erwartet?« Rose’ forscher Ton trieb mir die Röte ins Gesicht. Möglichst unauffällig trat ich ihr unter dem Tisch auf den Fuß.

Irina lachte nur. Der Bachstelze, die bis dahin auf ihrer Schulter gesessen hatte, wurde es offenbar zu unruhig auf ihrem Platz. Sie flog nach oben ins Gebälk, um sich dort niederzulassen. »Ich sehe, du hast immer noch deine Dornen. Warum kommst du zu mir, wenn du mir nicht traust?«

Ehe Rose antworten konnte, trat ich mit dem Fuß noch einmal zu. Fester diesmal.

»Sei uns nicht böse«, sagte ich schnell.

»Das bin ich nicht.«

Einen Augenblick lang schwiegen wir. Dann stellte Irina klappernd den Mörser beiseite und stand auf, um uns Apfelsaft einzuschenken.

Als sie uns die Getränke demonstrativ vor die Nase stellte, blitzten ihre Augen. »Ich weiß, dass du nicht aus reiner Höflichkeit auf einen Nachbarschaftsbesuch gekommen bist, Rosalie Lennards­tochter. Also: Was willst du?«

»Sie ist mit mir gekommen, weil ich sie darum gebeten habe. Ich bin es, die deine Hilfe braucht.« Ehe sie etwas erwidern konnte, nestelte ich an dem Hornknopf an meinem Ärmelbund herum und schob dann den Stoff nach oben, um den Unterarm freizulegen.

Als sie die Zeichen erblickte, finsterblau auf meiner schneeweißen Haut, sog Irina scharf die Luft ein. »Was ist das?!«

»Wir hatten gehofft, dass du uns das sagen könntest.« Rose’ Stimme klang nun nicht mehr angriffslustig.

»Sie sind von einem Zauberbuch«, sagte ich niedergeschlagen. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

Irina kam um den Tisch herum und setzte sich neben mich auf die Bank.

»Was für ein Zauberbuch?«

»Ein Grimoire.«

»Ich hab es dabei.« Rose ließ ihren Lederbeutel von der Schulter gleiten. Irina nahm meine Hand in ihre und beugte sich nah zu meinem Unterarm herunter. Die Symbole und Schlangenlinien führten wilde Tänze auf.

»Sind sie nur dort?«

Ich schüttelte den Kopf. »Auch auf dem anderen Unterarm.«

»Darf ich?«

Irina wartete meine Antwort nicht ab und schob auch den anderen Ärmel nach oben. In ihrer Miene spiegelte sich eine Mischung aus Faszination und Entsetzen, als sie eine Tintenspinne dabei beobachtete, wie sie sich zwischen zwei zackigen Runen hindurchquetschte und dann auf der Rückseite meines Arms verschwand.

»Hast du das gemacht?« Irina deutete auf die Bänder, die ich immer noch um meine Oberarme und Handgelenke gebunden trug.

»Rose hat mir geholfen.«

»Salbei und Rosenwasser?«

Ich nickte. »Und Minze.«

»Kluges Mädchen.« Sie umschloss meine Hände fest mit den ihren. »Ich will dich nicht anlügen, Muireann. Das, was ich sehe … das sind keine harmlosen Symbole auf deinen Armen. Das ist Hexenwerk.«

Ich schluckte.

»Hier ist das Buch.« Rose klang ungewohnt leise, als sie das Grimoire vorsichtig auf den Tisch legte. Irina streckte den Arm aus, um es zu sich zu ziehen, aber sobald sie das bronzebeschlagene Leder berührte, zuckten ihre Finger zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ihre Hände ballte sie zu Fäusten.

»Wo habt ihr das her?«, fragte sie scharf und ich konnte sehen, wie sich ihr Brustkorb schneller hob und senkte als gewöhnlich.

»Aus dem Keller einer Hexe«, sagte ich. »Es ist eine längere Geschichte.«

Irina verschränkte die Arme. »Wenn ich euch helfen soll, muss ich alles wissen.«

Also erzählten Rose und ich ihr abwechselnd die ganze schreckliche Geschichte.

Palast aus Gold und Tränen

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