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Von Kausalität zu Kontingenz

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Die Systemtheorie fokussiert auf die Entdeckung des Unwahrscheinlichen im Gewöhnlichen, auf die Transformation von Notwendigkeit in Kontingenz. Anders als das Gros der westlichen Philosophen, die meist von einer normativen, rationalen oder „natürlichen“ Grundlage für soziale Realität ausgingen, setzt Luhmann auf das kontingente Auch-anders-möglich-Sein – allerdings nicht als postmodernistisches „anything goes“, sondern als Theorie der Kontingenz.

„Kontingenz“, so Luhmann, „heißt praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit des Sicheinlassens auf Risiken“ (Luhmann 1987, 31), sie bezeichnet „Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen“ (Luhmann 1984, 152): Nichts, was passiert, ist zwingend. Dies ist die logische Folgerung, wenn die alten mechanistischen Steuerungsideen abgelöst werden durch die wechselseitigen Feedbackeffekte komplexer System-Umwelt-Gefüge. Die Erkenntnis, dass Systeme immer nur verstehbar sind in ihren Umweltkontexten, verabschiedet die Idee klarer kausaler Zusammenhänge und Verbindungen. An die Stelle des Kontrollierbarkeitsglaubens tritt das Operieren mit Wahrscheinlichkeiten.

Unter den Bedingungen der Vernetzung erfordert diese neue kontingente Realität von allen Akteuren der Gesellschaft eine Öffnung für das Unplanbare und Unvorhersehbare, eine Flexibilisierung mentaler und organisationaler Muster und Strukturen. In der Praxis hat sich unsere soziale, emotionale und rationale Intelligenz bereits auf diese neue, fluide Realität eingestellt. Unser Denken und Fühlen jedoch folgt großenteils noch immer den Konzepten vorheriger Epochen, wie es der Soziologe und Luhmann-Schüler Dirk Baecker beschreibt:

„Wir haben es immer noch, wenn nicht zunehmend, mit der Topologie von Stimmen (tribale Gesellschaft 1.0), der Teleologie verschiedener Korporationen und Dynastien (antike Hochkultur 2.0) und der Rationalität unruhiger Funktionssysteme (moderne Gesellschaft 3.0) zu tun. Aber diesen überlagert sich die Komplexität einer neuen Verschaltung von Mensch und Maschine, Körper, Bewusstsein und Gesellschaft, die im Fadenkreuz analoger und digitaler Verrechnung eher freigesetzt als gezähmt wird (nächste Gesellschaft 4.0).“ (Baecker 2015a, S. 15)

Klassische soziale, politische oder ökonomische Modelle sind immer weniger in der Lage, die volatilen, paradoxalen und hochkontingenten Phänomene dieser Netzwerkgesellschaft zu erklären. Um die Komplexität der nächsten Gesellschaft umfänglich erfassen und deuten zu können, braucht es eine holistische, system(theoret)ische Perspektive.

Ausweitung der Kontingenzzone

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