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Komplementarität: Mensch versus plus Maschine

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Wie intelligent ist Künstliche Intelligenz? Aus menschlicher Perspektive ist Intelligenz immer verbunden mit einem besonderen „Selbst-Bewusstsein“: mit einem freien Willen und der Fähigkeit zur Selbstreflexion und Introspektion. Diese Konzepte und Kompetenzen bilden auch die Basis für die genuin menschliche Fähigkeit, mit Nichtwissen umzugehen. Das Paradebeispiel dafür ist soziale Intelligenz: Kommunikation dient immer dazu, Nichtwissen zu kompensieren, immer geht es darum, herauszufinden, worum es geht. Soziale Intelligenz ist „Intelligenz, die mit der Unberechenbarkeit selbst rechnet. Das ist paradox; und das zu akzeptieren, ist soziale Intelligenz“ (Baecker 2018b).

Die Fähigkeit, mit dem Unberechenbaren umzugehen, ermöglicht es Menschen, zu abstrahieren und neue Zusammenhänge herzustellen, Dinge zu erkennen, komplexe Probleme zu lösen. Im Kern geht es dabei um einen ganzheitlichen, systemischen Blick auf die Wirklichkeit. Maschinelle Intelligenz ist dagegen stets von Berechenbarkeit abhängig und verfügt immer nur über eine spezifische Perspektive. Das, was KI heute und in absehbarer Zeit leisten kann, beschränkt sich daher auf eine Inselintelligenz oder Tunnelbegabung: auf Rechenvorgänge und Statistiksysteme, die in klar definierten Spezialbereichen supersmart sind, aber beim Blick auf größere Kontexte scheitern.

Insofern führt bereits der Begriff „Künstliche Intelligenz“ in die Irre, weil er maschinelle und menschliche Intelligenz implizit gleichsetzt. Das gilt selbst für Deep-Learning-Algorithmen und neuronale Netzwerke, die ihr Verhalten dynamisch verbessern können: Als Systeme automatisierter Statistikanwendung können sie auf sehr spezielle Anwendungsfälle trainiert werden, sind jedoch hilflos, sobald die Eingabe den Bereich der ihnen bekannten Daten überschreitet. In diesem Sinne ist KI eine „Fake Intelligence“ (vgl. Schnabel 2018): Sie kann zwar Texte übersetzen, medizinische Diagnosen erstellen und Muster humanen Verhaltens imitieren, aber kein echtes Verständnis davon erlangen. Sie kann die Teilnahme an Kommunikation simulieren, aber kein dem Menschen ebenbürtiger Kommunikationspartner sein.

Interessant ist nun aber die Tatsache, dass und wie gerade dieser quasiautistische Charakter der KI die genuin menschlichen Kompetenzen mit neuer Bedeutung auflädt. In der industriellen Revolution gewann der Mensch das „race against the machine“, indem er seinen Verstand, seine Rationalität kultivierte. Die digitale Revolution verlangt nun die Kultivierung ganz anderer Kernkompetenzen, da KI auch die Automatisierung mentaler Aufgaben ermöglicht. Die wahre KI-Lektion besteht deshalb nicht darin, den Maschinen das Denken beizubringen, sondern umgekehrt: Die Maschinen bringen uns Menschen bei, was Denken und Menschsein eigentlich ist und sein kann.

Diese Einsicht ebnet zugleich den Weg für einen kooperativen Umgang mit KI, für ein konstruktives Zusammenspiel von intelligenten Menschen und smarten Maschinen (vgl. Schuldt 2019a; Zukunftsinstitut 2019a). Denn KI nötigt uns nicht nur dazu, ein neues Menschenbild zu entwerfen, sondern auch ein neues Maschinenbild, das technologische „Intelligenz“ ernst nimmt als integralen Bestandteil unserer Gesellschaft. Es geht um den Shift von einem Mensch-versus-Maschine-Denken hin zur Schaffung von Mensch-plus-Maschine-Umwelten, in denen KI die menschliche Intelligenz nicht ersetzt, sondern erweitert.

Schließlich sind Mensch und Maschine im Team erfolgreicher als für sich allein: Gemischte Teams aus Mensch und Computer sind selbst stärksten Schachcomputern überlegen, auch bei der Auswertung von MRT-Scans ist die Fehlerquelle am niedrigsten, wenn Mediziner und KI-Systeme nicht für sich operieren, sondern zusammenarbeiten (vgl. Camelyon16 2016). Richtig klug wird KI also erst im Zusammenspiel mit dem Menschen. Dieses Teamwork kann aber nur gelingen, wenn die Kommunikation zwischen beiden Partnern funktioniert. Ins Zentrum rückt damit die Frage, wie sich die spezifische Intelligenz der Maschinen vernetzen lässt mit der ganzheitlichen Intelligenz von Körper, Gehirn, Bewusstsein und Gesellschaft. Oder präziser: wie und wo sich die komplementären Kompetenzen von Mensch und Maschine so ergänzen können, dass beide ihre jeweiligen Potenziale optimal entfalten.

Computer können am besten rechnen und Muster erkennen, Menschen können am besten verstehen, kontextualisieren, reflektiert entscheiden. Erfolgreiche Mensch-Maschine-Teams sind deshalb hybride Mixturen aus Logik und Intuition, die gemeinsam eine höhere Qualität schaffen als jeweils für sich allein. Einen guten Rahmen für diese symbiotische Beziehung bilden Systeme, in denen Maschinen den Menschen unterstützen, aber am Ende der Mensch die Entscheidungen trifft: Der Computer analysiert Daten und berechnet Wahrscheinlichkeiten, der Mensch erkennt Zusammenhänge, bringt Erfahrung und Intuition ein – und beide Seiten profitieren voneinander. Immer mehr wandelt sich damit die Funktion des Computers vom bloßen Werkzeug zu einer Art komplementär agierendem Kollegen, mit dem der Mensch auf Augenhöhe kommuniziert.

Die sensorische und motorische Aufrüstung der Maschinen verweist zugleich auf die Aspekte der kontingenten Selbstherstellung, die den Menschen ausmacht. Denn da das Zusammenspiel von Bewusstsein, Organismus, Gehirn, Technik und Gesellschaft auch ganz anders sein könnte, muss letztlich auch der Mensch selbst kontingent gedacht werden (siehe III., „Neo-Humanismus: KI und Kontingenzintelligenz“, S. 97). Ein synergetisches Zusammenspiel von Mensch und Maschine eröffnet dann sogar neue Potenziale der Kontingenzgestaltung: eine Art „Ordnung zweiter Ordnung“, die aus der neuen Unordentlichkeit der vernetzten Gesellschaft erwächst und neue hybride Verknüpfungen entstehen lässt. Eine Evolution 4.0.

Ausweitung der Kontingenzzone

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