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„Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“ (Johann Gustav Droysen, Historik-Vorlesungen 1857, S. 422).

1. Einleitung

Der österreichische Schriftsteller Alfred Goubran hat im Jahr 2013 ein Büchlein veröffentlicht, das den Titel „Der gelernte Österreicher“1 trägt. In diesem Essay entwirft er eine Kulturkritik zur Identität der Österreicher*innen, deren These lautet: Es mangle ihnen an Einmaligkeit und folglich dem Land an Kultur. Statt eines Klimas zur Begünstigung der Entwicklung bemerkenswerter Eigenarten und Eigenheiten sei die folgenschwere Neigung akzeptiert, sich nach außen hin so zu geben, wie man annimmt, dass andere „die Österreicher“ sehen wollten.2 Das verhindere die Entfaltung einer spezifischen österreichischen Kulturnation, denn anstelle „gelebte(r) Unverwechselbarkeit“3 pflege man Orientierung am Zeitgeist, Normen-Akzeptanz und Sicherheitsdenken. Die Österreicher verbinde „[…] die Gewißheit um die völlige Bedeutungslosigkeit des Landes in der Welt“4 sowie die Überzeugung von einer Sicherheit, „wie sie nur das Durchschnittliche und die sogenannte Normalität […] gewähren kann. Dort ist der Österreicher mehr als andere zu Hause.“5 Goubrans literarischer Tadel trifft sich mit einem zentralen Argument der Kritik an der Bildungsreform: Die Neuausrichtung von Bildung bediene sich des Governance-Verfahrens,6 um auf der Basis der oben beschriebenen Haltung ein aus der europäischen Geistesgeschichte gewachsenes Bildungsverständnis (Neohumanismus) zu eliminieren, ohne adäquaten Ersatz zu bieten. Die Reform orientiere sich stattdessen an ökonomischen Abläufen, sodass die „Produkte“ lenkbare Bürger*innen sein würden.7 Internationalen Trends folgend, wurde ab dem Jahr 2008 die Ausrichtung des Geschichtsunterrichts an Inhalten sukzessive durch Kompetenzorientierung abgelöst. Der Anstoß zum Paradigmenwechsel erfolgte im Fach zunächst nicht von der Bildungspolitik, sondern von der Geschichtstheorie. Nach Rüsen sollen Menschen in die Lage versetzt werden, im Alltag einen „[…] plausible(n) und verlässlich beglaubigte(n) Bedeutungszusammenhang der Erfahrungs- und Lebenswelt […]“ zu erkennen und mit Hilfe dieser Einsichten „[…] die Welt zu erklären, Orientierungen vorzugeben, Identität zu bilden und Handeln zweckhaft zu leiten.“8 Das Postulat der Förderung der Fähigkeit, sind in der Geschichte und durch sie in der Gegenwart zu orientieren, wurden im deutschsprachigen Raum zum Ausgangspunkt der Konzeption von Kompetenztheorien. Die Bildungsreform eröffnete in der Folge die Möglichkeit des Transfers der didaktischen Innovation in den Unterricht, was in Österreich in drei Schritten erfolgte. Zwischen 2008 und 2022 wurden auf der Basis des Kompetenz-Strukturmodells der Forschungsgruppe FUER Geschichtsbewusstsein9 und eines analogen Modells politischer Kompetenzen10 neue Bildungspläne11 geschrieben. Damit wurde dem Fächerbündel „Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung“ (GSPB) erstmals eine analoge didaktische Ausrichtung gegeben.12 Mit der Implementierung einer kompetenzorientierten Reifeprüfung in das Schulsystem (2012)13 wurde seitens der Bildungspolitik die Erwartung verknüpft, die erwünschten Innovationen in der Unterrichtspraxis zu beschleunigen (Steuerung).14 Vorerst letzter Meilenstein war eine Reform der Lehrer*innen-Ausbildung (2015) gemäß dem Kompetenzparadigma.15 Didaktisches Ziel der Reifeprüfungsreform ist die Diagnose des Ausprägungsgrads der Niveaus historischer und politischer Kompetenzen der Absolvent*innen höherer Schulen. Das Aufgabenkonzept folgt dem Axiom eines stufenweisen Aufbaus von Einsichten zur Anregung fachlicher Bewusstseinsbildung,16 die Aussagen zu den initiierten mentalen Prozessen sollen Aufschlüsse über fachliche Kompetenzen geben. Da die Anwendung der Leistungsbeurteilungsverordnung (LBVO)17 kaum Rückschlüsse auf den Ausprägungsgrad domänenspezifischer Fähigkeiten zulässt, sind wissenschaftliche Analyse-Verfahren anzuwenden.

Das Forschungsdesiderat zur Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht ist durch Asymmetrien charakterisiert. Während die Theoriebildung domänenspezifischer Kompetenzen und deren kritische Rezeption18 einigermaßen zufriedenstellend dokumentiert ist, stehen Konzepte zum Transfer der Theorien in die Unterrichtspraxis und die empirische Überprüfung der Wirksamkeit der Innovation weitgehend aus. Die Brücke zur Schulpraxis ist noch nicht gebaut.19 Hinweise auf Aspekte der Unterrichtsplanung sowie methodische Ansätze finden sich zwar bei Gautschi, Sauer, Heil und Pandel, kohärente Skripts fehlen jedoch. Wenig Praxisbezug weist das FUER-Modell auf. Ein angekündigtes komplementäres Progressionsmodell gibt es nicht.20 Christoph Kühberger hat 2009 erste Anregungen zu einer didaktischen Wendung der FUER-Theorie gegeben.21 Zudem ist in Eichstätt eine Reihe von Themenheften mit modellhaften Unterrichtsvorschlägen (Z. B. Arbeit mit Film, in außerschulischen Lernorten, zum Einsatz von Theaterpädagogik, Arbeit mit Zeitzeugen, Schulbüchern etc.) entstanden.22 Einen systematischen Kompetenzaufbau über den Bildungszyklus ermöglichen sie nicht. Es herrscht Konsens darüber, dass die Beseitigung des Mangels an Praxistauglichkeit die Erhebung empirische Befunde zur Haltung von Lehrer*innen zum Prinzip der Kompetenzorientierung,23 zur Gestaltung von Unterrichtsmaterialien und deren Gebrauch,24 zur Anwendung von Methoden,25 zur Aufgabenkultur26 und zu den Ergebnissen von Unterrichtsarbeit („Output“) voraussetzt, um Aufschlüsse über die vorläufige Wirkung der Theorie zu erhalten. Insbesondere die Kategorie Ergebnisforschung („Kompetenzmessung“) stellt im Fach GSPB ein komplexes Vorhaben dar, weil es keine Standardisierungen fachlicher Kompetenzen gibt, die Anhaltspunkte zur Entwicklung von Messverfahren liefern würden. Trotzdem sieht die Scientific Community die Überprüfung der Kompetenzentwicklung der Schüler*innen als Forschungsfeld an.27 Da die Frage der Stufung historischer Fähigkeiten und Fertigkeiten die Fachdidaktik erst in jüngerer Zeit zu beschäftigen begonnen hat, existieren derzeit wenige Studien über das Verfügen fachlicher Kompetenzen bei Schüler*innen. Die frühen Untersuchungen des Bodo v. Borries stellen Lernstandanalysen dar, die das Repertoire an deklarativem Fachwissen zu klären vermögen, nicht aber Denkoperationen.28 Der Vorschlag Hans-Jürgen Pandels, mittels speziell konstruierter Aufgaben Analysefähigkeiten sichtbar zu machen, ermöglicht mentale Operationen ausschließlich zur Methodenkompetenz.29 Umfassendere Aufschlüsse über Denkprozesse bieten Studien von Johannes Meyer-Hamme, in denen mittels teilweise offener Aufgaben Kurzessays evoziert werden, die Einsichten in Denkoperationen ermöglichen.30 Prüfungsergebnisse wurden erstmals von Bernd Schönemann, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting im Zuge einer Analyse des deutschen Zentralabiturs in Nordrhein-Westfalen untersucht. Eine grundlegende Erkenntnis betrifft die eingeschränkte Eignung von Examen zur Bewertung von Operationen des Geschichtsbewusstseins, weil die mentalen Prozesse Laborsituationen entstammen (präformierte Denkoperationen; Prüfung bewältigen),31 nicht dem persönlichen Wunsch der Proband*innen nach Orientierung.32 Für österreichische Reifeprüfungen liegen derzeit keine Befunde zur Kompetenzeinschätzung vor.

Forschungsfragen und Methode: Die vorliegende Studie will keine Fundamentalkritik am FUER-Modell formulieren, sondern berührt die Kategorien Ergebnis- und Wirkungsforschung, um empirische Evidenzen zur den Effekten einer Reform zu generieren.33 Ausgehend von der Annahme, dass es zur Agenda der Disziplin gehört, sich der Entwicklung fachlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten bei Schüler*innen zu vergewissern, ist es das Ziel herauszufinden, welche historisch-politischen Kompetenzen bei Kandidat*innen im Zuge der Geschichtsreifeprüfung an Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS – Gymnasien) in Österreich evident werden und in welchem Ausprägungsgrad das der Fall ist. Das inkludiert den Blick auf die Qualität der aktiven Entwicklung der im FUER-Modell wissenschaftstheoretisch formulierten Kompetenzvorstellungen in der Unterrichtspraxis und der Erreichung erwarteter Niveaus, nicht aber eine Fundamentalkritik an der (FUER-)Theorie. Weil der Reifeprüfung sowohl die Theorie von FUER als auch die der Anforderungsbereiche (AFB) zu Grunde liegt, hat die Analyse die Aufgabe, die vertikale Progression der einzelnen fachlichen Kompetenzen (Graduierungslogik von FUER) aus Performanzen abzuleiten, die einem Aufgabendesign entstammen, das eigentlich eine Steigerung der Leistung auf horizontaler Ebene („Bereiche“) vorsieht (Hierarchisierung der AFB). Um den Bedingungen gerecht zu werden, wird ein Mixed-Methods-Verfahren (qualitative und quantitative) angewandt.34 Zunächst werden die Performanzen anhand der Teilaufgaben (TA) entlang der AFB untersucht, um (Teil-)Kompetenzen nach FUER sichtbar zu machen, ohne dass Aufschlüsse über deren Entwicklungsgrad gewonnen werden. Dieser Schritt erfolgt mittels qualitativer Inhaltsanalyse, ergänzt durch spezielle quantitative Befunde. Danach wird der Ausprägungsgrad der erhobenen Kompetenzen festgestellt und mit den von FUER formulierten Erwartungen des Verfügens über fachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten (intermediäres Niveau; fachspezifische Konventionen) abgeglichen.35 Die Graduierung wird im Zuge eines Double-Rating-Verfahrens vorgenommen und die Interrater-Reliabilität durch die Berechnung des Cohen-Kappa-Werts festgestellt. Da es bis zum Zeitpunkt der Durchführung der vorliegenden Studie kein erprobtes Verfahren zur Einschätzung von Kompetenzniveaus im Zuge mündlicher Prüfungen gegeben hat, ist vorab ein geeignetes Instrumentarium zu entwickeln gewesen. Graduierungsparameter und Niveaustufenbeschreibungen entstammen der FUER-Theorie. Um den Spezifika der Reifeprüfung (mündliches Format mit vorgegebenem Design und kurzer Dauer) gerecht zu werden darstellt, ist aus der komplexen Theorie ein praxistauglicher Analyse-Leitfaden deduziert worden. Durchgeführt wird die Untersuchung anhand von 30 Performanzen des Maturajahrgangs 2015 aus Gymnasien des Bundeslandes Kärnten. Da sich die Proband*innen freiwillig zur Verfügung gestellt haben und die Untersuchung zeitlich und räumlich limitiert ist, handelt es sich um den Typus einer Ad-hoc-Studie. Erwartet wird, dass die Erkenntnisse die Konstruktion einer wissenschaftsgestützten Kompetenzevaluation im Rahmen der Leistungsfeststellung fördern.

Die vorliegende Studie36 besteht aus einem Theorieteil und einer empirischen Untersuchung zusammen. Auf die Einleitung (Kapitel 1) folgt Kapitel 2, das den bildungspolitischen und wissenschaftstheoretischen Bezugsrahmen ausleuchtet. Das 3. Kapitel befasst sich mit der Herleitung und kritischen Würdigung der Graduierungstheorie. Inhalt des Kapitels 4 ist die österreichische Geschichtsreifeprüfung (Verfahren), ihre Bedingungen und Einflussfaktoren. Kapitel 5 widmet sich dem Methodenproblem anhand von Beispielen von Kompetenzanalysen (methodische Zugänge, Forschungsfragen, Ergebnisse) und im Kapitel 6 wird das Forschungsinteresse der empirischen Untersuchung (Forschungsfragen) erläutert sowie das Forschungsdesgin beschrieben. Kapitel 7 lotet das Forschungsumfeld (Datenbasis) aus und stellt das Analyse-Instrumentarium zur Kompetenz-Erhebung sowie zur Einschätzung des Verfügungsgrads vor. Kapitel 8 widmet sich dem Untersuchungsdesign (Daten, Vorgangsweise, Material) und Kapitel 9 der Auswertung der Performanzen. Im Kapitel 10 schließlich werden die Ergebnisse zusammengefasst, miteinander verknüpft, interpretiert und Schlussfolgerungen daraus gezogen.

Zu danken ist Univ.-Prof. Dr. Christoph Kühberger, der diese Studie angeregt und bis zur Publikation beratend begleitet hat, HS-Profin Dr.in Marlies Krainz-Dürr und dem Rektorat der Pädagogischen Hochschule Kärnten, Viktor Frankl Hochschule (PHK), das die Durchführung ermöglicht und gefördert hat sowie vielen helfenden Händen und Geistern aus der PHK und anderen Umwelten für Beratungen, Impulse, Kritik und technische Unterstützung. Namentlich genannt seien stellvertretend für viele HS-Profin Drin Isolde Kreis und Dr.in Almut Thomas, HS-Profin Dr.in Cornelia Klepp und Mag. Jürgen Ehrenmüller (Rating) und (Methoden) sowie Dr.in Angelika Trattnig (Lektorat). Ein herzliches Dankeschön gilt Sandra Unterwieser und Ulrike Kaiser, BA vom Sekretariat des Instituts für Sekundarstufenpädagogik und -didaktik der PHK für unerlässliche praktische Hilfe.

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