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7.

James – 2010

Schwere Stiefel hielten vor der Autotür inne. Ein kurzes Klimpern, dann ein metallisches Klacken und die Tür öffnete sich. Eine große Ledertasche flog auf die Mittelkonsole. Der schwere Pick-up wackelte merklich, als sich sein vielleicht zukünftiger Besitzer hineinschob und den Motor anließ.

„Ah.“, sagte er, „V8. Ich liebe es.“

„Na, dann wollen wir den Wagen mal ausführen, nicht wahr?“

Winestone setzte sich auf den Beifahrersitz. Er hatte ein etwas mulmiges Gefühl. In seinen vielen Jahren als Autoverkäufer in Ohio war er allerlei Typen gewohnt, durchaus auch skurrile Gesellen. Ein gediegener Herr im Anzug, dessen Scheck platzte. Ein junger Kerl in Latzhose und Gummistiefeln, mit Flecken auf der Kleidung und Stallgeruch im Haar, der nach der Probefahrt gleich mehrere Autos bar bezahlte und auf seine Farm liefern ließ. Eine adrette Ärztin in rosa Pumps, der beim Vorlegen der Papiere ein .44 Magnum Revolver aus der Handtasche fiel. Der Typ, der jedes Jahr ein neues Auto kaufte und immer seinen kleinen Sohn entscheiden ließ, welches es sein sollte. Er hatte gelernt, niemals nach dem Äußeren zu urteilen und jeden Kunden gleich zu behandeln. Das bedeutete: zuvorkommend und freundlich. Auch wenn die Leute selbst nichts kauften, wer wusste schon, wen sie wiederum kannten und ihn weiterempfahlen. Das war sein Erfolgsrezept, seit über zwanzig Jahren. Er trichterte es auch seinen Angestellten ein. Bei denen, die es kapierten, funktionierte es ausgezeichnet. Diejenigen, die es nicht kapierten, feuerte er.

Dieser Typ hier war ihm trotzdem unheimlich. Nicht, dass er direkt Angst gehabt hätte, dass nun nicht. Aber irgendetwas war schräg an diesem Kerl. Es war schwer zu beurteilen, wonach der Mann roch. Es konnte einfach ein Geruch sein, der sich ergab, wenn jemand lange nicht duschte. Oder auch einfach nur lang dieselben Kleider trug. Er musste über zwei Meter groß sein, in dem geräumigen Pick-up jedenfalls rieben seine wirr abstehenden Haare am Kabinendach. Auch der Rest seines Kopfes war umwuchert. Ein seit längerem sich selbst überlassener Bart bedeckte weite Teile des Gesichts und der braungebrannten Brust, die sich unter dem halb geöffneten Hemd abzeichnete.

„Ist Ihnen eigentlich nicht kalt?“, wollte Winestone wissen.

Das Haargewirr drehte sich zu ihm. Aus einem Loch im Bart kam eine überraschend sanfte Stimme.

„Sie klingen wie meine Mutter.“

Winestone senkte den Blick.

„Na dann mal los! Wollen Sie die Standardroute oder haben Sie was Eigenes im Sinn?“

„Ich kenne mich aus.“, lautete die Antwort.

Der Fremde ließ den Motor aufröhren und donnerte, ohne den Querverkehr zu beachten, von dem umzäunten Gelände auf die Hauptstraße des kleinen Ortes hinaus. Der Wagen sprang über den Bordstein, federte durch und verfehlte nur um Haaresbreite einen Hydranten. Der Mann riss das Lenkrad nach links, das Heck des Wagens brach aus und drohte, eine der Parkuhren zu rammen. Mit einer, wie Winestone feststellte, durchaus routinierten Bewegung korrigierte er das Lenkrad, fing das Fahrzeug ab und beschleunigte geradeaus die Straße hinunter.

„Meine Güte!“, sagte Winestone, „Was, wenn jetzt jemand gekommen wäre?“

„Unwahrscheinlich. Hier fahren doch nur drei Autos am Tag.“, sagte sein potenzieller Kunde mit ruhigem Ernst und sah ihn an. Teile des Gestrüpps hoben sich und ließen vermuten, dass er lächelte. Seine Augen blieben seltsam abwesend und schienen durch Winestone hindurchzuschauen.

„Achtung!“, sagte der, „Da vorn kommt ein Fußgängerüberweg. Sie sind viel zu schnell, meine Güte! Was, wenn jetzt jemand da über die Straße läuft?“

„Dann bremse ich.“, war die Antwort. Wieder dieser Blick.

„Könnten Sie bitte auf die Straße schauen?“

Winestone mischte sich normalerweise nicht in den Fahrstil seiner Kunden ein. Aber der hier fuhr wie ein Geisteskranker. So etwas war ihm noch nie passiert. Wie hieß dieser Typ noch gleich? James Tiberius Diggensak stand im Führerschein. Ausgestellt in Ohio. Mit der rechten Hand hielt Winestone sich an dem Griff über der Tür fest, mit der linken umklammerte er seine Ledermappe mit den Unterlagen. Sie schossen mit mindestens sechzig Meilen pro Stunde aus der Ortschaft hinaus, als dieser Diggensak plötzlich das Steuer herumriss und den Pick-up in einen der Wirtschaftswege zwischen den Feldern steuerte. Mit unverminderter Geschwindigkeit raste er die holprige Piste entlang.

„Mr. Diggensak, würden Sie bitte kurz anhalten?“, sagte Winestone so freundlich wie möglich über den Lärm hinweg.

„Bin gleich fertig.“, antwortete der. Der Wagen machte eine Bewegung nach unten, als wolle er ins Erdinnere vorstoßen, hob dann ab und Winestones Mageninhalt war für einen Moment schwerelos, nur um dann wieder wie von einer Faust umklammert nach unten gerissen zu werden. Braunes Wasser aus Pfützen klatschte auf die Scheiben. Winestone entglitt seine Mappe, und ein Regen bunter Prospekte und Vertragsvordrucke segelte durch das Auto. Es reichte. Über zwanzig Jahre Freundlichkeit, zuvorkommendes Lächeln und Gedanken an seine Reputation hatten sich in ihm aufgestaut und bildeten eine gefährliche Mischung.

„Anhalten!“, brüllte er, „Sofort! Du vollkommen irrer Hurensohn! Willst Du mich umbringen?“

Gleichzeitig griff er unter seinen dicken Mantel und zog die Glock aus dem Schulterholster hervor. Er war mutig, sich immer wieder zu Fremden in den Wagen zu setzen, aber eben auch nicht wahnsinnig. Sicher war sicher. Der Wagen wurde langsamer und hielt schließlich an. Die Wischautomatik ließ die Gummibänder vergeblich über Matsch und Sandkörner quietschen. Diggensak saß unbeweglich da und starrte durch ihn hindurch in die Ferne. Seine Lederjacke quietschte leicht. Winestone hielt die Glock mit der rechten Hand, mit der linken drehte er den Schlüssel herum und zog ihn heraus. Er riss die Tür auf, sprang aus dem Wagen und versank mitsamt seinen Slippern bis an die Unterschenkel in eisigem Matsch. Er riss sich los. Mit einem schmatzenden Geräusch gab der Schlamm seine Beine frei und behielt seine Schuhe als Faustpfand. Er stapfte los, den Oberkörper weit vorgebeugt, verzweifelt die Beine nachziehend als wären sie von Gewichten gehalten, die Glock in der Faust. Es kam ihm ewig vor, aber er schaffte es um den Wagen herum. Mit links riss er die Tür auf, mit rechts hielt er die Pistole auf die Öffnung gerichtet.

„Aussteigen! Sofort!“

Diggensak gehorchte, hob andeutungsweise die Hände und ließ sich aus dem Wagen gleiten. Er war zwei Köpfe größer als Winestone. Seine riesigen Stiefel funktionierten wie Schneeschuhe und hielten ihn über dem Matsch, was ihn noch größer erscheinen ließ.

„Was zum Teufel …“, keuchte Winestone, „Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?“

„Ich dachte, wir machen eine Probefahrt.“, sagte der Riese. Es klang etwas beleidigt.

„Sie können doch nicht …“, Winestone war noch immer außer Atem. Ihm wurde schwindelig, und er beugte den Oberkörper vornüber. Mit der Linken stützte er sich auf dem Knie ab, mit der Rechten hielt er die Waffe auf Diggensak gerichtet. In der darauffolgenden unachtsamen Sekunde machte der eine fließende Bewegung nach vorn, griff mit einer Hand die Pistole, mit der anderen Winestones Handgelenk und nahm ihm die Glock weg wie einem Kind ein Spielzeug. Winestones Zeigefinger wurde entgegen dem natürlichen Winkel gebogen und blieb schmerzhaft an dem Bügel hängen, der den Abzug der Pistole schützte. Dann gab das Gelenk ein Knirschen von sich und stechender Schmerz trat anstelle des unangenehmen Gefühls. Winestone umklammerte den zerstörten Zeigefinger und sank vornüber auf die Knie in den Matsch. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, dann schrie er schrill auf und begann zu jammern.

„Was habe ich Ihnen getan, man? Ich will doch nur Autos verkaufen! Ich will doch nur ganz in Ruhe Autos verkaufen. Ich habe Familie! Kinder! Enkel!“

Er blickte auf. Diggensak stand vor ihm und hielt die Pistole auf ihn gerichtet. Winestone dachte daran, was wohl in seiner Todesanzeige stehen würde. Der erfolgreichste Autoverkäufer Ohios, erschossen, im Matsch kniend und ohne Schuhe, mit seiner eigenen Waffe. Aber Diggensak ließ die Pistole sinken, nahm das Magazin heraus und zog den Schlitten zurück.

„Da war ja nicht mal eine Patrone in der Kammer.“, stellte er trocken fest und schüttelte den Kopf. Er schob Waffe und Magazin in seine Gesäßtasche, was dazu führte, dass die Hose noch weiter herunterrutschte als sowieso schon. Eiserne Pranken packten Winestone unter den Armen und zogen ihn aus dem Matsch wie ein Kind. Diggensak stellte ihn auf die Beine und schaute im ihn die Augen.

„Tut mir leid, man. Die Reflexe.“, sagte er, „Lassen Sie mal sehen.“

Er inspizierte Winestones Hand mit dem malträtierten Finger.

„Ist ausgekugelt am Gelenk. Warten Sie kurz.“

Der Riese drehte sich um und Winestone starrte auf die obere Hälfte eines haarigen Hinterteils. Darunter hingen Pistole und Magazin halb aus der Gesäßtasche. Diggensak hielt immer noch seine Hand. Den Arm hatte er zwischen den gewaltigen Muskeln seines Oberarms und Torso eingeklemmt. Vorsichtig zog und drückte an Winestones Finger, fühlte nach Knochen und Gelenken, dann ein plötzlicher Ruck und ein Knacken. Winestone schrie auf. Für einen Moment spürte er nichts mehr, dann durchschoss ihn ein Gefühl, als hätte er sich den Musikantenknochen gestoßen. Diggensak gab seinen Arm frei. Winestone hob die Hand und schaute darauf. Alles sah normal aus. Der Zeigefinger hatte kaum Gefühl, ließ sich aber wieder bewegen. Von dem Schmerz und den vorangegangenen Ereignissen halb betäubt, spürte er keine Kraft für Wut mehr in sich.

„Was haben Sie sich dabei gedacht, man“, fragte er wieder, „Sie fahren mir den Wagen ja zu Schrott!“

„Wieso denn?“, sagte Diggensak mit ehrlicher Unschuld, „Die sind doch dafür gebaut. Hab schon ganz andere Sachen mit so einem Auto gemacht. Außerdem kaufe ich den doch, wenn nichts kaputt ist.“

„Das war mir nicht klar.“, sagte Winestone, „Und trotzdem – Sie gefährden doch andere Menschen.“

„Wen habe ich denn gefährdet?“, fragte Diggensak.

„Mich, zum Beispiel!“

„Na ja, wenn Sie mit einer Knarre rumfuchteln, da kommt eben das Training in mir durch.“

Wieder dieser beleidigte, fast kindliche Tonfall aus dem bärtigen Gestrüpp eines Riesen. Winestone richtete sich auf.

„Tut mir leid. Das ist mir noch nie passiert, in so vielen Jahren nicht. Wahrscheinlich die Nerven.“

„Kenne ich.“, sagte Diggensak, „Wollen wir wieder einsteigen?“

Winestone nickte und schaute an sich herunter. Strümpfe und Teile der Hosenbeine waren unter braunem Schlamm nur noch zu erahnen. Diggensak schaute auf seine Füße, dann ging er, ohne ein Wort zu sagen, um den Wagen herum und kam mit zwei Matschklumpen zurück, in denen Winestones Slipper zu Fossilen geworden wären, hätte man sie in diesem Acker gelassen. Winestone kletterte über Fahrersitz und Mittelkonsole hinweg auf den Beifahrersitz zurück. Diggensak stieg ein, schlug die Tür zu, streckte die Hand aus und schaute ihn an. Winestone verstand erst nicht, dann ging ihm ein Licht auf und er fingerte den Schlüssel aus seiner Hosentasche. Diggensak ließ den Motor an, drehte die Heizung voll auf und richtete den Luftstrom in den Fußraum. Dann hob er seine Ledertasche auf, griff hinein und holte zwei Büchsen Bier heraus. Er reichte eine Winestone, die andere verschwand beinahe vollständig in seiner Pranke.

„Vorsichtig. Die könnten etwas garstig sein nach der holprigen Fahrt.“

„Nicht nur die Biere!“, sagte Winestone und öffnete vorsichtig die Büchse. Etwas Schaum tropfte auf seine Hose. Er stieß mit Diggensak an.

„James.“, sagte der.

„Jack.“, sagte Winestone.

„Also, James – was treibst Du mit der Kiste auf einer Farm, dass die sowas aushalten muss?“

„Wer sagt, dass ich eine Farm habe?“

„Ich dachte nur, weil Du von hier bist und ein Auto brauchst, dass geländegängig ist …“

„Ne. Mich hat es hier noch nie lange gehalten. Ich werde ein bisschen auf Tour gehen. Südwärts.“

„Du meinst Mexiko?“, fragte Winestone, leicht alarmiert.

„Nein. Weiter. Viel weiter.“

Wendepunkte - Es gibt immer einen anderen Weg

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