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Vom Shakespeare-Text zum Opernlibretto
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ie Verwandlung des Shakespeare-Textes in ein Opern-Libretto erfordert zahlreiche einschneidende Änderungen. Zwar folgt der Operntext im wesentlichen dem Handlungsverlauf der Shakespeare-Vorlage und übernimmt manche Passagen sogar wörtlich, doch muß vieles gestrichen, gekürzt und verändert werden. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Ein Opernlibretto unterliegt anderen Gesetzen als ein Stück für das Sprechtheater. Das liegt unter anderem an der schwereren akustischen Verständlichkeit des gesungenen Wortes und an der unterschiedlichen Vortragsgeschwindigkeit des Textes sowie daran, daß die Figuren im Prosatheater einander ausreden lassen, um vom Publikum verstanden zu werden, etwas durchaus Unrealistisches, womit die Musik durch die Möglichkeit gleichzeitiger Äußerungen mehrerer Figuren viel besser umgehen kann.
Das zeigt sich beispielsweise in der Schlafwandelszene der Lady: Verdi setzt wie Shakespeare als Beobachter des Geschehens einen Arzt und eine Kammerfrau ein. Durch deren Anwesenheit und ihr besorgtes Zwiegespräch erscheint die Lady nicht als schlafwandelnder Dämon, sondern als bemitleidenswerte psychisch Kranke, die der
Zuwendung bedarf. Die Gespräche der beiden, die Piave zum Teil wortgetreu von Shakespeare übernimmt, kommentieren die schaurige Szene. Sie unterbrechen damit immer wieder die Äußerungen der Lady, die auf der Prosabühne währenddessen zu stummer Aktion verhalten ist. Bei Verdi findet nur zu Beginn der Szene ein eigener Dialog der beiden statt. Alle weiteren Bemerkungen fallen gleichzeitig mit dem Gesang der Lady oder in dessen kurzen Pausen, ohne jedoch dessen Fluß zu unterbrechen oder zu behindern.
Abgesehen von dem speziellen Mechanismus dieses Beispiels muß bei den personenreichen, handlungsmäßig komplexen und rhetorisch ausgefeilten Dramen Shakespeares für eine Oper vieles reduziert werden: von der Anzahl der Akte, der Schauplätze, der Szenen und der handelnden Personen bis hin zum Textvolumen. So werden aus den fünf Akten Shakespeares bei Piave vier Akte, das Bühnenpersonal wird auf fast die Hälfte der handelnden Personen des Dramas reduziert, und der Umfang des Piave-Librettos (in der Fassung von 1865) beträgt nur wenig mehr als ein Viertel des Shakespeare-Textes. Aus drei Hexen und Hekate im Drama wird die Hauptfigur des Hexenchors.[301]
Nebenhandlungsstränge mit Szenen wie jene zwischen dem Pförtner und Macduff (II,2), die nur in eine Semiseria gepaßt hätten, werden von Verdi und Piave eliminiert, ebenso die Figur der Lady Macduff und die Szene mit ihrem Sohn (IV,2). Lady Macbeth wird noch stärker als bei Shakespeare in das Zentrum der Handlung gestellt, zudem wird bei der Revision der Oper von 1865 ihr Charakter verändert, denn Verdi ersetzt ihr Allegro brillante „Trionfai! securi al fine“ (II,1) durch das Allegro moderato „La luce langue“ (II,2), eine zweiteilige Arie, deren Orchesterbegleitung schon auf sein Spätwerk vorausweist und die musiksprachlichen Errungenschaften der Nachtwandelszene fortsetzt.
Doch Verdi und Piave reduzieren Shakespeare nicht nur für die Opernbühne, sondern fügen auch Neues hinzu: So schreibt Piave eine neue Hexenszene (I,4), die bei Shakespeare keine Entsprechung hat, läßt Banco die Vorahnung auf seine Ermordung aussprechen, die wohl auch dazu dient, die Arie „Come dal ciel precipita“ (II,4) vorzubereiten (bei Shakespeare ahnt Banquo nichts), erfindet das Trinklied der Lady (II,5), das es bei Shakespeare nicht gibt und schafft die Sterbeszene Macbeths (Scena ultima: „Mal per me che m’affidai“) auf offener Bühne, die es bei Shakespeare nicht gibt und die Verdi in der Revision von 1865 dann wieder streicht.
All das entspricht den praktischen Erfordernissen der Opernbühne und zeigt, was ein Libretto zu leisten hat: Erstens, dem Zuhörer verbal jene Basisinformationen zu vermitteln, die er zum Verständnis des Handlungsablaufs benötigt, und zweitens, der Musik die Vorbedingungen in Form eines Gerüsts zu liefern, anhand dessen sie sich mit all ihren Möglichkeiten entfalten kann. Vereinfachend kann man sagen: Was das Libretto nicht sagt oder nur andeutet, wird von der Musik gesagt. Oder, überspitzt formuliert: Ein gutes Libretto soll gar keine großen literarischen Qualitäten haben, denn sonst bedürfte es der Musik nicht.