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2.

William – 2011

„Nein, danke“, sagte Will auf Spanisch, „Ich schaffe das allein.“

Ein kleiner, dicker Mann mit einem Hemd, von dem die Knöpfe wegzufliegen drohten, wollte ihm bei Verstauen seines Gepäcks helfen. Es war einer der Fahrer, Will hatte ihn vorhin draußen vor dem Bus mit zwei anderen Männern beobachtet, die alle die gleiche Kleidung trugen. Schwarze Hosen, weiße Hemden, eine Krawatte und darüber ein Jackett mit dem Emblem der Busfirma auf der Brust.

„Sicher?“, fragte der Mann.

„Ja, sicher. Danke!“

Der kleine Dicke zuckte die Schultern, warf die Handflächen in die Luft und ging zum nächsten Sitzplatz, um dem Fahrgast dort mit seinem Gepäck zu helfen.

Will hob seinen Koffer in das Fach und nahm in dem bequemen Sitz Platz. Er atmete durch und wartete, bis sich sein Puls beruhigt und sein Blut wieder mit genug Sauerstoff gesättigt hatte. Der Weg vom Bus aus Buenos Aires über das riesige Terminal bis zu seinem Platz, Koffer und Tasche hinter sich herschleppend, hatte ihn erschöpft. Es war heiß, und er konnte noch nie gut mit Hitze umgehen. Früher hatte er einfach so viel geraucht und getrunken, bis er es nicht mehr spürte. Aber diese Zeiten waren vorbei. Langsam beugte er sich vor, zog den Riemen der großen Ledertasche über seinen Kopf und stellte das Gepäckstück auf den leeren Sitz neben sich. Der Platz war, wie auch die meisten anderen im Oberdeck, nicht besetzt. Seine rechte Hand suchte das Panel mit den Schaltern und drückte daran herum, bis der Sitz mit einem summenden Geräusch in eine bequemere Position gefahren war. Will ließ sich tiefer in die Polster sinken, entspannte Kopf und Nacken auf dem bequemen Kissen und ließ den Blick schweifen. Es war im Prinzip unsinnvoll, mit dem Bus zu reisen. Das Ticket für einen Sitz auf dem Luxusdeck war teurer als ein Flugticket, und die Reise dauerte Tage statt Stunden. Aber Will mochte es bequem, und er mochte die modernen Flugzeuge nicht. Früher hatte er auch dort Bequemlichkeit und Service genossen, wenn er zivile Maschinen benutzte. Es gab selbst auf Inlandsflügen immer eine Business Class mit großen, angenehm gepolsterten Sitzen und ausgezeichnetem Essen. Heute waren die Flugzeuge bis auf den letzten Zentimeter mit engen, harten Sitzen vollgestopft und zu essen bekam man bestenfalls ein pappiges Brötchen, für das auch noch ein Aufpreis verlangt wurde. Nein, er wollte sich das nicht antun. Außerdem hatte er Zeit. Viele Menschen in seinem Alter hätten das sicherlich anders gesehen. Mit fünfundachtzig wusste man nie, wann es einen erwischte. Will war es egal. Er hatte mit Mitte siebzig aufgehört, seine Geburtstage zu zählen. Zeit war jedenfalls nicht sein Problem. Außerdem bot der Bus ihm einen Vorteil, den kein ziviles Flugzeug hatte, und zwar Privatsphäre. Niemand kontrollierte allzu genau die Reisepässe. An den drei Landesgrenzen, die er auf seiner Reise zu überqueren hatte, würde auch niemand nach dem fragen, was er in seiner Tasche mitführte. Und er war schon immer vorsichtig. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste und sorgfältige Planung ihre Großmutter. Will neigte dazu, die Rolle des Glücks in seinem Leben herunterzuspielen. Es passte nicht zu seinem Selbstbild, sich auf Glück zu verlassen. Wenn er sich fragte, warum er so lange überlebt hatte, dann kam ihm immer wieder die Vorsicht als Antwort in den Sinn.

Der Busfahrer löste die Bremsen. Das Gefährt setzte sich in Bewegung und glitt sanft aus dem Terminal hinaus auf die vielspurige Straße, die aus der Stadt führte. Der Fahrer war ein Könner, das spürte er sofort. Die Bewegungen waren fließend, entspannt, fast wie ein Tanz mit dem unebenen Asphalt voller Schlaglöcher. Wie ein Riese durch eine hektische Menschenmenge glitt der Bus durch die Unruhe des Verkehrs, scheinbar immun gegen das allgegenwärtige Gewusel zu seinen Füßen. Wills Blick richtete sich in die Weite und fokussierte sich auf das noch unsichtbare Ziel: Lima. In zwei Tagen würde dort ein Flugzeug aus New Jersey landen, und sie würde an Bord sein. Ihre Rückkehr in ein südamerikanisches Land war auch nach über dreißig Jahren noch riskant. Vielleicht hatte man sie vergessen, ziemlich sicher sogar. Aber es konnte eben auch sein, dass dem nicht so war. Fernandes war kein Dummkopf, und er war noch immer sehr mächtig. Die heute allgegenwärtige elektronische Überwachung konnte wahre Wunder vollbringen, wenn man wirklich nach jemandem suchte. Nicht zuletzt deswegen fühlte Will sich sicherer, wenn er die Strecke vorher getestet hatte. Auf dem Rückweg würde sie neben ihm sitzen, er würde ihre Hand halten, und sie würde bekommen, wonach sie sich so lange gesehnt hatte.

Wendepunkte - Es gibt immer einen anderen Weg

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