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8.

William – 2011

Will ging langsam weiter den Gang hinunter. Weiter hinten saß neben einem Mann mit Glatze ein erwachsen wirkendes Mädchen im späten Teenageralter. Sie war leger gekleidet. Ihr Hintern schaute halb aus einer sehr kurzen Jeans. Auch ein weiter Kapuzenpullover konnte nicht über den sehr entwickelten Körper der jungen Frau hinwegtäuschen. Der Mann neben ihr war für eine Busreise eher ungewöhnlich gekleidet. Sockenlose Füße steckten in mehrfarbigen Skechers, über denen locker hellbeige Chinos hingen. Sein hellblaues Polohemd mit dem grünen Krokodil auf der Brust hatte er in die Hose gesteckt. Muskulöse Oberarme dehnten die Bündchen an den Ärmeln. Seine ganze Erscheinung hätte wesentlich besser auf einen Golfplatz gepasst als in einen Bus in Südamerika. Seine Haut war tiefschwarz, Will tippte auf Südstaaten. Die Haut des Mädchens war heller, aber sie hatten dieselben Gesichtszüge. Es waren garantiert Vater und Tochter. Wahrscheinlich war die Mutter weiß. Nicht, dass die Hautfarbe an sich eine Rolle für ihn gespielt hätte, aber Details waren wichtig. Man konnte nie wissen, wozu es gut war. Hier im Bus konnte er jedenfalls keine Frau entdecken, die als Mutter des Mädchens in Frage gekommen wäre. Also reisten die zwei allein. Beide trugen teure Kopfhörer und starrten auf Tablets vor sich. Die hektischen Lichtwechsel der Filme spiegelten sich auf ihren Gesichtern. Sehr offensichtlich Touristen, unaufmerksam gegenüber ihrer Umgebung und mit teurer Unterhaltungselektronik ausgestattet – solche Leute liefen immer Gefahr, überfallen zu werden. Er jedenfalls hätte sie sich sofort ausgesucht, wäre er ein Straßenräuber. Langsam ging er weiter. Im restlichen Bus fiel ihm niemand Besonderes mehr auf. Er stieg die Treppe wieder hinauf. Die Luxusklasse war noch immer leer bis auf den Mann, der auf einem Sitz schräg hinter ihm lag und las. Als Will im Aufgang erschien, hob er die Augen und lächelte ihn freundlich an.

„Hola!“, sagte er.

Will grüßte zurück.

„Wie geht es Ihnen? Ist alles in Ordnung?“, fragte der Mann. Will zog die Augenbrauen zusammen.

„Ja. Warum fragen Sie?“

„Sie atmen etwas schwer.“

„Und was geht Sie das an?“, fragte er ungewollt schroff. Der Mann ließ den Sitz aufrecht fahren und nahm die Brille ab. Will stand noch immer im Treppenaufgang und hielt sich mit der rechten Hand am Geländer fest.

„Entschuldigen Sie bitte.“, sagte der Mann, „Es ist eine Berufskrankheit. Ich bin Arzt, und so sehe ich überall Kranke. Genauso, wie ein Polizist …“

„…überall Verbrecher sieht, jaja.“, unterbrach ihn Will, „Es geht mir gut, danke. Ich bin nur ein bisschen außer Form vom langen Sitzen.“

Er kniff die Augen zusammen und schaute den Mann genau an.

„Sagen Sie“, fuhr er fort, „Waren wir nicht schon zusammen im Bus von Buenos Aires nach São Paulo?“

Es war eine rhetorische Frage. Will hatte ihn auf jeden Fall zwischen den anderen Fahrgästen gesehen.

„Ich erinnere mich nicht, Sie gesehen zu haben, aber es kann sein.“, sagte der Mann. Er stand auf, ging auf Will zu und streckte ihm die Hand entgegen.

„Dr. Ignácio Fernandes. Sehr erfreut.“

„Smith. John Smith.“, sagte Will und schüttelte die Hand. Der Mann war einen Kopf größer als er, hager, und jünger, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

„Und was führt Sie nach Lima, Dr. Fernandes?“

„Familie. Eine lange Geschichte. Ich will Sie damit nicht langweilen.“

Will hatte keine Ahnung warum, aber er mochte den jungen Mann. Es kam nur selten vor, und es war in seinem Beruf eher schädlich, aber manchmal traf er Menschen, die er sofort leiden konnte. Er hatte über die Jahre gelernt, seinem Gefühl zu vertrauen. Durch manche Menschen konnte er hindurchsehen wie durch Glas. An ihnen war nichts Falsches, Unehrliches, Heimliches oder Bösartiges. Dieser Dr. Fernandes war so ein Mensch. Die Fahrt war lang, und er war plötzlich nicht mehr müde.

„Sie erscheinen mir nicht wie ein Mann, der eine langweilige Geschichte erzählen würde, Dr. Fernandes. Und ich brauche nicht viel Schlaf. Also wenn Sie mögen – was treibt Sie hierher, noch dazu in einem so anachronistischen Transportmittel?“

Will deutete mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. Tatsächlich nahm der junge Mann Platz, und er setzte sich ebenfalls. Der kleine Dicke brachte ihnen eine Flasche Rotwein, und sie stießen an.

Wendepunkte - Es gibt immer einen anderen Weg

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