Читать книгу Giuseppe Verdi. Leben, Werke, Interpreten - Christian Springer - Страница 29
Kürze und Erhabenheit
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achdem die Entscheidung aus Besetzungsgründen definitiv zugunsten des Macbeth gefallen ist und Lanari der Stoffwahl zugestimmt hat, läßt Verdi die bereits bis zur Hälfte gediehenen Masnadieri, die er im Folgejahr in London fertigstellen will, liegen und schickt seinen Entwurf des Macbeth am 4. September 1846 mit der Anmerkung „Ich lege Dir Kürze und Erhabenheit ans Herz“ zur Ausarbeitung an Piave, der sich sofort an die Arbeit macht. Bereits fünf Wochen später kann Verdi dem Impresario nähere Angaben machen.
Hier hast Du das Exposé zu Macbet, und Du wirst begreifen, worum es geht. Wie Du siehst, benötige ich einen erstklassigen Chor: insbesondere der Frauenchor muß exzellent sein, denn es wird zwei Chöre der Hexen geben, die von größter Wichtigkeit sind. Achte auch auf die Bühnenmaschinerie. Kurzum, die Dinge, auf die bei dieser Oper besonderes Augenmerk zu legen ist, sind: Chor und Maschinerie.
Ich bin überzeugt, daß Du alles übrige mit der Großzügigkeit, die Dich so sehr auszeichnet, auf die Bühne bringen und dabei nicht knausrig sein wirst. Berücksichtige auch, daß ich Ballerinen brauche, die gegen Ende des dritten Aktes einen kleinen graziösen Tanz aufführen müssen. Scheue keine Kosten (ich sage es Dir noch einmal), Du wirst, so hoffe ich, dafür belohnt werden. Außerdem wirst Du täglich tausendmal von mir gesegnet werden, und merke Dir wohl, daß mein Segen fast ebensoviel wert ist wie der eines Papstes.
Scherz beiseite, aber ich bitte Dich aufrichtig es so einzurichten, daß alles klappt und daß ich mir nicht um die anderen Dinge Sorgen zu machen brauche. Wenn Du übrigens möchtest, daß ich Dir Bühnenbildskizzen und die Figurinen für die Kostüme anfertigen lasse, dann werde ich sie anfertigen lassen, aber erst später, denn jetzt muß ich weitermachen mit dem Komponieren und darf keine Zeit verlieren.[302]
Am selben Tag informiert Muzio wie üblich Barezzi.
Für Florenz schreibt der signor Maestro den Macbeth. Die Sänger werden sein: die Löwe und Varesi, nicht Ferri, denn der signor Maestro hat ihn nicht gewollt: Ferri weiß nicht, daß Varesi engagiert worden ist, und er weiß auch nicht, daß er in den neuen Opern [d.h. in den Aufführungen der neuen Oper] nicht singen wird. Man wird das bis zur Fastenzeit [vor ihm] geheimhalten, und dann wird man ihm eröffnen, daß in der neuen Oper Varesi den Macbeth singen wird. Das Engagement Varesis wird in keiner Zeitung veröffentlicht, solange es Ferri noch nicht weiß.[303]
Um die Idealbesetzung für den Macbeth zu engagieren, haben offenbar weder Verdi noch Lanari oder sonstige Beteiligte bedacht, wie sehr man mit solchen kleinlichen Theaterintrigen der Reputation eines Sängers Schaden zufügen kann. Wie immer am Theater ist Geheimhaltung eine Illusion: Es werden keine zwei Monate vergehen, bis Varesi in halb Italien hörbar kundtut, daß er die Hauptrolle in der neuen Oper Verdis singen wird.
Als Varesi nach Rom abreiste, hat er das Convito [Bankettszene, II,5-7] und die Visione [Erscheinungsszene, III,3] mitgenommen und er hat in ganz Mailand ein ungeheures Getöse veranstaltet, indem er sagte, daß dies die schönste und dramatischeste Musik Verdis sei. In Piacenza hat er noch mehr gesagt. In allen Orten, durch die er kam – in Parma, Bologna, Florenz – trompetete er wie ein Irrer vor allen hinaus, daß er die erhabenste Musik Verdis mit sich führe.[304]
Unbeirrt von solchen Episoden arbeitet Verdi an der Komposition des Macbeth und läßt sich dabei – zum Unterschied von den vorhergegangenen Opern – Zeit. Er lehnt es während dieser Arbeit ab, andere Aufträge anzunehmen oder sich wegen künftiger Projekte auch nur Gedanken zu machen, was nochmals zeigt, daß ihm dieses Werk – seine erste Begegnung mit Shakespeare – mehr bedeutet als frühere Arbeiten.
Elf Tage nach der Uraufführung des Macbeth, als Verdi schon im Begriff ist, seine Zelte in Florenz abzubrechen, wird der Komponist, dem opportunistische Servilität und liebedienerische Unterwürfigkeit ein Greuel sind, einen Akt setzen, der nicht nur den Stellenwert seiner neuen Oper unterstreicht, sondern auch seine aufrichtigen Gefühle seinem Schwiegervater gegenüber unter Beweis stellt.
Schon seit langer Zeit hatte ich vor, Ihnen, der mir Vater, Wohltäter und Freund gewesen ist, eine Oper zu widmen. Das war eine Pflicht, der ich schon früher hätte nachkommen müssen, und ich hätte es auch getan, wenn nicht machtvolle Umtände es verhindert hätten. – Hier ist also dieser Macbeth, den ich mehr als meine anderen Opern liebe und den ich deshalb für würdiger erachte, Ihnen gewidmet zu werden. Er kommt von Herzen: und möge er von Herzen angenommen werden; er sei Ihnen Beweis für ewiges Gedenken, Dankbarkeit und Zuneigung, die Ihnen entgegenbringt Ihr Ihnen herzlichst zugetaner G. Verdi[305]
Die Arbeit am Macbeth schreitet zügig voran. Verdis Einflußnahme auf das versifizierte Libretto, an dem er unter Mithilfe Maffeis[306] selbst arbeitet, ist intensiv wie nie zuvor. Im Oktober teilt Lanari Verdi korrekterweise mit, daß Sofia Loewe[307] in schlechter Verfassung ist. Doch es kommt noch schlimmer:
Die Loewe zieht sich von der Bühne zurück. Der signor Maestro bedauert das sehr, weil von den heutigen Sängerinnen kann keine die Lady im Macbeth mit derselben Wirkung wie die Loewe darstellen. An ihrer Stelle wird die Barbieri singen.[308]
Der Ersatz, den Lanari für die Loewe ausgewählt hat, ist Marianna Barbieri Nini, die sogleich wissen möchte, wie ihre Rolle aussieht.
Gesundheitlich geht es mir gut; doch wie ich Dir in meinem letzten Brief schrieb, bin ich ein bißchen müde. Die Barbieri soll ein wenig Geduld haben; denn wenn ihr dieses Genre zusagt, ist sie recht gut bedient. Addio, Addio.
P.S.: Beachte, daß Bancos Geist aus dem Boden auftauchen muß; es muß derselbe Schauspieler sein, der den Banco im 1. Akt gespielt hat; er muß einen aschfarbenen, aber ziemlich durchsichtigen und feinen Schleier tragen, den man kaum sehen kann, und Banco muß das Haar zerrauft und verschiedene sichtbare Wunden am Hals haben. All diese Ideen habe ich aus London, wo man diese Tragödie seit 200 Jahren und mehr immerzu aufführt.[309]
Eine Woche später wendet sich Verdi erstmals direkt an die für die weibliche Hauptrolle vorgesehene Sängerin:
Ich habe versucht, [...] Musik zu machen, die, so gut ich es vermochte, an das Wort und die Situation gebunden ist; und ich wünsche, daß die Künstler diese meine Idee genau verstehen, ich wünsche also, daß die Künstler mehr dem Dichter als dem Komponisten dienen.[310]
Hier erscheint dieser Wunsch Verdis zum ersten Mal. Dieselben Worte richtet Verdi einige Tage später an den Darsteller des Macbeth.
Es hat etwas gedauert, bis ich Dir die Musik geschickt habe, weil ich ein wenig Ruhe brauchte. Hier hast Du nun ein Duettino, ein großes Duett und ein Finale. Ich werde nie aufhören, Dich zu bitten, die Situation und die Worte gut zu studieren: die Musik kommt von selbst.
Mit einem Wort, mir ist es lieber, wenn Du mehr dem Dichter dienst als dem Komponisten. Aus dem ersten Duettino kannst Du viel herausholen (mehr, als wenn es eine Cavatina wäre). Achte gut auf die Darstellung, wenn er den Hexen begegnet, die ihm den Thron prophezeien. Bei dieser Weissagung bist Du erstaunt und bestürzt; doch im selben Augenblick regt sich in Dir der Ehrgeiz, den Thron zu besteigen. Darum wirst Du den Anfang des Duettinos sotto voce singen, und achte darauf, das ganze Gewicht auf die Worte „Ma perché sento rizzarsi il crine?“ zu legen. Achte wohl auf die Bezeichnungen, auf die Akzente bei pp und f..., die in den Noten stehen. Denke daran, daß Du auch eine weitere Wirkung bei den Noten[311] [es folgt ein kurzes Notenbeispiel] erzielen mußt. [...]
Im großen Duett müssen die ersten Worte Verse des Rezitativs, wenn er dem Diener den Befehl erteilt, ohne Nachdruck gesprochen werden. Aber dann, wenn er allein ist, gerät er nach und nach in Erregung und glaubt, einen Dolch in seinen Händen zu sehen, der ihm den Weg zur Ermordung Duncans weist. Das ist dramatisch und poetisch ein wunderschöner Moment; Du mußt gut darauf achten!
Bedenke, daß es Nacht ist: alles schläft: das ganze Duett muß sotto voce vorgetragen werden, aber mit dumpfer, Schrecken einflößender Stimme. Nur Macbet allein sagt (wie in einem Augenblick der Erregung) einige Sätze laut und mit voller Stimme; aber das alles wirst Du in den Noten erklärt finden. Damit Du meine Ideen recht verstehst, sage ich Dir auch, daß die Instrumentation in diesem ganzen Rezitativ und Duett aus Streichinstrumenten mit Dämpfern, zwei Fagotten, zwei Hörnern und einer Pauke besteht. Du siehst also, daß das Orchester außerordentlich leise spielen wird, und Ihr müßt ebenfalls gedämpft singen. Ich empfehle Dir, die folgenden poetischen Stellen, die außerordentlich schön sind, besonders hervorzuheben:
„Ah questa mano!...
Non potrebbe l’Oceano
queste mani a me lavar!“
Dann die andere:
„Vendetta tuonarmi come angeli d’ira
Udrò di Duncano le sante virtù!“
Das erste Tempo 6/8 des Duetts ist ziemlich schnell. Das zweite Tempo 3/8 ist Andantino mosso – das letzte Tempo [alla breve] ist prestissimo, sotto voce, und am Ende darf man den Text kaum verstehen, während Macbeth (fast außer sich) von der Lady weggezogen wird.[312]
Das erste Finale versteht sich von selbst. Achte lediglich darauf, daß es nach den ersten Takten eine Stelle für die Stimmen allein gibt, bei der Du und die Barbieri ganz sicher sein müßt, um die anderen zu stützen. Verzeih das Geschwätz. Bald schicke ich Dir den Rest.[313]
Diesem Brief an Varesi läßt Verdi im Jänner und Februar 1847 zwei weitere mit genauen Erläuterungen folgen.
Hier ist der dritte Akt, der, wie Du sehen wirst, weniger anstrengend geworden ist, als ich annahm. Die Szene stellt eine Höhle dar, in der die Hexen ihre Hexereien im Chor betreiben; dann trittst Du auf und befragst sie in einem kurzen Rezitativ. Dann kommen die Erscheinungen, bei denen Du nur wenige Worte hast, doch schauspielerisch alles mit Gesten begleiten mußt. Dann hast Du das Cantabile, wenn sich Dir die acht Könige vorstellen: Am Anfang ist es abgehackt, um die Erscheinungen zu begleiten, doch dann folgt ein Cantabile sui generis, aus dem Du eine große Wirkung herausholen mußt: Ich brauche Dir nicht eigens zu sagen, daß Nachdruck auf die Worte Morrai fatal progenie[314] sowie am Ende auf die Worte Ah che tu non hai vita![315] zu legen ist. Diese Stelle gibt es in zwei Versionen: wähle die, die Dir besser liegt, und schreib mir, welche ich instrumentieren soll.
Ich lege Dir die Cabaletta ans Herz: gibt gut acht: sie hat nicht die gewöhnliche Form, denn nach all dem vorherigen hätte sich eine Cabaletta mit den üblichen Formen und den üblichen ritornelli trivial ausgemacht. Ich hatte eine andere [Cabaletta] gemacht, die mir gefiel, wenn ich sie für sich allein probierte, die mir aber unerträglich wurde, als ich sie der ganzen vorhergehenden [Musik] anfügte. Diese hier gefällt mir sehr und ich hoffe, daß sie auch Dir gefällt. Nach der Kadenz gibt es eine Phrase, die ich fast bebend und sotto voce [ausgeführt] wünsche, sodaß die Kraft für die Dur-Passage, die nachher kommt, aufgespart wird ... und hier kann man das Tempo etwas anziehen.
Ich hoffe, Du hast auch den ersten Akt erhalten ... Nach Erhalt dieses Briefes schreib mir sofort. Ich bin sicher, daß Dir die Tessitura liegt; doch vielleicht bereitet Dir die eine oder andere Note oder Passage Schwierigkeiten, dann schreib mir, bevor ich sie instrumentiere. Nun fehlt nur noch die letzte Szene, die für Dich aus einem ruhigen, sangbaren Adagio und aus einem [einer] sehr kurzen Tod[esszene] besteht: doch wird es nicht einer jener sonst üblichen, süßlichen etc. Tode sein .... Du begreifst wohl, daß Macbetto nicht so sterben darf wie Edgardo[316] und seinesgleichen. Kurzum, achte auf die Worte und auf das Sujet: etwas anderes will ich nicht. Das Sujet ist schön, die Worte sind es ebenfalls.[317]
Und zuletzt:
Hier hast Du das letzte Stück, das Du von einem Kopisten reinschreiben lassen mußt, um es einstudieren zu können, und damit hast Du dann Deine ganze Rolle: ich lege Dir ans Herz, sie gut zu lernen, bevor Du nach Florenz kommst, um gleich mit den Bühnenproben beginnen zu können. Ich lege die Schlußszene in Deine Hände. Es ist ein Adagio in d-Moll, das man fein herausarbeiten muß, cantabile ed affettuoso. Ich rate Dir, in der Überleitung die Zeilen La vita!... che importa! È il racconto di un povero idiota: Vento e suono che nulla dinota ... mit aller Ironie und aller Verachtung, die Dir zu Gebote stehen, zu sprechen.
Aus dem Tod kannst Du viel herausholen, wenn Du zum Gesang entsprechend agierst. Du weißt wohl, daß Macbet nicht wie Edgardo, Gennaro[318] etc. ... sterben darf, man muß [die Todesszene] also auf ganz neue Weise darstellen. Sie kann pathetisch sein; aber mehr noch als pathetisch soll sie beängstigend sein. Alles sotto voce, mit Ausnahme der letzten beiden Verse: die sollst Du auch durch Dein Spiel unterstreichen, indem Du die Worte Vil corona ... und Sol per te mit aller Kraft hervorstößst. Du liegst (wie sich von selbst versteht) auf dem Boden, aber bei diesem letzten Vers richtest Du Dich fast völlig auf und kannst dadurch jede erdenkliche Wirkung erzielen ... Sei bald in Florenz, mit der Partie im Kopf.[319]
Was Verdi seinen Sängern mit solchen Erklärungen abverlangt, ist nichts anderes als die uneingeschränkte gesangstechnische Beherrschung ihrer stimmlichen Mittel als Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung der dynamischen Vorschriften ihrer Rollen und damit der musikdramatischen und expressiven Vorstellungen des Komponisten. Diese Forderung hat damals wie heute allgemeine Gültigkeit, denn nur ein Sänger, der seine Stimme über ihren gesamten Umfang modulieren kann und dynamische Vorschriften vom pianissimo bis zum fortissimo, vom diminuendo bis zum rafforzando, von der messa di voce[320] bis zum sforzato in allen Lagen auszuführen imstande ist, kann einer Komposition gerecht werden.[321]
D
er Bariton Felice Varesi (Calais 1813 – Mailand 1889), an den sich Verdi beschwörend wendet, debutierte 1834 in der überaus schwierigen Partie des Cardenio in Donizettis Il furioso all’isola di San Domingo und danach sogleich als Torquato Tasso. Er spezialisierte sich vorerst im Bellini- und Donizetti-Fach und trat damit in Novara, Faenza, Florenz, Modena, Genua, Rom, Perugia und Parma auf, bevor er 1841 als Publio in Mercadantes La vestale an der Mailänder Scala debutierte. Dort sang er in Pacinis Saffo, in Luigi Riccis Le nozze di Figaro und in der Uraufführung von Federico Riccis Corrado d’Altamura. Zwischen 1842 und 1847 war er ein gern gesehener Gast am Wiener Kärntnertortheater. Für die dortige Uraufführung von Donizettis Linda di Chamounix schrieb dieser 1842 die Partie des Antonio für ihn. In Wien trat er darüber hinaus in Donizettis Alina, regina di Golconda (1843), Roberto Devereux (1844) und Maria Padilla (1847) auf.
Varesis erste Begegnungen mit Verdi-Rollen waren Ernani (Padua, 1844) und I due Foscari (Bergamo, 1845). Verdi, der den Sänger nicht nur wegen seiner stimmlichen und gestalterischen Ressourcen, sondern auch wegen seiner ungewöhnlichen Intelligenz schätzte, vertraute ihm die Baritonhauptrollen in den Uraufführungen von Macbeth (1847), Rigoletto (1851) und La traviata (1853) an. Für den anfänglichen schwachen Erfolg der Traviata machte Varesi Verdi insofern verantwortlich, als er sich darüber beklagte, daß er nur eine Arie hatte und das Publikum mehr von ihm erwartet hätte. In Neapel sang Varesi neben dem Alphonse in Donizettis La favorite den Francesco Moor in I masnadieri. 1856-57 war der Bariton in Madrid engagiert, 1860 kehrte er nach Wien zurück, trat in Budapest auf, 1864 debutierte er in London in Rigoletto, seiner wahrscheinlich besten Interpretation neben dem Macbeth.
Abb. 27 – Der Bariton Felice Varesi (1813-1889), der in den Uraufführungen von Macbeth, Rigoletto und La traviata die Baritonhauptrollen sang.
Muzios Hinweis auf die „kleine, häßliche Figur“ und auf die Stimmlosigkeit Varesis[322] liegt darin begründet, daß der schlanke, fast zarte Varesi nicht pompös wie viele seiner Kollegen auftrat und sich als leidenschaftlicher Singschauspieler durch seinen situationsbezogenen Stimmeinsatz von den bassi cantanti, die sich weniger auf den dramatischen Ausdruck als auf die Schönheit der Tongebung und den Gesangsstil konzentrierten, unterschied.
Nach den Anweisungen für die Sänger wendet sich Verdi der Theaterpraxis zu.
Wenn Du die Musik erhältst, wirst Du sehen, daß zwei Chöre von größter Bedeutung dabei sind: Spare nicht an den Choristen, und Du wirst zufrieden sein. Achte darauf, daß die Hexen immer in drei Gruppen aufgeteilt sein müssen, am besten wäre, wenn sie 6.6.6 wären, insgesamt also 18 etc. ... Ich lege Dir den Tenor ans Herz, der den Macduff singen soll; und dann müssen alle zweiten Partien gut besetzt sein, denn die Ensemblenummern erfordern gute Stimmen. An diesen Ensemblenummern ist mir sehr gelegen.
Ich kann Dir nicht genau sagen, wann ich nach Florenz kommen werde, denn ich will die ganze Oper hier in Ruhe fertigstellen. Du kannst sicher sein, daß ich zeitgerecht eintreffen werde. Verteile die Partien der Chöre und [Solo-]Sänger einzeln, damit ich, wenn ich eintreffe, nach zwei oder drei Proben die Orchesterproben angehen kann, denn es werden viele Orchester- und Bühnenproben nötig sein.
Ich bedauere, daß der Darsteller, der die Rolle des Banco spielen soll, den Geist nicht spielen will! Und warum nicht?... Sänger müssen zum Singen und zum Spielen engagiert werden: außerdem ist es Zeit, diese Unsitten abzuschaffen. Es würde etwas Ungeheuerliches sein, wenn ein anderer den Geist spielte, denn Banco muß sein Aussehen genau beibehalten, auch wenn er ein Geist ist ...[323]
Über den Abschluß der Arbeit berichtet wie immer Muzio.
Sonntag [31. Jänner] wird der signor Maestro die ganze Oper fertiggestellt haben und Montag wird er mit der Instrumentation beginnen.[324] Nach Fertigstellung der Instrumentation wird er nach Florenz fahren.
Die Musik des Macbeth ist unendlich schön. Es gibt kein schwaches Stück, alle sind schön. [...] Ich glaube, daß niemand schönere Musik als die des Macbeth schreiben kann. Wenn die Wirkung der mise en scène schön ist, bietet mit Sicherheit kein modernes Werk ein derart grandioses und feierliches Schauspiel.[325]
Nachdem Verdi am 31. Jänner in einem Brief an Barbieri Nini, die die Partie gerade studiert, auf die Feststellung Wert gelegt hat, daß Macbeth „ein Drama ist, das mit den anderen nichts gemein hat“, reist er nach Florenz, wo er am 16. Februar 1847 abends[326] eintrifft. Bei ihm ist Muzio, der als Begleiter bei den Klavierproben vorgesehen ist.
Verständlicherweise kommt jeglicher Briefverkehr mit Sängern, Theaterdirektoren, Librettisten usw. zum Erliegen, wenn sich der Komponist am Ort der Aufführung einfindet. Wir sind also auf andere Quellen angewiesen: Eugenio Checchi rückt einen Bericht über die Protagonistin der Macbeth-Uraufführung in seinem Verdi gewidmeten Buch[327] in den Brennpunkt des Kapitels über diese Oper.[328]
Die einzigartige Sängerin, dank derer der Macbeth einen so aufsehenerregenden Erfolg hatte, lebt heute, nachdem sie sich vom Theater zurückgezogen hat, in Florenz; in ihrem Gedächtnis sind aber die alten Erinnerungen noch frisch: es ist jene Barbieri Nini, von der es damals hieß, daß sie die Rolle der schreckenerregenden Protagonistin im Drama Shakespeares besser als die größten und gefeiertsten Schauspielerinnen darstelle. Vor einigen Wochen rief ein lieber Freund auf mein Ersuchen im Gedächtnis der großen Künstlerin jene Erinnerungen wach, und sie hatten die Macht, ihre Phantasie in jene unvergeßliche Zeit zurückzuversetzen, in der man den Macbeth einstudierte und aufführte und dadurch in der Welt einen weiteren Strahl des göttlichen Lichtes des Genies verbreitete.
Die Barbieri Nini erzählt, daß es eine Eigenheit Verdis war, bei den Proben fast nie ein Wort zu sprechen. Das bedeutete nicht, daß der Maestro zufrieden war, ganz im Gegenteil. Nach Ende eines Stücks gab er Romani[329] ein Zeichen (der alte Pietro Romani, der größte Opern-Concertatore unseres Jahrhunderts, der Freund Rossinis [...]); auf dieses Zeichen Verdis trat Romani zu ihm hin, sie gingen auf der Bühne ganz nach hinten, und mit dem Klavierauszug vor Augen wies der Komponist mit dem Finger auf die Stellen hin, deren Ausführung nicht seinen Vorstellungen entsprochen hatte.
„Sag’ Du mir, wie ich es machen soll“, antwortetete Romani mit großer Geduld.
Aber Verdi erklärte dieses verwünschte „wie“ nur selten. Er behalf sich mit Gesten, mit heftigen Schlägen auf die Partitur, zeigte mit der Hand ein rallentando oder rafforzando an und dann ging Verdi zu seinem Platz zurück und sagte, so als ob zwischen den beiden nach langer Diskussion eine überzeugende Klärung zustandegekommen wäre:
„Jetzt hast Du es verstanden: so will ich es.“
Und der arme Romani mußte sich sein brillantes Hirn zermartern, um zu verstehen, auch wenn er gar nichts verstanden hatte[330], und es dem Orchester und den Sängern zu vermitteln.
Die Klavier- und Orchesterproben zu Macbeth waren über hundert: Der unerbittliche Verdi kümmerte sich nicht darum, daß er die Sänger ermüdete, daß er sie Stunde um Stunde mit demselben Stück plagte. Und solange nicht jene Interpretation erreicht war, die sich nach seiner Auffassung am wenigsten schlecht zu dem Ideal seiner Vorstellung fügte, ging er nicht zu einer anderen Szene weiter. Bei den Gruppen[331] war er nicht sehr beliebt, weil von seinen Lippen niemals ein Wort der Ermunterung, niemals ein zustimmendes bravo kam, nicht einmal dann, wenn die Orchestermusiker und die Choristen glaubten, alles Menschenmögliche getan zu haben, um ihn zufriedenzustellen; und das Schandmaul dieser scharfzüngigen, ein wenig boshaften Florentiner machte sich in Epitheta Luft, von denen so manches aufs Haar jenem Teil der Geige glich, der dazu dient, die Saiten zu spannen und zu lockern.[332]
Aber die Leiter der Aufführung, der Maestro concertatore Pietro Romani und der Dirigent Alamanno Biagi[333] sowie die Künstler, die zu Recht einen berühmten Namen hatten wie die Barbieri-Nini und Varesi, erlagen zunehmend der Faszination dieses eisernen Willens, dieser ungebändigten Erfindungsgabe, die nie zufriedenzustellen war und die jeden Tag eine neue Interpretation vorschlug, die vielleicht sogar zu der des Vortages im Gegensatz stand, aber noch perfekter, künstlerisch noch wirksamer war.
Dann läßt Checchi die Sängerin selbst zu Wort kommen:
Der Maestro kümmerte sich auf den Proben um jedes Detail der Partitur und ich erinnere mich, daß wir morgens und abends, im Foyer des Theaters oder auf der Bühne (je nachdem, ob es Klavier- oder Orchesterproben waren), zitternd auf den Maestro schauten, sobald er erschien, und versuchten, von seinen Augen oder aus der Art, wie er die Künstler grüßte, abzulesen, ob es für diesen Tag irgendeinen neuen Einfall gäbe. Wenn er mir fast lächelnd entgegenkam und etwas sagte, das wie ein Kompliment klang, war ich sicher, daß mir an diesem Tag eine noch längere Probe ins Haus stand. Ich fügte mich resigniert, aber langsam erfaßte auch mich eine große Leidenschaft für diesen Macbeth, der sich in so einzigartiger Weise von dem unterschied, was bis dahin geschrieben und aufgeführt worden war.
Ich erinnere mich, daß für Verdi zwei Stellen der Oper von herausragender Bedeutung waren: die Nachtwandelszene und mein Duett mit dem Bariton. Man wird es mir kaum glauben, aber die Nachtwandelszene kostete mich drei Monate Studium: Drei Monate lang versuchte ich morgens und abends jene Menschen zu imitieren, die im Schlaf sprechen, die (wie Verdi mir sagte) Worte artikulieren, fast ohne die Lippen zu bewegen, und dabei die anderen Teile des Gesichts einschließlich der Augen unbewegt lassen. Es war zum Verrücktwerden.
Und das Duett mit dem Bariton, das mit: Fatal mia donna, un murmure beginnt – das klingt wie eine Übertreibung –, wurde mehr als hundertfünfzig Mal geprobt: um zu erreichen, wie der Maestro sagte, daß es mehr gesprochen als gesungen würde. Und hören Sie sich jetzt das an: Am Abend der Generalprobe zwang Verdi bei vollbesetztem Zuschauerraum auch die Sänger, die Kostüme anzuziehen, und wenn er sich auf eine Sache versteifte, wehe, wenn man ihm widersprach. Wir waren also angezogen und fertig, das Orchester war bereit, der Chor auf der Bühne, als Verdi mich und Varesi, nachdem er uns ein Zeichen gegeben hatte, hinter die Kulissen rief: er sagte, daß wir ihm einen Gefallen tun müßten und mit ihm in den Saal des Foyers gehen müßten, um für dieses verfluchte Duett noch eine Klavierprobe abzuhalten.
„Maestro“, sagte ich entsetzt zu ihm, „wir haben doch schon die schottischen Kostüme an: wie soll das gehen?“
„Ihr werdet euch einen Mantel überziehen.“
Und der Bariton Varesi, der verärgert über das ungewöhnliche Ansinnen war, wagte die Stimme zu erheben und sagte:
„Aber wir haben es schon hundertfünfzig Mal geprobt, Herrgott noch einmal!“
„In einer halben Stunde wirst Du anders reden: da werden es hunderteinundfünfzig Mal sein.“
Man mußte dem Tyrannen gezwungenermaßen gehorchen. Ich erinnere mich noch an die bösen Blicke, die Varesi ihm auf dem Weg ins Foyer zuwarf; er hielt die Hand am Knauf seines Schwerts und schien zu überlegen, ob er Verdi ermorden sollte, so wie er später König Duncan ermorden würde. Doch letztlich gab auch er resigniert nach; und das hunderteinundfünfzigste Mal fand statt, während das ungeduldige Publikum im Parkett lärmte.
Und Ihr wißt, daß es eine Untertreibung wäre, wenn man sagen wollte, daß dieses Duett nur Enthusiasmus und Fanatismus erzeugt hat: es war etwas Unglaubliches, Neues, nie Dagewesenes. Überall, wo ich in Macbeth gesungen habe, und an allen Abenden der Stagione im Teatro della Pergola, mußte das Duett drei Mal, sogar vier Mal wiederholt werden: an einem Abend mußten wir es sogar fünf Mal wiederholen!
Ich werde nie vergessen, wie am Abend der Uraufführung vor der Nachtwandelszene, die eine der letzten Szenen der Oper ist, Verdi um mich herumschlich, unruhig, ohne etwas zu sagen: Man konnte deutlich erkennen, daß der Erfolg, der zu diesem Zeitpunkt bereits groß war, für ihn erst nach dieser Szene endgültig sein würde. Ich bekreuzigte mich (das ist eine Gewohnheit, die auch heute noch auf der Bühne vor schwierigen Momenten üblich ist) und trat auf. Die Zeitungen von damals werden Ihnen sagen, ob ich den dramatischen und musikalischen Gedanken des großen Verdi in der Nachtwandelszene richtig interpretiert habe. Ich weiß nur das: Nachdem sich der tosende Applaus gelegt hatte und ich ganz bewegt, zitternd und aufgelöst in die Garderobe zurückgegangen war, sah ich, wie die Tür aufgerissen wurde (ich war schon halb entkleidet) und Verdi eintrat; er fuchtelte mit den Händen und bewegte die Lippen, als ob er eine große Rede halten wollte, aber er brachte kein einziges Wort heraus. Ich lachte und weinte, und konnte ebenfalls nichts sagen: Aber als ich dem Maestro ins Gesicht schaute, bemerkte ich, daß auch er gerötete Augen hatte. Wir drückten einander fest die Hände, dann stürzte er wortlos hinaus. Diese bewegende Szene der Rührung entschädigte mich für die Anstrengung so vieler Monate fleißiger Arbeit und beständiger Ängste.
Die Premiere ist ein voller Erfolg. Verdi wird fünfundzwanzig Mal hervorgerufen und von einer begeisterten Menge in seine Unterkunft eskortiert. Muzio berichtet an die in Busseto gebliebene Familie Barezzi (nur Antonio Barezzi war zur Premiere angereist) von achtunddreißig Hervorrufen Verdis[334]. Er spricht von einer „Sensation“ und von „fanatischer“ Begeisterung des Publikums für diese „großartige und wunderbare“ Oper. Andere, wie zum Beispiel der Kritiker Abramo Basevi[335], schließen sich dieser Einschätzung nicht an: „Wohlwollende Aufnahme; jedoch mehr in Hinsicht auf den Komponisten als auf seine Musik, die nur zur Hälfte gefiel.“[336] Ein Besucher der Premiere läßt einen an die Florentiner Zeitung „Il Ricoglitore“ gerichteten giftigen Leserbrief los: „Die Oper Verdis, die gestern abend im [Teatro della] Pergola aufgeführt wurde, ist eine echte Schweinerei, machen Sie uns in Ihrem Artikel also nicht weis, daß es ein wahrer Triumph für den Maestro war, weil er 25 Mal hervorgerufen wurde. Die, die ihn hervorriefen, waren Anhänger, Personen, die dafür bezahlt wurden.“[337]
I
n den Jahren, die auf die Uraufführung des Macbeth folgen, hält sich Verdi immer auf dem laufenden darüber, was mit seiner Oper geschieht. Als er 1848 wegen La battaglia di Legnano mit seinem Librettisten Salvadore Cammarano in Kontakt steht, teilt er ihm auch zahlreiche Ratschläge zu einer Aufführung des Macbeth am Teatro San Carlo in Neapel mit, die er ihn bittet, an die Theaterdirektion weiterzuleiten.
Ich weiß, daß Ihr im Begriff seid, Macbet einzustudieren, und da das eine Oper ist, die mich mehr als die anderen interessiert, gestattet mir, daß ich Euch ein paar Worte darüber sage. Man hat der Tadolini die Partie der Lady Macbeth anvertraut, und ich bin überrascht, daß sie zugestimmt hat, diese Partie zu übernehmen. Ihr wißt, wie sehr ich die Tadolini schätze; sie selbst weiß das auch; aber im Interesse aller halte ich es für angebracht, Euch einige Überlegungen mitzuteilen.
Die Tadolini hat zu große Qualitäten für diese Partie! Ihr werdet das für absurd halten, aber das ist es nicht. Die Tadolini hat eine schöne, gute Erscheinung, und ich möchte die Lady Macbet häßlich und böse haben. Die Tadolini singt vollendet, und ich möchte, daß die Lady nicht singt. Die Tadolini hat eine klare, reine, kräftige Stimme, und ich möchte für die Lady eine rauhe, erstickte, hohle Stimme haben. Die Stimme der Tadolini hat etwas Engelhaftes, ich aber möchte, daß die Stimme der Lady etwas Teuflisches hat.
Unterbreitet diese Gedankengänge der Impresa, dem Maestro Mercadante, der diesen meinen Ideen mehr als jeder andere beipflichten wird, und der Tadolini selbst; dann macht, was Euch nach Eurem Verstand am besten erscheint.
Denkt daran, daß die Oper zwei Hauptnummern hat: das Duett zwischen der Lady und ihrem Mann und die Nachtwandelszene: Wenn diese Stücke nicht gelingen, ist die Oper dahin: und diese Stücke dürfen auf keinen Fall gesungen werden:
man muß sie mit einer recht hohlen
und verschleierten Stimme
darstellen und deklamieren: ohne das
kann es keine Wirkung geben.
Das Orchester mit Dämpfern.
Die Bühne äußerst dunkel. - Im dritten Akt muß man die Erscheinungen der Könige (ich habe das in London gesehen) hinter einem Ausschnitt im Bühnenbild machen, mit einem nicht zu dichten, aschenfarbigen Schleier davor. Die Könige sollen keine Puppen sein, sondern acht Männer von Fleisch und Blut: die Stelle, über die sie gehen müssen, soll wie ein kleiner Hügel sein, und man muß sie deutlich hinauf- und hinabsteigen sehen. Die Bühne muß vollkommen dunkel sein, besonders wenn der Kessel verschwindet, und hell nur dort, wo die Könige vorüberschreiten. Das Orchester unterhalb der Bühne muß (für das große Teatro San Carlo) verstärkt werden, achtet aber gut darauf, daß es da weder Trompeten noch Posaunen gibt. Der Klang muß wie aus der Ferne und gedämpft erscheinen, er muß daher aus Baßklarinetten, Fagotten, Kontrafagotten und sonst nichts bestehen.[338]
Letzterer Hinweis zeigt, wie sehr es Usus war, daß sich die Theater entgegen der von der Partitur vorgegebenen Instrumentierung gerne Eigenmächtigkeiten bei der Besetzung der Bühnenmusik herausnahmen.
Verdis Bemerkungen über die Tadolini sind selbstverständlich nicht wörtlich zu nehmen, schon gar nicht aus heutiger Sicht. Zum richtigen Verständnis dieser wohlbekannten Hinweise, die Interpretation der Rolle der Lady Macbeth durch die Sopranistin Eugenia Tadolini betreffend, sind zwei Hintergrundinformationen vonnöten.
Erstens: Der Kern von Verdis – oft mißbräuchlich zitiertem und absichtsvoll falsch verstandenem – Wunsch ist, daß zur Interpretation der Rolle der Lady weniger rein gesangliche, sondern vor allem musikdramatische Mittel notwendig sind. Eugenia Tadolini war eine gefeierte Donizetti-Spezialistin. Zwei Opern hat Donizetti eigens für sie komponiert: Linda di Chamounix (Wien 1842) und Maria di Rohan (Wien 1843). Sie sang die italienische Erstaufführung des Poliuto (Neapel 1848) und hatte Donizetti-Opern wie Don Pasquale, Maria Padilla, Lucrezia Borgia, Anna Bolena, L’elisir d’amore, Lucia di Lammermoor oder Il furioso all’isola di San Domingo – nach heutigen Kategorien also vorwiegend Koloraturpartien – im Repertoire. Verdi hegte, nicht zu Unrecht, die Befürchtung, daß die Tadolini die Lady mit dem Instrumentarium der Donizetti-Virtuosin gestalten und dadurch seinen Intentionen nicht entsprechen würde. Mit seiner Forderung verlangte er das Abrücken vom reinen Virtuositätsgesang und eine Annäherung an einen mehr naturalistischen, dramatischen Ausdrucksgesang, wobei „naturalistisch“ im Sinne der ausgehenden ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und nicht im Sinne von „realistisch“ oder „veristisch“ der ausgehenden zweiten Hälfte des 19. oder des beginnenden 20. Jahrhunderts zu verstehen ist.
Zweitens: Die Tadolini befand sich zu dieser Zeit in schlechter stimmlicher Verfassung und stand trotz ihres Alters von erst vierzig Jahren schon vor dem Ende ihrer Karriere. Donizetti befand zu ihrem damaligen Singen: „Sie hatte eine Stimme wie eine alte Zikade, machte Fehler, unterbrach sich und war schrecklich.“ Die Sängerin, die neben den erwähnten Donizetti-Rollen auch virtuose Bellini-Partien wie La sonnambula und I puritani sang, hatte ihre Stimme – wie viele ihrer zeitgenössischen Kolleginnen, die nur kurze Karrieren hatten – vor der Zeit durch Überforderung verschlissen.
Dies sind die Gründe, weshalb Verdi sie nicht in der Produktion haben wollte. Obwohl Verdis Ablehnung der Tadolini hinterbracht wurde, sang sie die Lady dennoch. In späterer Zeit benutzten für die Rolle ungeeignete oder ausgesungene Sängerinnen Verdis Forderung nach hohlem, rauhem Gesang als Rechtfertigung für ihre schlechten Leistungen.