Читать книгу Geschichtsmatura - Christian Pichler - Страница 12
2.3.4 Zum „Kompetenz-Strukturmodell“ der Gruppe FUER Geschichtsbewusstsein
ОглавлениеMaßgebend für die österreichische Unterrichtsreform im Fach GSPB wurde das Kompetenz-Strukturmodell der Gruppe FUER Geschichtsbewusstsein. Im Jahr 2000 konstituierte sich ein internationales Projektteam an den Universitäten Eichstätt und Hamburg, bestehend aus Fachdidaktiker*innen und Lehrer*innen der Länder Deutschland, Schweiz, Österreich, Ungarn, Rumänien und Südtirol.172 Dem eigenen Selbstverständnis folgend, planten sie die Entwicklung eines Kompetenzmodells, das in prononcierter Weise der Förderung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Umgangs mit Geschichte verpflichtet war. Das Akronym „FUER“ ist programmatisch und nennt die Intention: Förderung Und Entwicklung Reflektierten Geschichtsbewusstseins.173 Um eine innere Schulreform zu initiieren und in Gang zu halten, betrieben die Wissenschaftler*innen Grundlagen-, Implementations- und empirische Forschung. Der erste Schritt der Theoriearbeit war die Entwicklung eines Kompetenz-Strukturmodells, das den richtungsweisenden Titel „Kompetenzen historischen Denkens“ tragen sollte, denn dem Modell wurde Geschichtstheorie die Rüsens zugrunde gelegt.174 Waltraud Schreiber begründet das mit der Absicht, „[…] die Prinzipien und Operationen des historischen Denkens der Geschichtswissenschaft als elaborierte Form des lebensweltlichen Umgangs mit Geschichte, welcher letztlich in der Orientierungsfunktion begründet ist“,175 didaktisch wenden zu wollen. Ausgangspunkt der Theoriebildung zur historischen Orientierung waren Rüsens Überlegungen zum genuinen Zweck historischen Lernens, die er 1983 in die Form eines Regelkreismodells („disziplinäre Matrix“) gegossen hatte. Die Darstellung des Zusammenhangs fachwissenschaftlicher und lebensweltlicher Prozesse, deren zentraler Vorgang Erkenntnissuche ist, mündet in den Akt der „Sinnbildung“, i. e. einem kreislaufartigen Prozesses der Wahrnehmung von Kontingenzen und Zeitdifferenz und der Deutung des Wahrgenommenen mittels narrativer Verknüpfung der Wahrnehmungs-Elemente, sodass daraus Erfahrungen – Erkenntnisse – erwachsen.176 Wahrnehmung wird in diesem Vorgang zur „[…] Initialzündung der Sinnbildungsprozedur des Geschichtsbewußtseins […]“ und damit zum Anstoß historischen Lernens. Diesen Vorgang sowie daraus resultierenden Fragen an die Geschichte charakterisiert Rüsen als „[…] pränarrative Elemente der historischen Erfahrung […].“177 Sind Erfahrungen gemacht und Erkenntnisse gewonnen, materialisiert sich die Auseinandersetzung mit Vergangenheit in Sinnbildungen. Das geschieht in Form „historischer Narrationen“. Historischer Sinn integriert Wahrnehmung, Deutung und Orientierung auf eine Weise, die es dem Individuum ermöglicht, Erfahrungen im Umgang mit Geschichte zu machen und sie für sich und seine Handlungen zu nutzen. Damit verbunden ist das Axiom, dass historischer Sinn Teil des individuellen wie auch des kollektiven Bewusstseins ist. Wolfgang Hasberg und Andreas Körber greifen Rüsens Theorie auf und wandeln dessen Regelkreismodell in ein ausdifferenzierteres Spiralmodell um. Die grundlegenden Operationen historischen Denkens (Re- und De-Konstruktion) werden mit den Bedürfnissen (historisch) Denkender in eine Wechselwirkung gebracht.178 Da seit den Debatten der 1970er Jahre innerhalb der Fachdidaktik (sowie zwischen ihr und Teilen der Fachwissenschaft) ein weitgehender Konsens darüber herrscht, dass der Wunsch des Menschen nach Orientierung der „Urgrund der Geschichtswissenschaft“ ist, war FUER davon überzeugt, dass es im Geschichtsunterricht künftig darum gehen muss, Einsichten zu fördern. Daher war die Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstsein in den Blick zu nehmen. Ziel von Schulunterricht durfte nicht mehr die Formung und Tradierung weitgehend stabiler Geschichtsbilder sein, sondern die Förderung eines historischen Bewusstseins, das dynamisch auf Erkenntniszuwächse reagiert, ergo eine kritische Haltung. Auf diese Weise sollte zwischen den Ansprüchen der Wissenschaft im Umgang mit Geschichte und lebensweltlichen Orientierungsbedürfnissen der Individuen eine Brücke zu schlagen sein.179
Nachdem grundlegende Fragen geklärt worden waren, wurden die Möglichkeiten eines modellhaften Kompetenzaufbaus samt Festlegung der Niveaustufen ausgelotet. Das Modell sollte die „Planung schulischer Lernprozesse“180 ermöglichen, also in den Unterricht eingreifen können. Die Gruppe FUER entschied sich für die Erarbeitung eines Strukturmodells, weil dieser Modelltyp die Gelegenheit bot, den Geschichtsunterricht vom Grund auf neu zu denken. Das Modell sollte auf alle Formen historischen Denkens anwendbar zu sein, die wissenschaftlich relevanten Begriffe klären, die Vorstellung einer Struktur der Domäne samt ihrer Niveaustufen bieten und Vorarbeiten für eine potenzielle Standardisierung leisten.181 Es wurde bewusst nicht schulfokussiert gedacht, um die theoretische Klärung der Mechanismen zur Förderung historischen Denkens im Kontext lebenslangen Lernens vorzunehmen. Man stütze sich auf das Lebenswerk des Bodo von Borries, der schon in den 1970er Jahren erkannt hatte, dass bei der Erstellung von Aufgabenformaten eine Trennung von Inhalts- und Verhaltensaspekt schwer möglich sei, außer man standardisiere das gesamte Unterrichtsgeschehen von der Planung über den Verlauf bis zu den Materialien. Hierbei bestünde die Gefahr der Interpretation von Geschichte auf der Basis vorgegebener Horizonte.182 FUER entschloss sich dazu, ein Strukturmodell zu entwickeln, das aus vier allgemeinen Kompetenzbereichen (Frage-, Methoden-, Sach- und Orientierungskompetenz) besteht, aus denen Kompetenzen sowie Teilkompetenzen deduziert werden. Man definierte Graduierungsparameter zur Abgrenzung der Niveaus und beschrieb die Niveaustufen.183 Ausständig geblieben sind die Konstruktion eines Modells zur Förderung der Kompetenzprogression samt Entwicklung von Lern- und Testaufgaben für Schüler*innen, die Standardsetzung und die empirische Erforschung sowohl der Kompetenzförderung als auch der realen Verteilung der Kompetenzen in der Bevölkerung.
Mit diesen Prämissen entfernte sich die Gruppe absichtlich von der Anregung Kliemes, eine „induktiv-explorative Entwicklung von Kompetenzmodellen“ anstreben,184 denn FUER ortete die Gefahr, dass eine prononcierte Aufgabenzentrierung die Hinwendung zu lebenspraktischen Herausforderungen der Menschen ins Hintertreffen geraten lassen würde, sodass die Förderung historischen Denkens nur partiell leistbar wird. FUER habe, laut Körber, einen höheren Anspruch an den Geschichtsunterricht formuliert. Er verweist darauf, dass die Menschen tagtäglich ihr Orientierungsbedürfnis in und an der Geschichte befriedigten. Nahezu jede*r verfüge daher über ein „triviales Geschichtsbewusstsein“. Der Unterricht müsse deshalb Wege öffnen, um Anschluss an professionelles Denken zu ermöglichen. Ein allgemeines Kompetenz-Strukturmodell historischen Denkens sollte jede Form mentaler Vorgänge anhand der Kompetenzbereiche und Einzelkompetenzen sowie deren Unterscheidbarkeit nach Niveaustufen beschreiben können.185 Um die Konzepte des Strukturmodells auf Unterricht hin zu adaptieren, sollten in einem zweiten Schritt der Theoriearbeit Progressionsmodelle entwickelt werden. Unterstützt wurde dieser Zugang zur Modellbildung u. a. von Test-Methodikern. So warnt Jürgen Rost eindringlich vor eindimensionalen Kompetenzstufen-Modellen, propagiert die Untersuchung möglichst vieler kognitiver Teilkompetenzen186 und sieht in dem von Klieme vorgeschlagenen Weg der Kompetenzimplementierung in die Schule wenig Potential, um Fähigkeiten und Fertigkeiten aufzubauen.187 Den Prozess, der mit der Erarbeitung des Kompetenz-Struktur-Modelles eingeleitet wurde, verstanden die Wissenschaftler*innen als einen umfassenden Vorgang. Es war ihnen bewusst, dass eine Begleitforschung notwendig war und dass eine Diskussion darüber erfolgen würde sowie die permanente Weiterentwicklung des Modells samt Adaptierungen auf Unterricht hin erfolgen müsse. Es war ein Anspruch von FUER, dass das Modell ausdifferenziert entwickelt wird, um den Ansprüchen des Bildungsmonitorings ebenso gerecht zu werden, wie der pädagogischen Diagnostik und der Evaluation.188 Aufgabe des Geschichtsunterrichts ist es, die Fähigkeiten und Fertigkeiten schrittweise aufzubauen und an ihnen dauerhaft weiterzuarbeiten, sodass „[…] sich langsam ein Vorrat an historischen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Bereitschaften sedimentiert, in den natürlich auch Irrtümer und Missverständnisse, Fehlhaltungen und Fehlschlüsse eingebaut sein können.“189 Wesentlich ist das Verständnis, dass einzelne Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch Kernkompetenzen niemals für sich stehen.190