Читать книгу Wendepunkte - Es gibt immer einen anderen Weg - Christian Knoche - Страница 7
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André – 2011
Es war ein seltsames Gefühl, nicht mehr zurückzukönnen. Er hatte keine Ahnung, was vor ihm lag, aber der riesige Kontinent war für ihn jetzt Freiheit und Gefängnis zugleich. André wurde schwindelig bei dem Gedanken, und Übelkeit stieg in ihm auf. Die letzten Nächte hatte er kaum geschlafen. Irgendwann am Morgen war er ungeduscht und ziemlich bedröhnt an den Busbahnhof gelaufen und hatte dort zwei Stunden auf einer Bank gelegen, bis der Bus kam. Sein Sitzplatz war direkt vorne rechts. Er schob seinen Rucksack in ein Fach und ließ sich in die Polster fallen. Der Bus füllte sich mit Leuten, war aber höchstens zu einem Drittel besetzt, als er aus dem Terminal rollte. Die Fahrt von Rio de Janeiro nach São Paulo war mit acht Stunden angesetzt, ohne Zwischenstopp. Aber das hatte nichts zu heißen. Nach seinen bisherigen Erfahrungen waren Zeitangaben hier eher für Touristen und Hektiker. Niemand der Einheimischen nahm das ernst. Auch er würde lernen müssen, sich in seiner neuen Heimat damit abzufinden. Die Alte war für eine lange Zeit, vielleicht für immer, unerreichbar. Wo genau er sich niederlassen würde, was er tun würde, um zu überleben – André wusste es nicht. Er hatte sich etwas Zeit gegeben, um das für sich herauszufinden. Der Bus war ein günstiges und bequemes Transportmittel, gemacht für Leute, die viel Zeit, aber wenig Geld hatten. Und das traf hier auf die Meisten zu. Auf Pünktlichkeit legte fast niemand wert, auch André nicht.
Er hatte es sich auf seinem Sitz einigermaßen bequem gemacht und versuchte zu schlafen. Sie waren kaum zwanzig Kilometer gefahren, als sich der Verkehr staute. Jetzt standen sie seit einer Stunde auf einer Brücke, ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. André schlief unruhig, schreckte immer wieder hoch, hatte Nackenschmerzen und konnte nicht richtig durchatmen. Er hätte gerne geraucht, aber im Bus war das verboten, und aussteigen ließ ihn der Fahrer nicht. Vielleicht war es ein Fehler, sich zuerst Hals über Kopf in Partys zu stürzen. Aber er brauchte diesen Kontrast, und Rio war genau die Stadt dafür. Das Leben, das hinter ihm lag, war sehr geregelt und diszipliniert verlaufen. Nur so hatte er es geschafft, so lange keinen Fehler zu machen.
Er war schon einmal in Rio gewesen, als Tourist, vor einigen Jahren. Damals nur für wenige Tage, das Rückflugticket im Hotelsafe. Er hatte sich nicht mit Partys beschäftigt, sondern war durch das Land gereist, um für den Fall der Fälle zu sondieren. Jetzt war dieser Fall eingetreten, und alles war ganz anders. Diesmal wartete kein Rückflugticket im Hotel auf ihn. Dafür hatte er jetzt die richtigen Partys gefunden. Fernab der Touristenscharen und der surreal teuren Hotels hatte er mit den richtigen Brasilianern – und vor allem Brasilianerinnen - gefeiert. Er war allein losgezogen, mit seinem gebrochenen Portugiesisch aus dem Volkshochschulkurs. Das war nicht ungefährlich, da er sich als Ausländer in Gegenden der Stadt wagte, die man normalerweise mied. Nicht deshalb, weil bei ihm irgendetwas zu holen gewesen wäre. Sein Äußeres ließ nicht darauf schließen, dass er in einem unscheinbaren Hotelzimmer über zwanzigtausend Euro versteckt hatte. Aber er sah nicht schlecht aus, und die Mädchen hier mochten die Deutschen. Man konnte leicht in Eifersüchteleien hineingeraten. Mit den lokalen Gangs und Straßenkindern war nicht zu spaßen. Aber sie brachten auch nicht einfach so Ausländer um, nicht aus solch geringen Anlässen. Verletzte, entführte oder gar getötete Touristen waren schlecht fürs Geschäft. Die Polizei führte dann Sonderaktionen durch, vor allem in den Armenvierteln. Auch wenn es nur pro forma war, so wurde es doch immer unangenehm, wenn politischer Druck die Staatsgewalt entfesselte. Für die meisten war es lediglich ein Gefühl, das auf Zeitungsartikeln oder Fernsehberichten basierte, aber für viele war es bittere Realität. In den Städten tobte seit Jahrzehnten ein Schattenkrieg. An die Öffentlichkeit brach er nur selten durch, hielt sich fern von Copacabana, Ipanema, Parks und Restaurants. Gelegentlich, wenn ein heruntergekommener Mensch tot am Strand lag, las man darüber, schüttelte den Kopf und ging zur Normalität über. Niemand kümmerte sich darum. Die Leiche wurde weggeräumt, anonym bestattet und nur wenige Minuten später ging das Leben weiter wie gewohnt.
In den Favelas, den Armenvierteln von Rio de Janeiro, die wie die gleichnamige Pflanze die vielen Hügel der Stadt emporwucherten, herrschten eigene Gesetze und Regeln. Die meist illegal errichteten Siedlungen waren ein Tummelplatz für alle Arten von Gangs. Drogenhandel, Prostitution, illegale Waffen, gefälschte Dokumente – hier gab es alles. Die Polizei wurde dort nur als eine weitere Gang wahrgenommen, da sich über die Zeit die Fronten sehr verhärtet hatten. Schießereien, Racheaktionen und Morde standen auf der Schuldliste aller Parteien. Die Pufferzone zwischen den Favelas und den Touristenzentren war das normale Rio de Janeiro, wo all die besser situierten Arbeiter, Büroangestellten und Beamten lebten. Nicht reich genug für eines der Condominios, in denen sich die Geldelite vor der Wirklichkeit abschottete, aber auch nicht so arm, dass sie in den Favelas Zuflucht suchen mussten. Nicht so streng bewacht, dass man an jeder Ecke Polizisten sah, aber auch nicht der völligen Gesetzlosigkeit überlassen. Man musste sich trotzdem gut überlegen, ob es einem die Partys wert waren. Die Stimmung konnte schnell kippen, und dann war man in großer Gefahr.
André war es das wert. Er hatte in den letzten Nächten, wie man so schön sagt, krachen lassen. Für ihn war es eine völlig neue Erfahrung, sich auf diese Weise mit Frauen zu amüsieren. Beinahe schon normal, dachte er. Vielleicht hätte er viel früher hierherkommen sollen, vielleicht wäre dann alles anders verlaufen.
Mit der nachlassenden Wirkung von Drogen und Alkohol setzte eine Nüchternheit ein, die ihm die Umstände wieder klar vor Augen führte. Sein Geld würde eine Weile reichen, aber nicht ewig. Er musste einen Job finden. Ansonsten wäre er bald ohne finanzielle Mittel, obdachlos und kurze Zeit später vermutlich tot. Zwar besaß er einen brasilianischen Pass, aber nicht die anderen notwendigen Dokumente. Er würde eine Sozialversicherungsnummer brauchen, eine Krankenversicherung, und so weiter. Er konnte nicht einfach auf ein Amt gehen und die nötigen Anträge stellen. Niemand würde in den Datenbanken einen Roberto Jorge Maurer finden, und dann ginge die Fragerei los. Sein schlechtes Portugiesisch, sein deutsches Aussehen - spätestens dann würde auch jemand seinen Pass sehr gründlich unter die Lupe nehmen, und er würde auffliegen. Er konnte versuchen, irgendwo schwarz zu arbeiten, aber auch das war schwierig. Der brüchige Schutz, den er als Tourist in Rio genossen hatte, würde nicht lange halten. Irgendwer würde herausfinden, dass er etwas verheimlichte. Die Dinge kamen immer irgendwie ans Tageslicht. Allein, illegal im Land und ohne irgendwelche Verbindungen, war er vogelfrei, das wurde ihm plötzlich klar. Sollte er jemandem unliebsam werden, er wäre einfach nur irgendeine unbekannte Leiche von vielen. Wenn man ihn überhaupt fände. Vielleicht würde dann jemand die Datenbanken mit gesuchten Verbrechern aus Deutschland abgleichen, vielleicht würde jemand sein Bild erkennen, vielleicht würde er irgendwann identifiziert werden. Aber das alles würde ihm nichts mehr helfen. Niemand müsste mit Strafverfolgung rechnen, wenn er André einfach beseitigte. Das war definitiv eine Gefahr, und umso mehr ein Grund, nicht aufzufallen und sich vor allem nicht mit den falschen Leuten einzulassen.
André wischte sich kalten Schweiß von der Stirn und streckte seine rechte Hand flach vor sich aus. Sie zitterte so sehr, dass er es kaum schaffte, den Code auf seinem iPad einzugeben. Er konnte sich damit jetzt nicht beschäftigen. Es war einfach zu viel. Morgen. Nicht jetzt. Einen Schritt nach dem anderen. Er öffnete einen der Filme, die er sich heruntergeladen hatte, stöpselte die Kopfhörer in seine Ohren und schlief bald darauf ein.
Als er aufwachte, fuhren sie wieder. Sein Kopfschmerz hatte sich zu einem Hämmern gesteigert, das an- und wieder abschwoll. Mund und Hals waren so trocken, als hätte ihm im Schlaf jemand eine Schaufel Sand hineingeschüttet. Er musste geschnarcht haben und konnte zuerst kaum atmen. Auf seiner Shorts zeichnete sich eine Beule ab. Er hatte einen Ständer und musste auf die Toilette, was sich leider gegenseitig ausschloss. André trank einen Schluck lauwarmes Wasser aus der Plastikflasche, die er letzte Nacht irgendwo mitgenommen hatte. Es schmeckte leicht bitter, nach Kunststoff und noch irgendetwas Undefinierbarem, leicht Säuerlichem. Benommen stand er auf, streckte sich und stolperte den Mittelgang hinunter in Richtung der Toilette. Sie war eng, schmutzig und roch komisch. Er musste aufstoßen und spürte wieder den säuerlichen Geschmack im Hals. Das Innere seines Mundes zog sich zusammen, er würgte und übergab sich in das Klobecken und den Rest des winzigen Raumes. Vorsichtig quetschte er sich durch die schmale Tür und ging zurück auf seinen Platz. Er hoffte, dass niemand ihn beobachtet hatte und die Schweinerei nicht auf ihn zurückzuführen war.
„Que horas?“, fragte er den Fahrer.
„Que horas são.“, sagte der in belehrendem Ton und deutete auf die Uhr neben dem Armaturenbrett. Es war kurz nach vier am Nachmittag. Sie hätten eigentlich schon vor einer Stunde ankommen sollen.
„Onde somos?“, fragte er wieder, „Wo sind wir?“
„Mais um hora!“
Also noch eine Stunde. Sie würden mitten in der Rush Hour ankommen. André hatte ein Ticket bis Lima gekauft, die gesamte Strecke der Transoceanica. Nächster Stopp war São Paulo, der geplante Aufenthalt dort zwei Stunden. Er war auch dort kurz gewesen, mochte die Stadt aber nicht besonders. Die Leute waren nur halbe Brasilianer, arbeiteten relativ viel und hatten die Nase hoch oben im Wind. Die Einheimischen generell waren schon arrogant für ihren geringen Bildungsstand, aber die Paulistas, wie man die Einwohner São Paulos nannte, setzten noch mal eine Schippe drauf. Es begann schon damit, dass sie jeden automatisch für dumm hielten, der ihre Sprache nicht richtig konnte. Und entsprechend behandelten, nach der Logik: Das können doch hier schon Kinder, wer es als Erwachsener nicht beherrscht, der muss wohl etwas unterbelichtet sein. So gut wie niemand sprach allerdings irgendeine Fremdsprache, noch nicht mal Spanisch, ganz zu schweigen von Englisch. Die Leute hatten keine Vorstellung von der Welt. Ihr Kosmos war klein und sehr überschaubar.
„Ihr Deutschen habt die Uhr, und wir haben die Zeit.“, hatte mal irgendjemand zu ihm gesagt. Auch daran würde er sich wohl gewöhnen müssen. Es waren die Dinge, die ihn Deutschland jetzt schon vermissen ließen.
Sie passierten gerade den internationalen Flughafen von São Paulo in dem Vorort Guarulhos und schoben sich in einer zähen Blechlawine auf die Stadt zu. Er musste lang geschlafen haben. Beton kam in Sicht, Hochhäuser, noch mehr Beton, Autos, Lärm, Flugzeuge, Hubschrauber. Über allem hing eine Glocke aus schwefligem Siff, der den wolkenlosen Himmel in ein schmutzig-bräunliches Ocker färbte. André fror. Die Klimaanlage war sicher auf volle Leistung gestellt, wie meistens hier. Der Fahrer trug einen dunklen Anzug aus Schurwolle, dazu ein weißes Hemd und Krawatte. Auf seinem kahlen, braunen Schädel war nicht eine Schweißperle zu sehen. André überlegte kurz, ob er darum bitten sollte, die Lüftung etwas wärmer zu drehen. Aber er wusste, was das bringen würde, und ließ es bleiben. Er begnügte sich damit, die Auslassdüsen über seinem und dem leeren Sitz neben ihm abzudrehen, um so zumindest nicht mehr dem direkten Luftstrom ausgesetzt zu sein. Trotzdem hatte er die Befürchtung, dass es bereits zu spät war, und er eine dieser Tropenerkältungen bekommen würde. Die Luft wurde zunehmend schlechter. Die Klimaanlage konnte zwar kühlen, aber die Filter, falls überhaupt noch welche vorhanden waren, wurden mit der Luft nicht fertig. Sie saugten die schweflige Mischung mitten aus der Autoschlange an und bliesen sie ins Innere des Busses.
Langsam wälzte sich der Verkehr tiefer in die Stadt. Anfahren, bremsen, anfahren, bremsen, anfahren, bremsen, immer wieder und wieder. Das beklemmende Gefühl nahm zu. Sie kamen nicht von der Stelle. Sechs Fahrstreifen in jede Richtung, und nichts ging voran. Trotz des Stillstands war der Verkehr auf eine seltsame Art hektisch. Alle wechselten dauernd die Spuren, ohne dadurch schneller voranzukommen. Dabei kamen sie den Motoboys ins Gehege, wilden Asphaltcowboys, die Honda-Mopeds fuhren und alles Mögliche transportierten. Sie nutzten die schmalen Streifen zwischen den Autos, machten durch lautes Hupen auf sich aufmerksam und nahmen keinerlei Rücksicht. André schaute aus dem Fenster hinunter auf die Straße. Direkt vor ihnen wechselte ein Auto die Spur, ohne zu blinken, und hätte dabei fast einen der Motoboys gerammt, der mit viel zu hoher Geschwindigkeit irgendwo aus dem Durcheinander von Blech und Beton auftauchte. Er hupte, schrie etwas, fuhr aber mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Die Motoboys waren eine solidarische Gemeinschaft. Ein inoffizielles Gerücht besagte, dass in diesem Moloch mit zwanzig Millionen Menschen täglich drei bis vier von ihnen ihr Leben auf der Straße ließen. Das schweißte zusammen. Die nachfolgenden Fahrer hatten das Geschehen beobachtet und maßregelten den vermeintlichen Verkehrssünder auf ihre Weise. Einer stoppte ab, hämmerte gegen das Fenster des Autos und brüllte irgendetwas. Der nächste rief so laut, dass André den ziemlich derben Fluch verstand. Der dritte beschleunigte, hob den Fuß und trat mit gekonntem Schwung den Spiegel ab. Der vierte trat eine Beule in die Tür, und ein weiterer erledigte den Spiegel auf der rechten Seite. Bußgeld auf São Paulo-Art, von Leuten, die sich selbst verkehrswidrig verhalten, für jemanden, der kurz nicht aufgepasst hat. André war es egal. Der Bus wirkte ziemlich stabil, und was sich draußen abspielte, war nicht seine Angelegenheit. Er war noch nicht lange in Brasilien, und dennoch hatte er solche Szenen schon öfter beobachtet. Daher wunderte es ihn kaum, als der Autofahrer plötzlich die verbeulte Tür aufriss, aus dem Wagen sprang und einen Revolver hochriss. Scheinbar ergebnislos feuerte er hinter den Motoboys her. Man konnte von Glück reden, dass nicht irgendwer weiter vorn in dem Durcheinander verletzt wurde. Er brüllte noch etwas, stieg wieder in sein Auto und fuhr ruckelnd in die Lücke, die sich mittlerweile vor dem Bus gebildet hatte. Die Autofahrer ringsum schauten angestrengt geradeaus und versuchten krampfhaft, das Geschehen zu ignorieren. Der Busfahrer griff zum Handy und telefonierte. André schloss aus den Wortfetzen, die er auffangen konnte, dass er mit seiner Frau sprach und ihr das Geschehen schilderte. Es passierte weiter nichts Nennenswertes im Verkehr, und kurze Zeit später war es, als hätte das alles nie stattgefunden. Die Autos hupten und wechselten unkoordiniert die Spuren, die Motoboys hupten und rasten durch die Zwischenräume, und ab und zu hupte auch der Busfahrer, wahrscheinlich einfach, um dazuzugehören oder um seiner Lebensfreude Ausdruck zu verleihen.
André nickte wieder ein. Wenig später wurde er erneut geweckt, diesmal von Sirenengeheul und noch lauterem Hupen. Schlaftrunken stütze er sich im Sitz hoch und versuchte, die Lärmquelle zu identifizieren. Es waren mehrere graue Toyota Hilux mit Blaulicht und Bemalung im Stil amerikanischer Spezialeinheiten, die sich ihren Weg durch den Stau bahnten. Ein militärisches Emblem und die Aufschrift ROTA auf der Seite kennzeichneten die Autos als Teil einer berüchtigten Polizeitruppe. André hatte davon gehört. Es war eine Spezialeinheit der Polizei von São Paulo, die nicht für zimperliches Vorgehen bekannt war. Die äußerst blutige Niederschlagung einer Gefängnisrevolte vor vielen Jahren hatte den Ruf der Einheit zementiert, keine Gefangenen zu machen. Die Polizisten schufen sich mit roher Gewalt und aggressivem Fahrstil einen Weg durch die Autos, rammten mit den Bullenfängern an ihren Hilux einige Motoboys und Autos einfach weg und fuhren weiter. Die Fenster waren heruntergelassen und aus jedem Auto schauten drei grau uniformierte Polizisten mit Barrett auf dem Kopf und Waffe im Anschlag. Einer der Wagen schrammte am Bus vorbei und der Polizist hinten links konnte sich gerade noch rechtzeitig wieder ins Auto werfen, sonst wäre er zerquetscht worden. Die vier Fahrzeuge drängten etwa zehn oder elf Autos vor dem Bus einen schwarzen VW von der Straße, verkeilten das Auto in der Leitplanke und sprangen aus den Fahrzeugen. Ein Schuss, noch einer, einige Feuerstöße aus Maschinenpistolen, dazwischen das dumpfe Knallen von Schrotflinten. Es war eine Szene wie aus einem Kriegsgebiet. Aus dem eingeklemmten VW spritzten Glassplitter, und André konnte erkennen, wie der Mann am Lenkrad zusammensackte. André ging unwillkürlich in Deckung, wohl wissend, dass nichts in diesem Bus auch nur einem einzigen Geschoss aus einer normalen Pistole standhalten würde. Aber er konnte trotzdem versuchen, kein allzu großes Ziel abzugeben. Die anderen Fahrgäste drängten sich nach vorn, um besser sehen zu können. Draußen sprang jemand aus dem geborstenen Heckfenster des eingeklemmten Autos und rannte auf den Bus zu. Erneut knallten Schüsse, der Mann brach zusammen und blieb liegen. Die Straße unter ihm färbte sich rot. André wurde schlecht.
„Ist das normal hier in São Paulo?“, hörte er einen der Fahrgäste den Busfahrer fragen.
„Der Stau schon.“, antwortete der Fahrer trocken.
Seltsamerweise dauerte es nicht sehr lang, bis die Aufräumarbeiten vor ihnen abgeschlossen waren und sich der Verkehr wieder in Bewegung setzte. Die Polizisten kippten den zerschossenen und verbeulten VW mit vereinten Kräften über die Leitplanke, warfen die zwei Toten auf die Ladeflächen ihrer Autos und fuhren weiter, wie sie gekommen waren. André konnte jetzt definitiv nicht mehr schlafen und schaute aus dem Fenster in die Betonwüste. Riesige Werbetafeln thronten über einfachen Hütten aus Brettern und Wellblech, die teilweise mehrere Stockwerke hoch waren und über die Straße ragten. Dazwischen immer wieder Tankstellen, Werkstätten, kleine Geschäfte, einfache Häuser, Bananenpalmen und Menschen, die irgendetwas verkauften. São Paulo war überhaupt nicht mit Rio zu vergleichen. Rio, die Stadt mit den vielen Hügeln, war aufgelockert und sehr grün. Meeresluft und Wind bliesen die Abgase einfach weg, und auch der Verkehr war wesentlich entspannter. São Paulo lag siebenhundert Meter höher, hatte keinen direkten Zugang zum Meer, und war grau und stickig. Innerhalb weniger Minuten wurde es dunkel, fast nachtschwarz, und dicke Wolken hingen über ihnen. Einige Tropfen klatschten an die Scheiben, glitten ab und liefen am Glas herunter. Sie fielen dichter und mit größerer Wucht, dann regnete es sintflutartig, man sah kaum das nächste Auto vor sich. Die riesigen Scheibenwischer arbeiteten verzweifelt gegen die Wassermassen an, hatten aber dieser Naturgewalt nichts entgegenzusetzen. Der zubetonierte Untergrund konnte die Wassermassen nicht aufnehmen und der Verkehr kam erneut zum Erliegen. Das Wasser stieg, erst einige Zentimeter, dann stand es den Autos schon bis zur Mitte der Räder. André sah, wie die Leute fluchten, gestikulierten und noch mehr hupten. Der Lärm überforderte ihn. Er setzte sich seine Kopfhörer auf und schlief wieder ein. Irgendwann wurde er etwas unsanft vom Fahrer geweckt.
„Chegamos!“, kam die knarzende Durchsage.
Sie waren angekommen am Terminal Barra Funda, einem der großen Knotenpunkte für Busse und Bahnen in Brasilien. Mit fast fünf Stunden Verspätung. Der Aufenthalt wurde auf eine halbe Stunde verkürzt, um die Verzögerung zumindest etwas auszugleichen. André streckte sich, griff seinen Rucksack und stand langsam auf. Vorsichtig kletterte er die Stufen hinunter und sprang aus dem Bus. Es war schwül und wurde langsam dunkel. Die Straßenlaternen schalteten sich ein. In ihrem gelblichen Licht waberten Schwaden von Wasserdampf, den der aufgeheizte Asphalt aufsteigen ließ. André schaute sich um, fand einen kleinen Imbiss und kaufte sich zwei Dosen Cola, zwei Flaschen Wasser, einen gegrillten Käse und zwei in Folie verpackte, dick mit Mortadella belegte Brötchen. Alles war frisch und sah lecker aus. Der Mann holte die Getränke und Sandwiches aus Styroporboxen. Die Kisten waren mit Aluminiumfolie umwickelt und die Eiswürfel darin kaum geschmolzen. Der Verkäufer hatte eine Art Grill, gebaut aus einem kleinen Blecheimer, den er an einer langen Kette gekonnt umherschwenkte, so dass die Holzkohle zu glühen begann, die rechteckigen Käsestangen mit Holzstiel aber nicht herunterfielen. André kannte dieses Prinzip vom Strand und genoss den knusprigen und mit Oregano gewürzten Käse. Er hatte fast vierundzwanzig Stunden nichts gegessen. Es wurde Zeit, dass sein angeschlagener Magen wieder etwas zu tun bekam.
An einem anderen Stand kaufte er sich eine gekühlte Kokosnuss. Die Verkäuferin, eine Schwarze von etwa siebzig Jahren und ohne Zähne, hackte sie gekonnt mit drei Schlägen einer Machete auf. Sie musste das hunderttausende Mal gemacht haben, dachte André. Jeder Handgriff saß perfekt. Dann fiel sein Blick auf ihre linke Hand, und er sah, dass der Daumen fehlte. Er kaufte sich noch zwei Büchsen Bier, verstaute seine Einkäufe im Rucksack und ging zurück zum Bus. Der Fahrer hatte gewechselt, und es waren noch zwei weitere hinzugekommen. Sie standen vor der Tür und begrüßten die Fahrgäste freundlich. Ein älterer Mann im Anzug kontrollierte die Tickets. Diesmal war der Bus zumindest im unteren Bereich voll bis auf den letzten Platz. Langsam setzten sie sich in Bewegung und fuhren aus der riesigen Stadt. Mit dem Chaos und Lärm wich langsam auch seine Verwirrtheit. Hier auf dem Land würde er genug Zeit haben, um sein neues Leben zu planen.