Читать книгу Giuseppe Verdi. Leben, Werke, Interpreten - Christian Springer - Страница 26
Das Meer in einem Löffel einfangen
ОглавлениеA
ls Librettisten für das Macbeth-Experiment zieht Verdi seinen Freund Francesco Maria Piave heran. Es ist dies seine dritte Zusammenarbeit mit ihm und die bis dahin unkonventionellste und bedeutendste. Verdi vertraut Piave, der einer seiner wenigen engen Freunde ist und mit dem er einen offeneren und freieren Umgang pflegt als beispielsweise in den 1880er und 1890er Jahren mit Arrigo Boito. Dazu kommt, daß der 1810 geborene venezianische Librettist fast gleich alt wie Verdi ist, mit ihm auf Augenhöhe verkehrt und ihn zweifellos besser versteht als der um fast dreißig Jahre jüngere Boito, der die Generationenbarriere zwischen ihm und Verdi nie recht überwinden kann.
Von Piave wurde gesagt: „Er ist ein Meister im Verkürzen und Verkleinern. Er versteht es, das Meer in einem Löffel einzufangen“. Was damit gemeint ist, wird aus folgendem Beispiel ersichtlich. Wenn es bei Shakespeare in der Szene, in der Macbeth vom Tod seiner Frau erfährt (V,5), heißt:
Life’s but a walking shadow; a poor player,
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more: it is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing.
und die deutsche Übersetzung von Schlegel/Tieck lautet:
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild; ein armer Komödiant,
Der spreizt und knirscht sein Stündchen auf der Bühn’,
Und dann nicht mehr vernommen wird: ein Märchen ist’s,
Erzählt von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
Das nichts bedeutet.
liest sich die Stelle in der italienischen Übersetzung wie folgt:
La vita non è altro che un’ombra in cammino; un povero attore
che s’agita e pavoneggia per un’ora sul palcoscenico
e del quale poi non si sa più nulla. È un racconto
narrato da un idiota, pieno di strepito e di furore,
e senza alcun significato.
Piave formt daraus den folgenden dreizeiligen Text (nur 17 Wörter im Vergleich zu den 46 Wörtern der Vorlage), der nichts von der Aussage vermissen läßt:
La vita!... Che importa?...
È il racconto di un povero idiota!
Vento e suono che nulla dinota!
Das Leben!... was liegt daran?
Das Märchen eines armen Narren!
Wind und Schall, der nichts bedeutet!
Das ist jene Kürze, die Verdi von Piave stets einfordert, als er ihm das – leider nicht erhalten gebliebene – Prosalibretto des Macbeth am 4. September 1846 schickt und dazu schreibt: „Ich lege Dir Kürze und Erhabenheit ans Herz.“