Читать книгу Wendepunkte - Es gibt immer einen anderen Weg - Christian Knoche - Страница 9

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3.

William – 1943

„Willyboy! Du hast Besuch!“, hallte die Stimme von unten die Treppe hinauf.

„Mom!“, rief er zurück, peinlich berührt, kam sofort hinuntergehastet und begrüßte seinen Gast. Lisa stand im Türrahmen, die Nachmittagssonne im Rücken.

„Sorry.“, sagte er und grinste verlegen.

„Mütter, was?“

Sie lachte.

„Ja. Mütter.“

„Wie geht’s Dir, Will?“

„Gut, tatsächlich. Laufen wir ein Stück?“

„Klar.“

Sie verließen das Haus, und er zog die Tür hinter sich zu. Über die Schulter sah er seine Mutter, die mit ernster Miene am Fenster stand und ihnen nachschaute. Wie schon so oft gingen sie gemeinsam den langen Weg zur Straße entlang. In der Ferne konnte man über die Äcker hinweg das nächste Haus erkennen. Eine Weile schwiegen sie. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus.

„Nun sag schon, Will, wie war es?“

„Hart. Anstrengend. Aber es macht auch Spaß.“

„Du siehst gut aus in Uniform.“

„Danke. Und Du in Deinem Kleid!“

Sie lächelten sich an wie die verlegenen Teenager, die sie waren.

„Wie war es für Dich?“, fragte er nach einer Weile.

„Es war lang. Drei Monate!“

„Es war lang, ja. Für mich ging die Zeit trotzdem schnell vorbei. Sie lassen Dir keine Ruhe, weißt Du?“

„Nein, weiß ich nicht.“

„Hast Du meine Briefe bekommen?“

„Ich habe sie bekommen. Ich habe sie auch gelesen. Aber ich weiß immer noch nicht, wie es ist.“

„Sie bringen einem alles bei, was man wissen muss als Soldat. Morgens geht es so früh raus, dass man in der ersten Stunde gar nicht weiß, wie einem eigentlich geschieht. Und abends ist man so müde und erschöpft, dass man schläft wie ein Stein. Die Ausbilder sind nicht gerade freundlich, und zimperlich sind sie auch nicht. Wir haben sie gehasst. Aber ich glaube, das versteht man wohl nur, wenn man dabei war.“

„Vielleicht, ja. Und wie ging es weiter? Komm schon, Will, warum lässt Du Dir heute alles aus der Nase ziehen?“

„Es hat mich verletzt, dass Du nicht auf meine Briefe geantwortet hast.“, sagte er und starrte in die Ferne, „Ich kann es verstehen, aber es hat mich verletzt.“

„Tut mir leid.“

„Bist Du noch wütend?“, fragte er und schaute sie an.

„Ich bin wahnsinnig froh, Dich zu sehen. Aber irgendwie auch wütend, ja.“

„Warum?“

„Du fragst mich warum? Ich frage Dich, Will! Warum? Warum machst Du das?“

„Ich weiß nicht. Ich kann nicht anders.“

„Ist es wegen Deinem Vater?“

„Vielleicht, ja.“

„Was bist Du ihm schuldig? Er war doch nie da! Das hast Du selbst gesagt.“

„Er macht das ja nicht für sich, verstehst Du? Er macht es für sein Land, für uns alle. Genauso wie ich jetzt.“

„Das ist nicht wahr. Ich glaube, am Ende macht doch jeder alles für sich selbst.“

„Ich weiß nicht, was Du damit meinst.“

„Ich glaube, Du willst einfach, dass Dein Vater irgendwann zu Dir sagt: gut gemacht. Du möchtest, dass er Dir auf die Schulter klopft, vielleicht noch einen Orden an die Brust hängt, und stolz auf Dich ist. Aber eigentlich willst Du das nicht für ihn, sondern damit Du Dich endlich gut fühlst. Du brauchst die Anerkennung des großen Major Colby.“

„Colonel.“

„Was auch immer.“

Sie liefen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her.

„Wie geht es jetzt mit uns weiter?“, fragte er schließlich. Sie antwortete nicht. Die Straße unter ihren Füßen war trocken. Staub wirbelte bei jedem Schritt auf und färbte ihre Schuhe grau. Sie waren jetzt mitten in den Maisfeldern, in einem Meer von hellem Grün. Vor und hinter ihnen lag die Straße, ansonsten waren da nur die großen Pflanzen. Ein sanfter Wind ließ die Blätter leise rascheln.

„Kennst Du noch Mrs. Ellis, unsere alte Nachbarin in Wilmington?“, fragte sie.

„Ja.“

„Vor ein paar Wochen kam ein Auto vorgefahren und zwei Männer in Uniform stiegen aus und brachten ihr einen Brief. Sie hat so laut geschrien, dass man es die ganze Straße entlang hören konnte. Er war ein Jahr älter als wir, Will. Dann, eine Woche später, kamen sie wieder. Diesmal war es der Bruder. Überall in der Nachbarschaft sind diese Briefe angekommen, und es werden immer mehr.“

Sie blieb stehen, fasste ihn um die Hüften und drehte ihn zu sich.

„Ich habe lange nachgedacht. Ich liebe Dich, William Colby. Ich weiß, viele wie wir heiraten kurz vorher. Er verspricht, heil zurückzukommen. Sie verspricht, auf ihn zu warten. Aber ich kann das nicht. Ich kann nicht in Angst leben davor, dass ich auch so einen Brief bekomme.“

„Mir wird nichts passieren, Lisa! Glaub mir.“

Sie drehte den Kopf weg, schaute neben sich in den Staub. Ihre weißen Pumps waren von einer grauen Schicht bedeckt. Sanft trat sie gegen einen kleinen Stein. Die Kiesel rollte ein Stück den Weg entlang, wurde langsamer und blieb auf dem Weg liegen.

„Ich arbeite nachmittags freiwillig im Hospital. Wir bekommen viele Verwundete dort, wegen des Hafens. Die Schiffe aus Europa legen hier an. Neulich habe ich Arthur Banks dort gesehen. Erinnerst Du Dich noch an Arthur?“

„Ja klar, von der Schule.“

„Er ging vor einem Jahr rüber“, fuhr sie fort, „Seine Augen, Will! Er hat durch alles hindurchgeschaut, als würde er in die Ferne starren. Sie schauen fast alle so, aber ich habe es bis dahin nicht bemerkt. Ihn kannte ich vorher. Innerhalb von einem Jahr ist er ein alter Mann geworden. Er ist in Frankreich in einem Wald auf eine Mine getreten. Seine Beine sind weg. Und sein …“

Sie schaute an ihm herunter, drehte ihren schwarzen Lockenkopf weg und starrte über den Staub der Straße in die Ferne.

„Er war mit Jane Willerslow verlobt. Sie arbeitet mit mir zusammen in der Klinik. Zwei Tage, bevor er sich eingeschifft hat, haben sie geheiratet. Weißt Du, was er zu ihr gesagt hat, bevor er ging?“

Will schüttelte den Kopf.

„Er hat ihr versprochen, dass er heil zurückkommt. Und was ist mit ihm passiert? Sie können keine Babys haben. Kein Leben als Eheleute.“

„Er hat eben nicht gut genug aufgepasst. Und ja, so etwas kommt schon vor. Aber das ist kolossales Pech. Man kann auch hier einen Autounfall haben, oder beim Baden im Meer ertrinken. Das passiert auch jedes Jahr. Aber ich werde aufpassen!“

Sie schaute ihn geradeheraus an.

„Janes Vater arbeitet für die Army. Er ist Mathematiker. Er darf nicht darüber reden, tut es aber trotzdem. Sie nennen es Operations Research. Welche Einheiten wohin geschickt werden müssen, welches Material wo, in welcher Menge benötigt wird, genau zur richtigen Zeit, und so weiter. Kompliziertes Zeug. Jedenfalls rechnen sie alles Mögliche aus. Weißt Du, wie hoch die Chance ist, getötet oder schwer verwundet zu werden?“

„Nein.“

„Er hat auch das ausgerechnet. Nach drei Monaten Kampfeinsatz ist die Chance einhundert Prozent. Verstehst Du das? Kapierst Du, was das heißt? Das sagen sie euch natürlich nicht, bei eurer Ausbildung und eurem Training. Aber wenn der Krieg noch ein Jahr dauert, dann wirst Du zu einhundert Prozent sicher getötet oder verwundet. Und das denke ich mir nicht aus.“

„Unsinn.“

„Eben nicht! Und die ganzen Jungs im Hospital, wenn sie sich nachts unterhalten? Ich habe genug der Geschichten mitbekommen. Es heißt immer, alles wäre geplant und organisiert, aber dann geht es doch drunter und drüber. Die Offiziere wissen nicht, wo die Deutschen sind, die Artillerie schießt daneben. Die Fallschirmspringer werden sonst wo abgesetzt und irren wochenlang umher, bis sie ihre Einheiten wiederfinden. Feindliche Panzer tauchen auf, wo sie nicht sein sollten, und dann sind einige hundert Soldaten tot oder schwer verwundet, bis überhaupt jemand mitbekommt, was passiert ist. Ich wollte Dir das eigentlich nicht sagen. Jetzt habe ich es trotzdem getan. Aber es ändert ja doch nichts.“

„Das sind alles Kriegsgeschichten. Soldaten übertreiben, genau wie Angler oder Jäger. Lass uns heiraten, Lisa. Ich komme wieder, an einem Stück, und dann ziehen wir hier raus aufs Land, haben Kinder und alles wird gut.“

Sie fasste ihn bei den Händen und sah ihn geradeheraus an.

„Nur mal angenommen – und ich bete zu Gott, dass es so kommt – es passiert Dir nichts Schlimmes und Du kommst zurück. Was wird dann sein? Wirst Du in irgendeiner Fabrik arbeiten? Die Farm übernehmen?“

„Ja. Zum Beispiel. Irgendetwas wird sich schon ergeben.“

„Ich kenne Dich, so lange ich denken kann, William Colby. Du bist wie Dein Vater. Du wirst niemals irgendwo Ruhe finden. Und ich will dieses Leben nicht. Ich will nicht allein zu Hause sein und Kinder großziehen, Dich nie sehen und Angst davor haben, dass Du nie zurückkommst. Ich kann das nicht.“

Er befreite sich vom Griff ihrer Hände und ging weiter.

„Es gibt jemanden, oder?“

Sie schwieg.

„Sei einfach ehrlich zu mir, Lisa.“

„Ja. Es gibt jemanden.“

Er drehte sich um, wendete ihr den Rücken zu, zog seine Mütze vom Kopf und schaute in den Himmel. Sein Brustkorb weitete sich, ließ die Luft entweichen, dann drehte er sich langsam wieder um.

„Liebst Du ihn?“

„Ja. Ich denke schon, ja.“

„Du denkst schon?“

Er lachte bitter.

„Ja, Will, ich liebe ihn. Aber nicht so wie Dich. Ich werde in meinem ganzen Leben niemals jemanden wieder so lieben wie Dich.“

Er drehte um und ging langsam zurück zum Farmhaus. Sie folgte ihm, ohne ein Wort zu sagen, nach oben.

„Ist das wirklich wahr?“, fragte er.

„Was denn?“

„Das Du niemanden so lieben wirst wie mich?“

„Natürlich. Du weißt, dass es so ist.“

„Und warum können wir dann nicht zusammen sein?“

„Weil Du es nicht kannst. Du kannst nicht an einem Ort bleiben. Du wirst die Gefahr suchen. Bis es Dich eines Tages umbringt.“

„Ich könnte weglaufen, untertauchen. Sie haben noch nie jemanden erschossen wegen Fahnenflucht.“

„Nein. Das bist nicht Du. Gerade weil ich Dich liebe, könnte ich das niemals zulassen. Du musst tun, was Du tun musst. Und ich muss tun, was ich tun muss.“

Sie fasste ihn wieder um die Hüften, zog ihn zu sich heran und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Eine Stunde später richtete sie sich erschöpft auf und setzte sich auf die Bettkante. Er setzte sich ebenfalls, rutschte zu ihr hinüber und umarmte sie von hinten. Sie drehte sich um und lachte ihn an. Er strich ihr durch die tiefschwarzen Locken. Spielerisch schubste sie ihn nach hinten um und setzte sich auf ihn. Als draußen die Dämmerung hereinbrach, zog sie sich an.

„Ich muss jetzt gehen, Will. Leb wohl!“

Er war aus seinem erschöpften Schlummer hochgeschreckt und noch nicht bereit, die Realität wieder an sich heranzulassen.

„Ich fahre Dich!“, sagte er und richtete sich auf.

„Nein!“, sagte sie entschieden, „Ich nehme den Bus. Man muss uns in Wilmington nicht zusammen sehen.“

„Dann wenigstens bis an den Stadtrand.“

„Es ist okay, wirklich.“

Sie lächelte ihm sanft zu. Dieses Lächeln, der Gedanke daran, dass sie es einem anderen schenkte, dass sie diesem Mann so nahe war wie sie sich gerade, all diese Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er wollte diese Frau nicht verlieren und hatte es doch bereits getan. Und jetzt tat er, was junge Männer so oft taten, wenn ihre Liebe zerbrach. Er zog in den Krieg. Aber noch wollte er sie nicht gehen lassen.

„Ich will Dich fahren, Lisa“, sagte er, „Bitte. Wenn nicht für Dich, dann für mich.“

„Es wird dadurch nicht leichter werden.“

„Ich weiß. Gerade deswegen. Ich möchte nur noch ein paar Minuten mehr mit Dir. Nur noch diese eine Stunde Fahrt.“

„Wie Du magst, Will. Aber dann werde ich gehen und mich nicht umdrehen.“

Im Auto schwiegen sie. Er ließ sich Zeit, ließ den Wagen langsam laufen. Sie schien nichts dagegen zu haben, hielt die Hand aus dem Fenster und spielte mit dem Fahrtwind. Am Stadtrand hielt er an. Von hier aus würde sie den Bus nehmen.

Ihr Lockenkopf wandte sich von ihm ab, als sie die Tür öffnete. In die Öffnung hinein sagte sie:

„Leb wohl, William Colby. Und pass auf Dich auf.“

Dann stieg sie aus und ging zu den Lichtkegeln der Lampen an der Haltestelle. Wie versprochen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Will wendete den Wagen und fuhr davon. Ein reißendes Gefühl in seinem Brustkorb verhinderte, dass er durchatmen konnte. Eine Faust legte sich um seine Kehle und drückte zu. Er kämpfte kurz dagegen an, dann ließ er es geschehen. Seine Mundwinkel verkrampften sich zu einer Grimasse. Er stoppte den Wagen in einem Feldweg, legte Kopf und Hände auf das Lenkrad und weinte hemmungslos. Er hatte keine Ahnung, wie lange, aber irgendwann war alles aus ihm heraus. Er fühlte sich leer, aber auf eine gewisse Weise auch befreit. Morgen würde er auf ein Schiff steigen und große Abenteuer vollbringen. Und dann würde er zurückkommen, lebendig und unversehrt, und er würde sie zurückgewinnen.

Vierzehn Monate später stand First Lieutenant William Colby an Deck der USS McCawley, genoss die Meeresluft und die Sonne, die bereits etwas über dem Zenit wieder in Richtung Westen drehte. Seit einer Stunde waren die Hafenanlagen von Wilmington in Sicht. Neben ihm tauchte Whitmore auf.

„Na, Lieutenant, was macht der Arm?“

„Was soll er machen? Tut weh.“, lachte Will.

„Ich habe was für Dich.“

Will nahm die Zigarette aus dem Mund. Vorsichtig klemmte er sie in der linken Hand fest, die in einer Schlinge hing und bis zu den mittleren Fingergelenken in einem Gips steckte. Er griff nach dem Becher, den Whitmore ihm hinhielt und roch daran. Es war eindeutig eine gehörige Portion Schnaps darin, und vermutlich etwas Codein.

„Danke, Sarge.“

Sie stießen an.

„Auf die Heimat!“, sagte Whitmore.

„Auf die Heimat.“

„Was wirst Du jetzt machen, Lieutenant Colby? Als hochdekorierter Veteran?“

Will zuckte die Schultern.

„Weiß nicht. Du?“

„Du meinst, abgesehen davon, dass ich heimfahre zu meiner Mary, und es ihr stecken werde, bis mir der Schwanz abfällt?“

Will schüttelte grinsend den Kopf. Die Zigarette war abgebrannt und seine Finger wurden heiß. Er wedelte mit dem Gips und verschüttet dabei etwas von dem Getränk in seiner Tasse.

„Ja. Abgesehen davon.“

„Ich such mir nen Job, verdiene Geld, kauf ein Auto und ein Haus und denke niemals wieder an diesen scheiß Krieg oder an einen einzigen von euch verdammten Hurensöhnen.“

Er lachte und prostete Will zu.

„Aber in einem Jahr sehen wir uns wieder, was?“

„Be hell or high water, Lieutenant!“

Sie schauten still an den Horizont, über den sich langsam die Silhouette der Stadt schob.

„Glaubst Du, sie hat wirklich gewartet?“, fragte Whitmore.

„Deine Mary? Klar!“

„Ich hoffe es auch.“

„Ich weiß es, Sarge. Ich habe sie noch nie gesehen, aber ich kenne Dich besser als irgendwen. Und nach allem, was Du erzählt hast, habe ich keinen Zweifel.“

„Danke, Will.“

Sie tranken schweigend die Spezialmischung, als Whitmore plötzlich laut zu lachen begann.

„Weißt Du noch, Will, nach dem Clusterfuck im Hurtgen-Wald?“

Auch Will musste lachen. Er wusste genau, was Whitmore meinte.

Es war das größte Desaster, von dem sie im ganzen Krieg gehört hatten. Und sie waren mittendrin. Die Schlacht vom Hürtgenwald sollte später in die Militärgeschichte eingehen als ein Beispiel dafür, was alles schieflaufen konnte. Ein wochenlanges Gemetzel in Kälte und Frost, in einem unheimlichen Wald voller Minen, Sprengfallen, Scharfschützen und Mörsergranaten, geführt mit äußerster Brutalität. Splitter von getroffenen Bäumen und Klumpen aus dem steinhart gefrorenen Boden wurden genauso gefährlich, wie die Geschosse selbst. Nach einem heftigen Gefecht, bei denen große Teile ihrer Kompanie inklusiver der fähigsten Offiziere ihr Leben ließen, hatte man ihnen einige Tage Ruhe hinter der Front zugestanden. Als Ersatz für ihren Kompanieführer schickte man ihnen einen dieser Schreibstubencaptains, der ihnen als erste Amtshandlung ein Himmelfahrtskommando zuteilte.

„Dieser Auftrag ist ebenso gefährlich wie sinnlos, Captain.“, hatte Will gesagt, „Wir werden alle dabei draufgehen, und zwar ohne irgendeinen militärischen Nutzen.“

„Sie haben Ihre Befehle, Lieutenant“, hatte der Mann geantwortet, und Will hatte eine Linie überschritten. Er sagte es ohne Aufregung, aber er nannte den Captain einen aufpolierten Schreibtischhengst ohne Eier und hätte sich beinahe ein Militärgerichtsverfahren eingehandelt. Die Rettung tauchte dann in Form eines Colonels auf.

„Ich finde, der Mann hat einen Punkt, Captain.“, sagte dieser nüchtern und ließ den verdatterten Offizier wegtreten. Die gesamte Truppe hatte applaudiert. Will musste zweimal hinschauen, bis er das Namensschild auf der Uniform erkannte. Colonel Arthur J. Colby. Der Einsatz wurde abgebrochen, der Captain zurück an den Schreibtisch verbannt. Später in dieser Woche hatte ihn sein Vater ins Hauptquartier zitiert.

„Aus Dir ist ja ein richtiger Soldat geworden, William!“

„Danke, Colonel.“

„Wie geht es so zu Hause?“

„Ich weiß es nicht, Colonel. Ich war fast ein Jahr nicht dort.“

„Hm. Und hier, wie ist es hier?“

„Es ist … Es ist ein großes Abenteuer, Sir.“

„Freut mich, dass Du es so siehst, Sohn.“

„Danke, Sir.“, sagte Will, salutierte und wartete auf das Kommando zum Wegtreten.

„Ach, und Lieutenant Colby?“

„Ja, Sir?“

„Seien Sie in Zukunft etwas vorsichtiger mit öffentlicher Kritik an Offizieren, ja? Sowas kann auch anders ausgehen.“

„Jawohl, Sir.“, sagte er, salutierte und trat in militärisch zügigem Schritt aus dem Zelt.

„Das war tatsächlich ein glücklicher Zufall“, sagte Will, „Obwohl mir hinterher von einigen Stellen Nepotismus vorgeworfen wurde.“

„Scheiß auf Nepo-fucking-tismus. Du und Dein alter Herr, ihr habt uns an dem Tag den Arsch gerettet. Keiner von uns wäre noch am Leben, wenn wir diesen idiotischen Befehl ausgeführt hätten.“

„Da hast Du wahrscheinlich Recht.“

„Aber mal ernsthaft. Der Krieg ist vorbei. Wir haben überlebt. Es ist alles in Butter. Was machst Du jetzt?“

„Ja. Der Krieg ist vorbei. Aber irgendwas sagt mir, dass es nicht lange dauern wird bis zum Nächsten. Tut es doch nie.“

„Woran denkst Du?“, fragte Whitmore und klang dabei etwas besorgt.

„Keine Ahnung. Wenn Du Dir die Geschichte anschaust, ist immer irgendwo Krieg. Und wir werden uns nicht mehr raushalten können, so wie früher. Die Zeiten sind vorbei. Die Welt wird eins, und wir sind nicht mehr für uns allein hier in God’s own Country. Mit der Besatzung in Deutschland, den Russen überall – es wird noch mehr kommen, glaube mir.“

„Du meinst, wir werden gegen die Russen Krieg führen?“

„Kann schon sein. Ich will es nicht hoffen, aber es ist auch nicht unwahrscheinlich.“

„Und Du willst wieder dabei sein?“

„Vielleicht, ja.“

„Ernsthaft?“

„Ja. Es klingt vielleicht verrückt, aber irgendwie hat es mir gefallen.“

Whitmore starrte in die Ferne und nahm einen Schluck von der dampfenden Flüssigkeit aus seinem Becher.

„Ich weiß, was Du meinst. Für mich ist es nichts, aber ich weiß, was Du meinst.“

„Glaubst Du, es ist die richtige Entscheidung?“

„Du bist ne andere Type als ich, Will. Du bist ne andere Type als alle, die ich in dem scheiß Krieg getroffen habe. Ich bin kein Feigling, das weißt Du. Hab mich nie gedrückt. Die anderen auch nicht. Trotzdem sind uns allen mal die Nerven durchgegangen. Jeder, der sagt, er hätte keine Angst, lügt. Aber Du …“

Er machte eine Pause und nahm einen kräftigen Schluck. „Du hast den richtigen Satz Eier für diese Art von Fickerei. Du kannst im größten Schlamassel noch klar denken. Das hat uns den Arsch gerettet, immer wieder. Klar, es gibt immer noch kolossales Pech. Fog of war. Aber abgesehen davon …“

Will sah ihn an und zog einen Mundwinkel nach oben.

„Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.“

„Ob es die richtige Entscheidung ist? Du hast doch die Entscheidung schon längst getroffen. Warum fragst Du ausgerechnet mich? Du bist doch nicht ernsthaft bei irgendwas unsicher, oder?“

„Da ist dieses Mädchen. Vielleicht das Einzige auf der Welt, bei dem ich mir unsicher bin.“

„Lisa? Ich dachte, sie sei mit nem anderen zusammen.“

„Ja. Sogar verheiratet mittlerweile.“

„Ach du Scheiße.“

„Na und? Was heißt das schon.“

„Auch wahr“, brummte Whitmore.

„Also, was denkst Du?“, drängte Will ihn erneut.

„Ich bin wie gesagt ne andere Type. Werd nicht in der Army bleiben und befördert werden. Werd auch nicht aufs College und studieren wie dieser Bücherwurm Amos. Ich geh nach Hause zu meiner Mary. Mach ihr Kinder. Such mir nen Job. Wenn es schief geht, such ich mir nen anderen. Ich werd jeden Tag irgendwo hingehen und machen, was mir einer sagt. Bis zum Ruhestand.“

„Das könnte ich auch tun. Vielleicht nicht mit Lisa, aber ich würde schon jemanden finden.“

„Ich denke, Du kannst alles haben, was Du willst. Aber Du kannst nicht wollen, was Du nicht willst.“

„Und Du denkst, ich will das nicht?“

„Ich halte Dich einfach nicht für nen Kerl, der lange an einem Ort bleibt. Versteh mich nicht falsch, aber ich seh Dich auch keine Kinder großziehen. Wenn Du Kinder hast, dann so wie Dschingis Khan. Nicht wie ich oder Amos oder die anderen. Wäre auch Verschwendung.“

„Wie meinst Du das?“

„Jeder Volltrottel kann sich ne Frau suchen, ihr Kinder machen und irgendwo arbeiten, bis er stirbt. Was Du kannst, das können nur wenige. Irgendwie denke ich, Du musst das tun.“

Will starrte in die Ferne und knetete seine Tasse.

„Wahrscheinlich hast Du Recht.“

„Klar hab ich das. Also. Was machst Du jetzt?“

„Erstmal nach Hause. Schaue bei Lisa vorbei, dann bei Mom. Mal sehen, was danach kommt. Wahrscheinlich gehe ich zurück nach Deutschland.“

„Was da?“

„Sie haben mir eine Position bei der Army Intelligence angeboten. Wollen mich zum Captain machen.“

„Captain, was? Nicht schlecht.“

„Ja. Nicht schlecht. Ich soll russisch lernen.“

Whitmore lachte.

„Hab keine Ahnung davon. Aber ich würde sagen, Du brauchst noch ne Tasse Whitmore Spezial.“

Er nahm Will den Becher ab und verschwand unter Deck.

Es dauerte zwei weitere Tage, bis sie in Wilmington einlaufen konnten. Will stand Whitmore gegenüber am Kai. Der hatte seinen Seesack über der Schulter, die Zigarette halb abgebrannt im Mundwinkel.

„Grüß Mary von mir, okay?“, sagte Will.

„Werd ich tun. Pass auf Dich auf.“

„Immer. Wir sehen uns in einem Jahr.“

„Du wirst immer einen Platz haben in der Whitmore-Residenz, Captain Colby.“

„Noch nicht.“

„Bald genug. Du verdienst es jedenfalls mehr als irgendwer sonst, den ich kenne. Sag Deinem alten Herrn Danke, wenn Du ihn siehst. Wäre ohne ihn nicht hier.“

„Werde ich tun.“

„Wir sehen uns, Sarge.“

Whitmore ging zu dem Bus, der bereits wartete. Will stieg in einen anderen, der ihn in die Stadt brachte.

Sie öffnete die Tür und ließ beinahe das Kind fallen, dass sie auf dem Arm trug. Für eine Weile starrte sie ihn an wie ein Gespenst, dann drehte sie sich um, ging ins Haus und legte das kleine Wesen in der Wiege ab. Langsam kam sie zurück zur Tür und blieb vor ihm stehen. Ihr Blick hob sich und blieb auf seinem Gesicht haften. Als würde sie aus einem tiefen Schlaf aufschrecken sprang sie hoch, fiel ihm um den Hals und drückte ihn so fest an sich, dass er aufstöhnte und seinen Arm in der Schlinge wand. Sie ließ ein wenig lockerer und legte ihre Wange an seine Brust.

„Ich habe Dir gesagt, ich komme wieder!“

Er spürte, wie sie schluchzte, und fühlte etwas Feuchtigkeit, die durch den Stoff der Uniform den Weg auf seine Haut fand. Es dauerte lange, bis sie sich von ihm löste, ihn ins Haus zog und die Tür schloss. Sie ging zur Wiege und nahm das Kind hoch, das zu quengeln begonnen hatte. Er blieb im Eingangsbereich stehen und schaute ihr zu. Sie drehte sich um, das Kind fest im Arm, und sah ihn schweigend an. Er konnte erkennen, dass ihre Augen feucht waren. Sie machte keinen Versuch, es zu verbergen.

„Ich dachte, Du bist tot.“, sagte sie leise.

„Warum sollte ich tot sein?“

„Weil ich nichts von Dir gehört habe! Keine Nachricht, keinen Brief, nichts. Was zum Teufel hast Du Dir dabei gedacht!“

„Ich habe gedacht, dass es Deinen Ehemann sicher nicht erfreuen würde, wenn seine Frau Post von einem alten Freund bekommt.“

„Ehemann? Woher weißt Du …?“

„Ist doch unwichtig. Ich wollte mich jedenfalls nicht aus der Ferne in Deine Ehe einmischen.“

„William Colby hätte eine Möglichkeit gefunden, wenn er gewollt hätte. Also war der Grund ein anderer!“

„Mag sein.“

„Und welcher?“

Sie war immer noch vollkommen aufgelöst.

„Ich weiß es nicht.“

Er spürte, dass sie wusste, dass er log. Sie war schon immer klug genug gewesen, solche Diskussionen mit ihm nicht zu vertiefen. Er sagte ihr die Wahrheit, hatte sie immer gesagt. Nur den Zeitpunkt, den bestimmte er selbst. Bis dahin schwieg er lieber. Nur, wenn sie ihn zu sehr drängte, gab er eine ausweichende Antwort. Das tat er dann auf eine so offensichtliche Weise, dass sie es merken musste.

„Setz Dich. Magst Du etwas trinken?“, wechselte sie das Thema.

Er nahm in einem der Sessel Platz.

„Danke, nein. Ich habe nicht geplant, lang zu bleiben. Wie geht es Dir?“

Sie lächelte etwas gezwungen.

„Es geht mir gut, Will. Ich habe alles, was ich brauche. Der Kleine ist gesund und wächst.“

„Und Dein Mann?“

„Er ist ein netter Kerl. Arbeitet im Hafen als Buchhalter. Er ist gut zu uns. Kommt pünktlich nach Hause, jeden Tag um halb sechs. Verpasst keinen Sonntag die Kirche. Er verdient genug, und es mangelt uns an nichts.“

„Klingt aufregend.“, sagte er, dann sofort „Tut mir leid. Ich freue mich, dass Du es guthast. Ihr.“

„Wie ist es denn gewesen, drüben?“, fragte sie.

„So, wie alle sagen.“

„Ich weiß nicht, was alle sagen.“

„Was willst Du hören, Lisa?“

„Wie es für Dich war.“

„Es war Krieg. Ich bin hier und am Leben. Schätze, dass es also ziemlich gut für mich war. Besser als für viele andere, die ich kannte.“

„Was ist mit Deinem Arm?“

„Ein dummes Missgeschick. Der wird wieder wie neu.“

„Du siehst gut aus, Will. Irgendwie erwachsen und kaum älter gleichzeitig.“

„Was soll ich sagen? Ich bin früh zu Bett gegangen.“

Sie lachte, dann wurde ihr Blick finster.

„Sei ehrlich, Will. Ich habe viele dieser Jungs gesehen, die auf die Schiffe gingen. Und im Hospital habe ich dann gesehen, wie sie als alte Männer zurückkamen. An Dir scheint der Krieg beinahe spurlos vorübergegangen zu sein. Fast so, als ob es Dir nichts ausgemacht hätte.“

„Jedem hat es was ausgemacht, Lisa. Wer Dir etwas anderes erzählt, der lügt, oder er war nicht wirklich im Krieg. Aber manchen macht es mehr aus und manchen eben weniger.“

„Und wie war es bei Dir?“

„Weniger.“

„Und was wirst Du jetzt tun?“

„Rausfahren auf die Farm, meine Mutter besuchen.“

„Und danach?“

„Ich weiß es noch nicht. Mir einen Job suchen. Vielleicht als Buchhalter im Hafen. Wie ich höre, verdient man nicht schlecht.“

Sie schaute ihn ernst an.

„Mach bitte keine blöden Witze. Was wirst Du tun?“

Er atmete tief durch, lehnte sich vor und stellte sein Getränk auf dem Tisch ab.

„Ich gehe zurück nach Deutschland. Army Intelligence.“

„Gut. Ich weiß nicht genau, was sich dahinter verbirgt, aber es klingt wie für Dich gemacht.“

Sie saßen eine Weile schweigend da, während sie das Baby stillte. Er schaute ihr zu, und sie ließ ihn gewähren. Als sie fertig waren, stand sie auf, kam zu ihm herüber und reichte ihm das Kind. Ungelenk nahm er den zufrieden schmatzenden Säugling und hielt ihn vorsichtig mit dem gesunden Arm auf seinem Schoß fest.

„Bevor Du gehst, möchte ich, dass Du Deinen Sohn kennenlernst.“

Will schaute erst das kleine Wesen auf seinen Beinen an, dann Lisa. Sein Gesichtsausdruck blieb undurchdringlich.

„Bist Du sicher? Ich meine, es war ja nur der eine Tag damals und …“

„Sieh ihn Dir genau an, Will! Es ist Dein Sohn.“

„Er ist … Er sieht gut aus!“, brachte er mühsam hervor.

„Er heißt William.“

„Was ist mit Deinem Mann?“

„Er weiß es nicht. Ich glaube, er ahnt es, aber er fragt nicht. Er liebt mich. Er will einfach mit mir zusammen sein. Das ist alles, was für ihn zählt.“

„Sei gut zu ihm, Lisa. Versprichst Du mir das? Solange er gut zu euch ist, sei Du gut zu ihm.“

„Ich verspreche es. Versprichst Du, mir zu schreiben?“

„Ja. Ich werde Dir schreiben.“

Sie saßen noch eine Weile still da, während Will abwechselnd das Kind in seinem Schoß und Lisa anschaute. Der Junge fummelte an den glänzenden Knöpfen seiner Jacke. Sein Blick fiel auf die Wanduhr. Es war kurz nach fünf.

„Er wird bald zu Hause sein, Lisa.“

„Ich weiß.“

Sie kam herüber und nahm den Kleinen auf den Arm. Will stand auf und zog sich seine Uniform glatt. Er küsste beide auf die Stirn, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Wendepunkte - Es gibt immer einen anderen Weg

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