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Das Fest des Vergessens

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Als Charan sich an die Männer seines und anderer Clans wandte, trug er nicht mehr die bisher üblichen Tierhäute, sondern ein Sakko aus Binsen und – neuester Schrei – eine Hose aus Leinen. Das Leopardenfell um seine Schultern diente der Demonstration seiner Machtposition.

Er hob beide Arme hoch, die Handflächen nach außen gewandt.

»Seid gegrüßt und willkommen! Wir sind hier zusammengekommen, um zu feiern. Die Götter sind uns wohlgesonnen. Möge es so bleiben!«

»Möge es so bleiben!«, wiederholten die Männer im Chor.

»Lange stand unsere Jagd unter einem Fluch. Keine Antilope, kein Hase, nicht einmal die Fische durften wir für uns beanspruchen. Alle Tiere schienen verschwunden. Hatten wir den Göttern nicht genug geopfert?«

Charan machte eine Pause. Lebhaftes Gemurmel, ein Summen wie in einem Bienenstock. Dann fuhr er fort.

»Ich sage ›Nein‹. Das war keine Strafe der Götter, sondern ein Fingerzeig. Damit wir auf etwas anderes aufmerksam werden. Nämlich auf die Pflanzen. Wir wenden sie schon lange zum Heilen an. Manche schmecken auch gut und sind nahrhaft. Doch was hat sich als besonders nahrhaft und bekömmlich erwiesen? Ja, genau! Dieses Gerstengras mit seinen vielen Ähren. Der Samen lässt neues Gras entstehen. Das haben wir früher nicht gewusst.«

Die fünfzig um Charan versammelten Männer artikulierten sich in einem Chor des Einverständnisses: »So ist es!«

Charan ergriff wieder das Wort.

»Männer, wir sorgen für unsere Familien. Wie können wir so sicher wie möglich leben? Früher sind wir ständig umhergezogen, sind den Tieren gefolgt. Viele Tage mussten wir hungern, weil es kein Fleisch gab. Doch nun haben uns die Götter die nährende Natur des Grases gezeigt. Vor vielen Sommern hat unsere Große Mutter die Samen mit Wasser vermischt. Erinnert ihr euch, weise Männer, an die Geschichten?«

Zustimmendes Gemurmel.

»Der Brei wurde auf heißen Steinen zu Brot. Es schmeckt gut und ernährt uns. Welch ein Geschenk der Götter!«

»Welch ein Geschenk der Götter!«, wiederholten die Männer im Chor.

»Und was bekommen wir, wenn wir die Gerste in Wasser legen und einige Tage warten?«

»Bier«, riefen die meisten Männer mit glänzenden Augen.2

»In den nächsten Tagen und Nächten werden wir gemeinsam essen und trinken, singen und tanzen – zu Ehren der Götter und aus Dankbarkeit. Und um uns zu umarmen und zu lieben!«

Charans Gesicht war vom Schein vieler Feuer erhellt. Das Flackern zeigte mal einen trotzigen, mal einen unterwürfigen oder auch gewinnenden Gesichtsausdruck. Sein starkes Kinn signalisierte Durchsetzungswillen. Seine dunkelbraunen Augen, die ein Gegenüber ruhig und offen anblicken konnten, versprachen eine Kraft, das Gewollte zu erreichen.

Nun trat ein Mann aus dem Kreis der Umstehenden. Er war ganz in Felle gekleidet und trug einen großen Bogen.

»Charan, ich danke dir für deine Einladung und Begrüßung. Mein Name ist Wolf. Ihr wisst, ich bin ein guter Jäger. Wir alle sind Jäger. Wir wandern, ziehen umher und suchen uns die Orte mit ausreichend Wild, Früchten, Nüssen und auch Grassamen. Wir bleiben nicht lange an einem Ort, höchstens ein oder zwei Jahre. Stimmt es, was ich sage, ihr Männer?«

Auch Wolfs Ansprache fand Zustimmung. Er nickte und fuhr fort.

»Es ist gut, dass wir mithilfe der Götter diesen heiligen Ort geschaffen haben. Schon mein Vater und mein Großvater haben dazu beigetragen, dass die großen Steine ringsum aufgestellt werden konnten. Wozu dienen sie? Sie tragen kein Dach. Sie tragen heilige Tiere. Mein Vater hat den Büffel dort aus dem Stein gekratzt. Ich weiß noch, wie er sich damals selbst wie ein Büffel bewegte. Diese Bilder sollen uns daran erinnern, wer wir sind und immer bleiben werden: Wir sind Jäger. Lasst uns das nicht vergessen!«

Wolf war auch ein Clanführer. Was Charan als Möglichkeit angesprochen hatte, kam für ihn überhaupt nicht in infrage – nämlich sich dauerhaft an einem Ort niederzulassen und sich ganz dem Anbau von Gerste zu widmen, um sich davon zu ernähren.

Die Blicke der beiden Männer begegneten sich, keinesfalls feindselig, eher anerkennend. Die Versammlung schaute gespannt auf Charan. Was würde er antworten?

Charan sah schweigend umher, einigen direkt in die Augen.

»Die Jahreszeiten wiederholen sich, doch sie sind immer wieder anders. Mal bringt der Winter in den Bergen viel Schnee, mal weniger. Auch wir sind dieselben und ändern uns doch. Jeder wird älter. Das ist die Natur. Die Götter wollen es so, sonst wäre es anders. Ja, schon die ältesten Geschichten und Lieder erzählen uns vom Jagen. Und wir werden weiter jagen. Doch so wie unsere Speere und Pfeile schärfer und besser geworden sind, so kann sich auch anderes ändern. Vor vielen Generationen stand dieser Tempel noch nicht hier. Hat es vorher je so ungeheuer große Steinsäulen gegeben – herbeigeschafft, bearbeitet und aufgerichtet von Menschenhand? Sagt es mir!«

Die Männer schauten sich kopfschüttelnd an. Nein! Keiner hatte je gehört, dass es irgendwo etwas Vergleichbares gäbe.

»Wenn nun unsere Frauen mithilfe der Großen Göttin erschaut haben, dass aus den winzigen Samen große Pflanzen wachsen, darunter Gerste mit herrlich vielen Körnern, und aus diesen, wieder in den Erdboden gegeben, neue, ebenso gute Gerste wächst, dann ist es doch gut und hilfreich, diese Samen zu verwenden, damit wir eine gute Ernte haben! Oder nicht?«

»Nein! Das ist die Rede des Erneuerers: Welche Vorteile können wir aus Mutter Erde gewinnen?« Wolfs Stimme klang nun lauter und härter. »Wir sollen sogar so weit gehen, die Natur selbst zu verändern. Die natürlichen Gräser sind nicht mehr gut genug. Wir mischen uns ein. Wollen mit unserem klugen Vorausdenken einen Vorrat an Nahrung anhäufen. Ich sage euch: Das ist nicht im Sinne der Götter und der Großen Göttin. Wir müssen damit aufhören, das Wachstum der Gräser zu beeinflussen.«

Charan merkte, wie die Stimmung der Männer schwankte. Was Wolf da ansprach, dachten viele, und es musste sehr gründlich erwogen werden. Doch nicht ausgerechnet jetzt, bei der Begrüßung zur Großen Feier.

»Du sprichst gut und aufrichtig, Wolf. Ich weiß, viele denken hier wie du. Das ist ein sehr wichtiges Anliegen. Doch wie sollen wir das hier und jetzt lösen? Dafür brauchen wir mehr Zeit und einen guten Ort. Ich habe dafür gesorgt. Morgen Nachmittag wird es eine Versammlung unter den großen Eichen geben. Dann sprechen wir ausführlich darüber. Wir sollten uns jetzt weiteren Vorbereitungen widmen. Es sind noch viel mehr Gäste von weither zu erwarten.«

Charan war froh, dass sich die Männer auf den Weg machten. Das von Wolf geäußerte Misstrauen, die Ablehnung jeder Bewirtschaftung des Bodens, das war ja nichts Neues für ihn. Dieser Streit zwischen den »Bewahrern« und den »Erneuerern« schwelte schon, solange er zurückdenken konnte.

Eigentlich suchte Sharan Mula. Sie musste doch auch hier sein! Immerhin leitete sie das Bierbrauen und war die Meisterin des Brotbackens. Sie war seine wichtigste Verbündete. Leider sehr widerspenstig und eigensinnig. Wenn sie ihm doch endlich sagen würde, wie sie dieses herrlich schmeckende und so sanft in laue Lüfte emporhebende Bier herstellte! Es war einfach unvergleichlich und die Nachfrage enorm. Wo steckte sie nur?

Da, seitlich an der großen Säule für die Göttin der Fruchtbarkeit, unterhielt sie sich gerade mit einem Mann, gut zehn Jahre jünger als er, Charan. Er eilte auf die beiden zu.

»Mula, da bist du ja. Ich suche dich. Ich hoffe, ich störe eure Unterhaltung nicht. Doch ich muss dringend mit dir über das Fest heute reden.«

»Du störst, wie du ganz gut weißt, lieber Charan. Doch ich sehe ein, dass wir den weiteren Ablauf der Feier besprechen müssen. Habe einen guten Tag, mein lieber Tirzan, wir sehen uns später.«

»Wie viel Bier hast du zubereitet?«

»Einen Augenblick Geduld, werter Charan. Nun, genug für zwei Handvoll Clans mit zwei Handvoll Männern und deren Frauen und Kindern!«

Charan schaute sie verliebt und bewundernd an. Er konnte sich so viele Menschen nicht vorstellen. Auch nicht, wie viel Bier die trinken würden.

»Wo hast du denn eine solche Menge an Bier untergebracht, werte Mula?«

»Wir haben große Krüge aus gebranntem Lehm, mein Freund. Das Bier ist darin wohl verwahrt und kühl gelagert.«

»Und wie gelingt dir dieser wundervolle Geschmack, geliebte Mula?«

»Die Zubereitung des Bieres liegt in Frauenhand, wie du wohl weißt, geschätzter Charan. Und so erfreue dich an diesem Trank. Gegeben von den Göttern. Die einzelnen Zutaten werde ich dir nicht verraten. Nutze deine Sinne und den Verstand, dann kommst du schon darauf.«

Mula lachte und lief davon.

Melanie hat das Buch zugeklappt. Sie findet die Geschichte spannend. Welch eine andere Welt! Ob es das wirklich mal gegeben hat? Sie fühlt sich mit Mula irgendwie verbunden. Doch warum hat ihr der Doktor gerade dieses Buch gegeben? »Soll ich daraus etwas lernen? Aber was?«

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