Читать книгу Giuseppe Verdi. Leben, Werke, Interpreten - Christian Springer - Страница 32
Jérusalem
ОглавлениеE
rst 1847, nach der Uraufführung von I masnadieri in London, kann Verdi dem Gedanken, für Paris zu schreiben, nähertreten. In diesem Jahr hat Paris drei Opern Verdis kennengelernt: Nabucco und die in der Zwischenzeit komponierten Ernani und I due Foscari wurden aufgeführt, allerdings am Théâtre Italien, was international nicht dieselbe Reputation wie ein Erfolg an der Opéra (eigentlich: Académie Royale de Musique) verhieß. Nun bieten die neuen, unter Erfolgsdruck stehenden Direktoren der Opéra, Roqueplan und Duponchel, Verdi die Komposition einer neuen Oper für die Herbstsaison an, was Verdi aber unter Hinweis auf die kurze zur Verfügung stehende Zeit ablehnt. Er schlägt die Umarbeitung der in Frankreich noch unbekannten Lombardi zu einer grand-opéra nach französischem Geschmack vor. Wo es sich als notwendig erweisen sollte, würde er neue Nummern komponieren und in die Partitur einfügen. Der wegen des Librettos um Rat gefragte Eugène Scribe, der Chef der berühmten Pariser Operntextwerkstatt, schlägt Alphonse Royer und Gustave Vaëz (die Textdichter von Donizettis La Favorite) vor, deren Arbeit zu einer deutlichen Verbesserung des Lombardi-Textes führt.
Die Arbeit beginnt: Aus den lombardischen werden französische Kreuzritter, die handelnden Personen bekommen neue Namen, aus Mailand wird Toulouse (wodurch die Umstände, die das Mailänder Publikum in Raserei versetzt haben, verwässert werden), die Handlung wird den neuen Gegebenheiten angepaßt und spielt jetzt zwischen 1095 und 1099 in Toulouse und Palästina. Die Musik der Lombardi wird dem neuen französischen Libretto angepaßt, teilweise neu – und subtiler – instrumentiert, transponiert und neu angeordnet. Einige Nummern streicht Verdi aus der Originalpartitur und ersetzt sie durch neue, darunter die Introduction, die das kurze Allerwelts-Vorspiel der Lombardi ersetzt, die Cabaletta „Ah! viens, démon esprit du mal“, die Hymne „Le Seigneur nous promet“ und einen Marsch. Ebenso schreibt er zahlreiche neue Rezitative und Überleitungen. In Gastons Arie „Je veux encore“ (die französische Version von „La mia letizia infondere“ aus den Lombardi) fügt Verdi eigens für Gilbert-Louis Duprez, den Wundertenor, dessen Name auf den Plakaten allein schon eine Erfolgsgarantie darstellt, eine Phrase mit einem hohen C ein. Das „Salve Maria“ wird, diesmal ohne Beanstandung aus Kirchenkreisen, wieder zum „Ave Maria“, der dritte Akt beginnt mit der für Paris obligaten Ballettmusik, die farbige Schlachtmusik im vierten Akt ist neu, das Finale der Oper ist eine Umarbeitung des Terzettino aus dem Finale der Lombardi.
Nach einer zweimonatigen Probenzeit, die Verdi als geradezu luxuriös empfindet, wird Jérusalem am 22. November 1847 in einer prächtigen Ausstattung an der Académie Royale de Musique uraufgeführt. „Die mise en scène wird absolut wunderbar, da man hier nicht ans Sparen denkt“, schreibt Verdi begeistert am Tag des Probenbeginns, dem 22. September 1847, an Giuseppina Appiani.
Trotz der aufwendigen Inszenierung wird das Werk kühl aufgenommen. Seiner Enttäuschung läßt Verdi am 3. Dezember 1847 in einem Brief an Clara Maffei freien Lauf: „Ich bin es so leid, dieses Wort Jérusalem zu hören, daß ich meine Langeweile und meine schlechte Laune nicht mit Ihnen teilen möchte.“
Auf der Besetzungsliste scheinen Julian Van Gelder (Hélène) und Adolphe Louis Joseph Alizard (Roger) auf. Der musikhistorisch interessanteste unter den Sängern ist der Interpret des Gaston, Gilbert-Louis Duprez (Paris 1806-1896). Der Sänger, der auch als Komponist erfolgreich war (seine erste Oper, La cabane du pêcheur, wurde 1826 in Versailles aufgeführt) debutierte 1825 am Pariser Odéon als Almaviva in Il barbiere di Siviglia. Er blieb bis 1828 an diesem Theater und etablierte sich als tenorino di grazia, als lyrischer Tenor mit Koloraturfähigkeit, der bis zum e² im falsettone sang. Im selben Jahr ging er nach Italien, wo er begann, die italienischen Tenöre zu imitieren, die bis zum b’ und h’ mit Bruststimme sangen und con veemenza phrasierten. Als er 1831, sozusagen als Notlösung, in Lucca für die italienische Erstaufführung von Rossini Guglielmo Tell engagiert wurde, entdeckte er, daß er bis zum c² mit Bruststimme singen konnte. Er gilt seit damals als der Erfinder des do di petto, des mit Bruststimme gesungenen hohen C, so wie es heute gesungen wird. Auch wenn dies nicht ganz der Realität entspricht (aus zeitgenössischen Quellen ist zu entnehmen, daß verschiedene Sänger, darunter Manuel García sr., Jahre vor ihm bei seltenen Gelegenheiten das c² mit Bruststimme genommen hatten), hat er das do di petto populär gemacht. Er etablierte sich hierauf in Italien als Interpret des romantischen Repertoires und errang große Erfolge in Donizetti-Opern: als Percy in Anna Bolena (Florenz 1831 und Rom 1834), als Ugo in Parisina (1833), als Enrico II in Rosmonda d’Inghilterra (1834) und, als Krönung, als Edgardo in der Uraufführung von Lucia di Lammermoor (Neapel 1835) (es wird Duprez nachgesagt, er habe Donizetti, mit welchem er eng befreundet war, bei der Komposition der Arie und Schlußszene der Oper beraten). Im Laufe seiner italienischen Karriere war die Stimme etwas nachgedunkelt und erinnerte in nichts mehr an den ursprünglichen tenorino di grazia.
Abb. 32 – Der Tenor Gilbert-Louis Duprez (1806-1896), der „Erfinder“ des mit Bruststimme gesungenen hohen C. Photographie von André-Adolphe-Eugène Disdéri.
1837 kehrte Duprez nach Frankreich zurück, wo er an der Opéra in der Rolle des Arnold in Guillaume Tell debutierte. Er trompetete die exponierten Höhen seiner Partie mit Vollstimme, worauf sich das Theater in ein Tollhaus verwandelte (in Lucca hatte sein Gewaltakt kaum Beachtung gefunden). Obwohl sich Rossini von diesen unkultivierten Tönen insultiert fühlte, wollte das Publikum ab sofort den Tell nur mehr dann hören, wenn Duprez sang. Duprez war jetzt der unumstrittene Star der Opéra und wurde in zahlreichen Uraufführungen besetzt: in Halévys Guido e Ginevra (1838), La reine de Chypre (1841) und Charles VI (1843), in Berlioz’ Benvenuto Cellini (1838), in Aubers Le lac des fées (1839), in Donizettis Les martyrs und La favorite (beide 1840) und Dom Sébastien (1843) sowie in Verdis Jérusalem (1847), seine letzte neue Rolle. Von seinem unglücklichen Vorgänger Nourrit übernahm er die Rollen in Robert le diable, Les Huguenots, La Juive und La Muette de Portici. Insgesamt hatte er 78 Rollen in seinem Repertoire. In der Saison 1844-45 sang Duprez in London, 1850 bereiste er Deutschland. Er war als Lehrer am Pariser Conservatoire tätig (1842-50) und gründete 1853 seine École Spéciale de Chant. Daneben war er nach wie vor als Komponist tätig, dessen insgesamt acht Opern in Paris aufgeführt wurden.
Im Laufe der Jahre hatte sich Duprez zum ersten bedeutenden tenore di forza entwickelt. Seine Stimme war nicht groß, doch erzielte er große Wirkung durch dramatische Phrasierung und Deklamation. Seine Ablehnung, in Rom 1834 die (für einen baritonalen Tenor komponierte) Partie des Pollione in Norma zu übernehmen, ist als Hinweis auf seine schwache tiefere Lage zu verstehen. Schon 1838 notierte Berlioz, daß Duprez’ Organ rauher geworden war, ein erstes Anzeichen, daß die Stimme durch Forcieren und zu häufige Auftritte (in Italien mußte er manchmals bis zu sechs Mal pro Woche auftreten) Schaden genommen hatte. 1850 trat er von der Bühne ab. Er veröffentliche zahlreiche Schriften, darunter ein berühmtes Lehrbuch, L’art du chant (1845) sowie Autobiographisches, Souvenirs d’un chanteur (1880) und Recréations de mon grand âge (1888).
Duprez’ Wirkung geht über die neue Art, exponierte Höhen zu singen, hinaus: Seit er 1837 das Publikum erstmals für den neuen Gesangsstil begeistert hatte, begannen sich die Interpretationen der Tenorrollen zu ändern. Die Tenorkollegen imitierten Duprez, es wurde mit mehr dramatischem Impetus vorgetragen, die Akzente wurden heftiger, als Folge wurden die Tempi angezogen. Dessenungeachtet darf man sich Duprez nicht als brüllenden Verismo-Tenor vorstellen, sondern als Vorläufer von Sängern wie Francesco Tamagno, mit dessen stimmlichen Mitteln und Kraft des Vortrages er sich aber nicht messen konnte.
E
rwähnenswert ist an dieser Stelle der damalige Kammerton. Daß die Komponisten, wie manchmal behauptet wird, Tenorrollen mit einer exponierten Tessitura und halsbrecherischen hohen Tönen nur deshalb schreiben konnten, weil die Stimmung wesentlich tiefer gewesen sei als heute, kann leicht widerlegt werden: Sie hätten dementsprechend auch für alle anderen Stimmlagen extreme Höhen vorschreiben müssen, was aber nicht der Fall war. 1823 lag die Stimmung in Paris bei 431 Hz, 1830 – zur Zeit des Guillaume Tell – war sie bereits auf 439 Hz gestiegen, ein Jahr nach Jérusalem hatte sie 449 Hz erreicht. Die Pariser Académie de Musique legte angesichts dieser Entwicklung 1859 das A mit 435 Hz fest. Generell wurden um 1850 in den europäischen Opernhäusern und Konzertsälen 450 Hz erreicht oder überschritten. 1859 wurden in Wien 456 Hz erreicht. Erst 1939 wurden bei der Internationalen Stimmtonkonferenz in London 440 Hz standardmäßig für das A festgelegt, die heute jedoch aus Gründen des brillanten Orchesterklangs wieder überschritten werden.
U
nter dem Strich ist das Unternehmen für Verdi ein Erfolg: Er wird für die Umarbeitung wie für eine neue Oper bezahlt und auch der Prestigezuwachs schlägt sich positiv zu Buche: Louis-Philippe, für den zwei Akte aus Jérusalem in den Tuilerien aufgeführt werden, ernennt ihn zum Chevalier de la Légion d’Honneur.
Wenig später läßt Verdi, als Geschäftsmann um nichts weniger begabt denn als Komponist, das Libretto ins Italienische übersetzen (diese Version von Calisto Bassi wurde von zeitgenössischen Kritikern allgemein als Verschlimmbesserung angesehen), widmet diese Fassung Giuseppina Strepponi und verkauft die italienischen Rechte an Ricordi. Die Aufführung dieser italienischen Fassung in Mailand 1850 unter dem Titel Gerusalemme bleibt erfolglos. In dieser Fassung wird das Werk zum ersten Mal im 20. Jahrhundert 1963 in Venedig unter der Leitung von Gianandrea Gavazzeni mit Leyla Gencer, Jaime (Giacomo) Aragall und Giangiacomo Guelfi in den Hauptrollen gespielt. Auch diese Aufführung führt zu keiner Renaissance dieser Werkfassung.