Читать книгу Geschichtsmatura - Christian Pichler - Страница 14
2.3.6 Narrative Fähigkeiten, eine fachliche Kompetenz?
ОглавлениеDie narrative Geschichtstheorie gehört samt der genetischen Epistemologie, zu den wissenschaftstheoretischen Säulen des FUER-Modells. Trotzdem spielt Fähigkeit, Geschichte sinnbildend zu erzählen, in der formalen Konzeption des Modells eine untergeordnete Rolle. Sie wird nicht als eigene Kompetenz ausgewiesen, sondern integrativ gedacht, was Hilke Günther-Arndt für veränderungswürdig hält.212 Sie kritisiert, dass FUER zwar die Prozesse der Sinnbildung umfassend würdigt und die Überprüfbarkeit der mentalen Vorgänge in Form von Erzählungen als einzige geschichtsdidaktische Richtung reputabel thematisiert, in der Modellierung aber den Zusammenhang des Vergangenen mit dessen Deutung und Verstehen im Akt des Erzählens zu ignorieren scheint.213 Dieses Versäumnis wiege schwer, weil der Weg zur Akzeptanz dieses Konnexes mühevoll gewesen ist. Tatsächlich war das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zur Sprache über 200 Jahre durch die Überzeugung der meisten Geschichtswissenschaftler determiniert gewesen, die Funktion der Fachsprache der Historiker sei ausschließlich einer analytischen Darstellungsform mit bewusst hohem Abstraktionsgrad verpflichtet. In Ausbildung und Forschung wurde daher bloß zwischen der Sprache der Quellen („res gestae“) und der sprachlichen Gestaltung der Historiographie („narratio rerum gestarum“) differenziert. Sprache als erkenntnisgenerierendes System entzog sich den Überlegungen einer Geschichtstheorie, deren Aktionsradius der Quellenpositivismus gewesen war. Als einer der ersten postulierte 1965 Arthur C. Danto: „History tells stories“.214 Einen deutlicheren Impuls Richtung „Linguistic Turn“ setzte in den 1980er Jahren Reinhart Koselleck, der Sprache als Denk-Medium erkannte, durch das Sinnprodukte entstünden.215 Von entscheidender Bedeutung für eine Haltungsänderung innerhalb der Domäne war das Postulat Hayden Whites, demzufolge es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen literarischen und historischen Erzählungen gebe. Auch Letztere seien „[…] sprachliche Fiktionen, deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden (Hervorhebung White) ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften.“216 Koselleck, White und Rüsen217 sehen in der historischen Erzählung jenen Ort, an dem die sinnbildende Verknüpfung von Informationen aus Quellen stattfindet, sodass im Akt ihrer Konstruktion der „Historia“ Erkenntnis erwächst. Dieser generierte Sinn wird von Barricelli als „[…] Vorschlag, in welche Richtung der Historiker oder die Historikerin seine oder ihre Erzählung verstanden wissen möchte,“218 charakterisiert. Wenn White die Historiographie als eine spezielle Form fiktionalen Schreibens bezeichnet, meint er die Nutzung eines festgesetzten „Emplotment“ (Textkonstruktion, Struktur, Kohärenz). Hierin unterscheidet sich Wissenschaftssprache nicht grundsätzlich von der Sprache der Poesie. Anhänger einer analytischen Darstellung in der Geschichtswissenschaft empfanden die Thesen Whites dennoch als Provokation und vermuteten, bei historischen Erzählungen würde es sich um fiktionale Texte im Sinne von Dichtung handeln. Rüsens Diktum vom historischen Erzählen als Materialisierung von Geschichtsbewusstsein („Die Einheit des Geschichtsbewusstseins lässt sich als innere Kohärenz der mentalen Operation des historischen Erzählens thematisieren.“219) gab einen entscheidenden Impuls zur Wende in der Debatte. Mit der Formulierung einer linguistischen Typologie (traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Erzählen) unternahm Rüsen einen ersten Versuch, Merkmale sinnbildender historischer Narrationen zu beschreiben. Als Kriterien für erkenntnisgenerierendes Erzählen nennt er die Faktenbasis, den Aspekt der Historizität und die identitätssichernde Funktion der Narration.220 Jeder historischen Darstellung werde ein „narratives Konstrukt“ (Literaturwissenschaft: „Plot“), das dem Sinnbildungsprozess erwachsen sei, zugrunde gelegt. Die Wissenschaftlichkeit der Erzählung begründet sich in der Triftigkeit der Aussagen und der Theorien und damit in ihrer plausiblen Begründbarkeit.221 Die heftig geführte Debatte darüber mündete schließlich in eine „[…] ‚Hinwendung der Geschichtswissenschaft‘ zur ‚Sprache der Geschichte‘„,222 deren zentrale Qualität der weitgehende Konsens darüber die Anerkennung des Erzählens als „Grundfigur allen historischen Wissens und Denkens“223 ist. Mit dieser Haltungsänderung der Scientific Community geht die Akzeptanz des Erfordernisses der Anwendung narratologischer Analysen und sprachlicher Reflexion historiographischer Produkte einher.224 Beides ist inzwischen Usus geworden.
Die Hinwendung der Geschichtswissenschaft zur Sprache hatte Auswirkungen auf die Geschichtsdidaktik. Die Schnittstelle aller grundsätzlichen Überlegungen bildet der Konsens darüber, dass Sprache, Denken und Erkenntnis zusammengehören, sodass es ohne sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten keinen kompetenten Umgang mit Geschichte geben kann. Dem Ansatz Baumgartners folgend, den Terminus „historisches Erzählen“ als einen „Strukturbegriff“225 zu verstehen, der nicht nur die Synthese der Operationen der Jeismann-Trias beschreibt (Verfahrensebene), sondern auch die Tiefe des Bewusstseins erfasst (mentale Ebene), bewertet Pandel die Narrativierung des Historischen normativ. Erkenntnis erwachse nicht primär aus dem Akt der Quellenauswertung, sondern aus dem Prozess der Geschichtsschreibung und der könne auf drei Arten verlaufen: beschreibend, erzählend oder diskursiv. Wesentlich sei stets die Beobachtung der Prinzipien der Retroperspektivität, Temporalität, Selektivität, Partialität und Konstruktivität.226 Auch Wolfgang Hasberg sieht in der historischen Erzählung ein „[…] Strukturprinzip historischen Denkens und Lernens“.227 FUER versteht demgegenüber die Fähigkeit, historische Erzählungen zu konstruieren, nicht als fachliche Kompetenz, sondern als Bestandteil allgemeiner Kommunikationsfähigkeiten. Alexander Schöner verweist auf Paul Watzlawik, der soziales Verhalten ohne Kommunikationskompetenz für unmöglich hält und auf Noam Chomsky, der Kommunikationskompetenz als „[…] allgemeine Sprachfähigkeit von Individuen (definiert), die in der Lage sind, im Einklang mit wechselnden situativen und normativen Bedingungen psychischer, sozialer und linguistischer Natur miteinander zu kommunizieren, wobei Sprechen als symbolvermitteltes Handeln […] verstanden wird.“228 Trotzdem stellt die Gruppe Überlegungen an, wie Sprachkompetenz definiert und graduiert werden kann und sie entwickelt Kriterien, die Sprachkompetenz beschreiben. Es bedarf zweier Fähigkeiten, um historische Kommunikation zu pflegen, nämlich des Vermögens, Ergebnisse von Denkoperationen „[…] in Sprache zu fassen“229 (Artikulationsfähigkeit), und des Vermögens einen „Common Ground“ zwischen den Kommunikationspartnern herzustellen. Darunter wird „[…] ein fachspezifisches Ensemble sprachbezogener Kommunikation, diskursive Akzeptabilitätsstandards adressen- und medienbezogener Sprachregister- und Textfortsetzungsregeln“230 verstanden.231 Die Fähigkeit bestehe darin, „[…] die Ergebnisse historischen Denkens zu externalisieren, also ‚in Sprache zu fassen‘ und damit kommunizierbar zu machen.“232 Ziel von Unterricht sei ein „[…] Schärfen der ‚Sprache der Geschichte‘ […]“ im „[…] Sprechen über Geschichte […]“.233 Das betrifft alle Kompetenzbereiche des Modells.234 Für Re-Konstruktionen bedarf es zudem der Fähigkeit zur Adressatenorientierung, zur Gattungs- und Textsortensicherheit sowie zur Medienorientierung. Bei Verfahren der De-Konstruktion benötigt man das Vermögen, die Oberflächen- und Tiefenstruktur von Quellen, Darstellungen und Produkte der Geschichtskultur analytisch zu bearbeiten. Ein Schwerpunkt der „Kommunikationskompetenz“ findet sich im Bereich der „Sachkompetenz“. So fußt etwa die Begriffskompetenz auf linguistischen Konzepten (domänenspezifische Begriffslogik; Wandelbarkeit der Termini) und die Strukturierungskompetenz auf der Fähigkeit, Erzählungen sachlogisch zu gliedern. Umgesetzt werden die Fähigkeiten primär in Anwendung der Operationen der Methodenkompetenz, besonders bei Akten der Re-Konstruktion. Pandel propagiert deshalb den bewussten Aufbau von Gattungskompetenz und die Nutzung ursprünglicher Erzählformen (Nach-erzählen, Um-erzählen, rezensierendes Erzählen) als Möglichkeiten des Einübens in Sinnbildung.235 Saskia Handro macht darauf aufmerksam, dass Sprache verbinden soll, aber auch trennen kann. „Historisches Verstehen ist auf Sprache angewiesen und changiert als Denk- und Rezeptionsakt zwischen der Sprache der Vergangenheit und der Sprache der Gegenwart.“236 Das bedeutet, dass es sich bei Sprache um ein Medium handelt, das Limitationen erfährt (Sprachvermögen), das strukturiert und an Konventionen gebunden ist (kultureller Aspekt). Es gibt Gegensatzpaare, deren man sich als Lehrender bewusst sein muss (Sprache der Quellen versus Gegenwartssprache; Fachsprache in Darstellungen versus Alltagssprache). Da das Verstehen an die Sprachfähigkeit gebunden ist, kann mangelndes Sprachwissen zum Schlüsselproblem beim Kompetenzaufbau werden. Im historischen Lernen verbindet die Sprache historische Wirklichkeiten mit historischem Verstehen, die Erkenntnis mit Interpretation und formt als Resultat des Prozesses eine Erzählung. Dieser Vorgang kann nur dann stattfinden, wenn es gelingt, die Schüler*innen aus der Alltagssprache, die ihnen vertraut ist (kultureller Aspekt) schrittweise auf die Ebene der Bildungssprache zu heben und schließlich zur Fachsprache hinzuführen.237 Schöner und Mebus sprechen in diesem Zusammenhang von einem Experten-Novizen-Problem, das durch Unterricht schrittweise aufgelöst zu werden hat.238 Es muss im Unterricht darum gehen, „Sinnbildungsprodukte mit spezifischen sprachlichen Mitteln auf kollektive Anschlussfähigkeit […]“239 zu erzeugen. Das bedeutet die Fähigkeit, adressatenorientiert darzustellen, die historischen Aussagen gemäß dem Aspekt der Sinnbildung auszuwählen und anzuordnen und angemessene Darstellungsformen zu nutzen.240 Filtert man aus den theoretischen Überlegungen von Schöner, Mebus, Pandel, Handro und Hartung das Substrat zum Umgang mit Sprache heraus, könnten Artikulationsfähigkeit, Hinführung zur Fachsprachlichkeit, Diskursfähigkeit und das Vermögen, Erzählhaltungen bewusst einzunehmen als Kriterien für historische Sprachkompetenz herangezogen werden. Sie erscheinen dazu geeignet, jenen fachspezifisch gewendeten Kommunikationsvorgang zu beschreiben, den FUER unter der Erweiterung eines „Common Ground“ der Kommunikation versteht.
Die dargestellten Überlegungen zur Sprachfähigkeit basieren auf Untersuchungen schriftlicher Narrationen. Mündliche Äußerungen, die die tragende Form der Kommunikation sowohl im Unterricht als auch in der österreichischen Reifeprüfung darstellen, unterliegen anderen Konzeptionen und Bedingungen. Grundsätzlich wird Mündlichkeit einem allgemeinen Verständnis nach als Kontrast zur schriftlichen Kommunikation wahrgenommen. Das Begriffskonzept ist aber unscharf, denn es beschreibt die Summe sprechsprachlicher Produkte, die, extensional verstanden, eine große Vielfalt von Sprechhandlungen erfasst. Diese hängen sowohl vom sozialen wie auch vom situativen Kontext ab. Trotzdem lassen sich prototypische Formen festmachen, die über spezifische Regelsysteme verfügen, die durch die Kontexte, in denen sie entstehen, determiniert sind. Somit erwachsen aus der kommunikativen Praxis typenbildende Konventionen und individuelle Anwendungen. Deren Eigenschaften entwickeln sich entlang der Produktions- und Rezeptionsbedingungen, sind aber nicht akkurat normiert, wie das bei Textsorten der Fall ist, weil sie den Erfordernissen interaktiver Bewältigung (spontaner) Kommunikationssituationen zu entsprechen haben. Mündlichkeit gilt demnach als weniger komplex und als eingängiger als schriftliches Erzählen, sie weist einen geringeren Abstraktionsgrad auf. Als Bauelemente der gesprochenen Sprache gelten Lautlichkeit, syntaktisch-grammatische und lexikalische Komponenten, die je nach Anwendungskontext in spezifischen Ausprägungen in Erscheinung treten können. Das manifestiert sich in einem variablen Tempusgebrauch (im Österreichischen ist es z. B. auf der Stufe des Vergangenen meist das Perfekt), einen alternativen Modusgebrauch (Konjunktive treten im bildungssprachlichen Register selten auf, in Soziolekten hingegen häufig), in einer freieren Wortstellung und in einem weniger ausgeprägt regelgebundenen Satzbau („Schlampigkeit von Sprechsprache“).241 Es ist nicht erforscht, welche Parameter die Verbalität von Reifeprüfungsgesprächen determinieren und wie deren Typen beschrieben werden können. Zu vermuten ist, dass hier sowohl die individuellen Sprachkontexte der Kandidat*innen als auch die der jeweiligen Schul- und Unterrichtskulturen prägend wirken.242