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Papa Shakespeare
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er Macbeth-Stoff kommt Verdis Intentionen entgegen: Er strebt eine von Shakespeares Kunst inspirierte, tiefergehende Figurenpsychologie und Darstellung des gesamten Spektrums menschlicher Gefühle und Schwächen sowie die Herausarbeitung des Gegensatzes zwischen Individualität und gesellschaftlichen Konventionen an, anders als das in den Opern seiner Kollegen Rossini, Bellini, Donizetti, Pacini oder Mercadante der Fall ist.
Zwischen dem großen englischen Dramatiker, den Verdi „Papa Shakespeare“ nennt[298], und dem Komponisten besteht eine grundlegende psychologische Affinität: Beide bringen in ihren Arbeiten nicht ihre subjektiven Gefühle zum Ausdruck, sondern einzig und allein die Befindlichkeiten ihrer Figuren. Bei beiden ist es unmöglich, im Text und im Subtext die persönliche Haltung des Autors wiederzufinden. Und was die beiden Ausnahmekünstler darüber hinaus verbindet: Sie zielen auf eine realistische Darstellung ihrer Bühnengestalten ab.
Die Macbeth-Tragödie, das bei weitestem kürzeste von Shakespeares Dramen, handelt von einer dominanten, ehrgeizigen, skrupellosen, ihrem Mann überlegenen, in Sigmund Freuds Sicht entgegen der der Shakespeare-Vorlage und der historischen Realität unfruchtbaren Frau[299] (Gruoch, die historische Lady Macbeth, hatte einen Sohn aus erster Ehe), und von ihrem Gatten, einem schwächlichen, unentschlossenen, seiner Frau hörigen Karrieristen. Der englische Dramatiker zeigt eine Ehe voll negativer Abhängigkeiten und seelischer Krankheitsbilder. Verdi, der die dem Wohlklang und der Virtuosität des Gesangs verbundenen Opernkonventionen und ästhetischen Ideale seiner erwähnten Kollegen überwinden, sie mit Wahrhaftigkeit durchsetzen und psychologisch glaubhaft machen will, sieht in dem Drama einen für realistische negative musikalische Farben und Tonfälle hervorragend geeigneten Stoff, und zwar aus mehreren Gründen:
Erstens enthält er keine Liebesgeschichte mit der typischen Konstellation Sopran-Tenor und dem Bariton als Antagonisten oder Vater, was eine radikale Abkehr von der klassischen Dreieckssituation der italienischen Oper bedeutet, und zweitens entfernt er sich von den Prinzipien der italienischen Gesangsoper, die – selbst in vielen Fällen der dem beliebten Opernwahnsinn verfallenen Protagonistinnen – der musikalischen Gestaltung intakter Gefühle verpflichtet ist. Für die Darstellung der kranken Psyche ist für Verdi aber auf Virtuosität und Wohlklang ausgerichteter Gesang undenkbar. Er steht vor der Aufgabe, die Korrumpierung des Menschen durch hemmungsloses Machtstreben, die Pervertierung aller natürlichen Gefühle, die blutrünstige Skrupellosigkeit, die Zerstörung der Seele der Lady, die unbewältigten Schuldgefühle, all das, was mit den bisher in der italienischen Oper eingesetzten gesanglichen Mitteln kaum überzeugend darstellbar war, realistisch zu komponieren.