Читать книгу Wendepunkte - Es gibt immer einen anderen Weg - Christian Knoche - Страница 10
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William – 2011
Will schaute durch die riesige Frontscheibe auf die Lichter der Stadt. Der kleine, dicke Mann erschien wieder und bot ihm eine Auswahl an Getränken an. Bei Bier und Rotwein schüttelte er den Kopf, griff eine Cola und ein Wasser und sortierte die Behälter in die dafür vorgesehenen Halterungen zwischen den Sitzen. Auch wieder so eine Sache – Plastikflaschen. Er verstand die Vorteile, hielt es aber trotzdem für eine Unsitte. Nichts schmeckte so gut wie eiskalte Cola aus einer Glasflasche. Der kleine Mann brachte eine Menükarte, und Will entschied sich für Hühnchen mit Bohnen und Reis. Das Essen war tatsächlich nicht übel. Er kaute langsam und bedächtig. Als er aufgegessen hatte, lag die Stadt bereits hinter ihnen. Im Licht der starken Scheinwerfer war die Straße zu sehen. Nur vereinzelt zogen die Rücklichter von überholenden Autos vorbei. Will wartete, bis sein Tablett abgeräumt wurde. Er stellte den Sitz gerade, stand auf und streckte sich. Die Ärmel seines khakifarbenen Hemdes rutschten zurück und gaben die Armbanduhr am linken Handgelenk frei. Es war zehn Uhr abends. Zeit, sich hinzulegen. Aber nicht, ohne vorher noch einen Rundgang zu machen. Er griff seine Tasche, hängte sich den Gurt um die Schulter und ging durch das Oberdeck. Die zwölf Sitze waren in Zweiergruppen montiert und konnten per Knopfdruck in kleine Betten verwandelt werden. Im hinteren Teil gab es eine einfache Küche und eine Toilette exklusiv für die Gäste der Luxusklasse. Sogar eine winzige Duschkabine war neben dem Toilettenbecken montiert. Will stieg die schmale Treppe zum Hauptdeck hinab und wurde prompt von dem kleinen, dicken Mann aufgehalten.
„Kann ich Ihnen helfen, Señor? Suchen Sie etwas?“, fragte er.
„Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich habe vorhin einen alten Bekannten einsteigen sehen“, sagte Will, „Ich würde mich gern vergewissern, ob er an Bord ist.“
Die kleine Kugel ließ ihn durch. Er lief einmal durch den Bus bis vor zum Fahrer. Ein Magnetschild hing an der Ablage über dem Sitz.
‘Hola, mi nombre es Pablo. Soy tu chofer.’, stand darauf. Der Name Pablo war auf ein Schildchen gedruckt, dass man an der entsprechenden Stelle einschieben konnte.
„Hola, Señor Pablo.“, sagte Will.
Der Mann nickte ihm zu, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
„Störe ich Sie, oder können wir kurz sprechen?“, fragte Will. Sein Spanisch war zwar fehlerfrei, aber auch nach über fünfzig Jahren immer noch von einem deutlichen amerikanischen Akzent untermalt.
„Nein, Sie stören nicht. Die Strecke ist gerade nicht sehr anspruchsvoll, und ich mag ein wenig Abwechslung.“, sagte der Fahrer in einem langsamen, sehr klaren Spanisch.
„Das freut mich, Señor Pablo. Mein Name ist John.“
Sein am häufigsten genutzter Deckname ging Will nach all diesen Jahren leichter über die Lippen als sein eigener.
„Hola, Señor John. Willkommen in meinem Bus! Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Reise?“
„Sehr angenehm.“
„Kann ich etwas für Sie tun, Señor John?“
„Nein, nichts, vielen Dank. Ich wollte nur wissen, wer den Bus so gekonnt aus der Stadt gesteuert hat. Ohne dass ich selbst jemals so ein Gefährt gelenkt hätte, war mir sofort klar, dass ein Profi am Werk sein muss. Sie haben sehr viel Gefühl für die Straße, Señor Pablo.“
„Vielen Dank! Das muss ich auch haben. Ich mache diesen Job schon sehr lange, und ich habe meine Fahrgäste immer unbeschadet an ihr Ziel gebracht. Gibt es sonst noch etwas, das Sie benötigen, Señor John?“
„Nein, vielen Dank! Ich weiß einfach nur gern, wem ich mich im Schlaf anvertraue.“
„Sie können unbesorgt sein. Wir Fahrer sind alle Profis und wechseln uns regelmäßig ab. Unsere Buslinie ist bekannt dafür, dass es noch nie einen Zwischenfall gab. Keine Unfälle, keine Überfälle, keine größeren Pannen.“
„Danke. Dann kann ich mich ja beruhigt schlafen legen.“
„Das können Sie, Señor John. Gute Nacht!“
„Gute Nacht, Señor Pablo.“
Will drehte sich um und besah sich die Fahrgäste. Der Bus war bis auf den letzten Platz besetzt. Zum überwiegenden Teil waren es Einheimische, einfache Leute, die er in seinem Rasterdenken als Indios verbuchte und in die Kategorie ungefährlich einstufte. Einige Fahrgäste jedoch fielen ihm auf. In der ersten Reihe gleich links von ihm saß ein europäisch aussehender junger Mann mit wilder Frisur. Neben ihm schlief eine junge Frau, die ebenfalls nicht von hier zu sein schien. Sie war wie eine Backpackerin gekleidet und sehr hübsch. Entweder die beiden waren kein Paar, oder sie hatten gerade ernsthaften Streit. Er konnte jedenfalls keine Anziehung spüren. Beide hatten sich voneinander abgewandt und schliefen in ihrem Sitzen. Zwei Reihen dahinter saß ein älteres Pärchen, das etwas besser gekleidet war als die Indios im Bus. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und redeten leise miteinander. Will schätzte sie auf etwa siebzig, aber Sie verhielten sich wie verliebte Teenager. Vielleicht eine späte Liebe. Nichts, was ihm Sorgen bereiten musste. Er ging langsam weiter. In der Mitte bemerkte er einen schlaksigen, ungewöhnlich großen Asiaten. Will hätte jede Wette gehalten, dass er Japaner war.
Schräg dahinter auf der anderen Seite des Ganges saß ein bärtiger Hüne mit Muskeln, die sein T-Shirt fast platzen ließen. Alles an ihm schrie nach USA. Er hatte die kleine Lampe über dem Sitz eingeschaltet und las konzentriert in einem zerfledderten Buch. Will sah im Vorbeigehen den Einband. ‘Zen and the Art of Motorcycle Maintenance’ stand darauf. Die kleine Frau neben ihm hatte kaum Platz in ihrem Sitz, obwohl sich der Mann bemühte, seinen massigen Oberkörper zur Seite zu lehnen. Irgendetwas an ihm erregte Wills Aufmerksamkeit. Er schaute einen Moment zu lange hin, und der Kerl reagierte sofort. Er sah von seinem Buch auf und begegnete Wills Blick. Jetzt war es zu spät, um einfach weiterzugehen. Es wäre auffällig gewesen. Der Riese schaute ihm direkt in die Augen. Hinter seinem ausufernden Bart deutete sich der Anflug eines Lächelns an. Will glaubte, einen spöttischen Ausdruck darin zu erkennen.
„Irgendwas nicht in Ordnung, Grandpa?“, sagte der Typ mit einer tiefen, seltsam sanften Stimme. Er hatte Will sofort richtig als Amerikaner identifiziert und Englisch gesprochen. Will erkannte den Akzent des mittleren Westens und stellte fest, dass er ebenfalls richtig gelegen hatte.
„Wen nennst Du Grandpa, Punk?“, sagte er, hob herausfordernd das Kinn und schaute demonstrativ über seine Schulter, als suche er jemanden, der gemeint sein könnte.
„Wen immer ich mag“, war die Antwort, „Und jetzt geh weiter, Grandpa. Ich werde nicht gerne angestarrt.“
Er hob das Buch und vertiefte sich erneut in seine Lektüre. Will ließ betont langsam seinen Blick durch den Bus schweifen und streifte dabei noch mehrmals den Fremden.
„Das hier ist ein freies Land. Ein freier Bus. Es steht niemandem zu, mir irgendwas vorzuschreiben“, sagte er sehr ruhig, „Oder siehst Du das vielleicht anders?“
Der Hüne hob wieder den haarigen Kopf und starrte ihn an. Diesmal war kein Lächeln zu erkennen, und in seinen Augen hatte sich ein kalter Blick ausgebreitet. Will kannte diese Augen. Er hatte sie hunderte Male gesehen, tausende. Das letzte Mal heute Morgen im Spiegel, als ihn die Erinnerungen wieder einholten. Es waren die Augen eines Killers.
„Mag sein“, sagte der Mann, und die Sanftheit war aus seiner Stimme verschwunden, „Aber das hier ist kein freier Sitzplatz. Ich habe dafür bezahlt, und ich will nicht angestarrt werden. Also geh weiter, Grandpa, oder ich helfe Dir auf die Beine!“
Will fluchte innerlich. Was tat er hier eigentlich? Er wollte unauffällig reisen und ließ sich in ein Wortgefecht mit diesem ungehobelten Fleischklotz verwickeln. Er war zu alt für solchen Blödsinn. Und er war zu nachlässig. Bei wirklicher Gefahr wäre ihm so eine Kinderei nie passiert. Er wäre weitergegangen, und der Kerl hätte ihn einige Sekunden später vergessen. Er bemerkte, dass bereits einige Augenpaare auf ihnen ruhten. Auch der schlaksige Japaner folgte ruhig, aber aufmerksam dem Geschehen. Es war an der Zeit, die Situation zu beenden.
„Du kannst nur darauf hoffen, dass wir uns kein zweites Mal treffen, Jungchen“, sagte er, „Sonst werde ich Dir Manieren beibringen.“
Ohne es bewusst zu wollen, schaute Will jetzt ebenfalls anders. Er konnte spüren, wie sich der Ausdruck in seinen Augen veränderte. Und er spürte, wie sein Gegenüber ihn als das erkannte, was er war. Ein Killer erkannte den anderen.
„Manieren haben mir noch nie weitergeholfen in meinem Leben.“, kam die Antwort, jetzt allerdings etwas respektvoller.
„Gute Manieren sind immer hilfreich“, sagte Will, „Mein Angebot steht - ich bringe sie Dir gern bei. Kostenlos.“
„Bevor Du anderen kostenlosen Unterricht anbietest, solltest Du vielleicht selbst nochmal zur Schule gehen. Da, wo ich herkomme, zählt es nicht zu guten Manieren, fremde Leute anzustarren.“
„Touché“, sagte Will, „Ich bin einfach nur ein Mann, der gerne weiß, wer mit ihm reist.“
„Das verstehe ich.“, sagte der Fremde, „Und ich bin einfach nur ein Mann, der gern anonym bleibt.“
„Sieht so aus, als verstünden wir uns.“, sagte Will.
Sie nickten sich respektvoll zu. Will ging weiter und schüttelte den Kopf über sich selbst. Wie alt musste er noch werden, bis er lernte, sich nicht provozieren zu lassen?