Читать книгу Geschichten aus Friedstatt Band 3: Friedstatt muss leben! - Christian Voß - Страница 6

Papier kann töten

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Valakrien war ein Grenzgänger. Eine dicke Paste schützte seine empfindsame Haut vor dem Grauen des Morgen. Er war also an den Händen und im Gesicht vollständig mit billiger Theaterschminke eingekleistert, was sein, eh schon ungesunden Teint noch zusätzlich belastete. Er wirkte noch ungesünder als üblich. Wirre Lichter gaukelten durch den Halbtag wie Sinnestäuschungen, dieses diffuse Licht brannte in den Augen – sie wollten sich einfach nicht umgewöhnen. Dieser Umstand war mit ein Grund, warum sich der Vampir nur sehr ungern und selten, bei anbrechendem Tageslicht, durch das wirre Labyrinth der Gassen und Straßen von Friedstatt quälte. Menschen waren ein weiterer Grund. Köstlich und so verlockend. Er konnte ihren Puls hören und jeden Blutstoß unter der transparenten Haut mit bloßem Auge verfolgen. Die Verlockung seine Zähne, in ein zartes Handgelenk zu stoßen wurde mit jedem Atemzug größer. Eine Tortour, die kaum auszuhalten war.

Es war kalt geworden. Die Bäume schüttelten vielerorts ihr verdorrtes Kleid ab. Ihre Hinterlassenschaften bildeten bunte Mosaike in den kotverschmierten Rinnsteinen. Blatt für Blatt ein buntes verwirrendes Farbenspiel, das Valakrien faszinierte und ihm ein Lächeln ins bleiche Gesicht zauberte. Leugnete er seine Natur? Vielleicht – nein, ganz sicher.

Endlich war er an dem Haus des Sandzulieferers, Namens: "George Mondseele" angelangt. Eine Schar Schwarzgänse zog lauthals schnatternd über seinen Kopf hinweg. Ein Wunder, die Vögel kehrten zurück. Die Lieferungen waren schon seit Tagen ausgeblieben, sehr zum Leidwesen der hiesigen Vampirgemeinde. Dieser Boden war einzigartig in seiner Beschaffenheit. Er wies den richtigen Grad an Verseuchung auf. Die Dosis hielt Würmer und anderes schädliches Getier von den Särgen fern, eine Art Schutzmillieu, das jeder Vampir gerne in Anspruch nahm. Man argwöhnte das Mondseele bereits reich geworden war – nur allein durch den Abverkauf des Sandes, dessen Ursprung unbekannt blieb, was sicher im Sinne des Erfinders lag. Diesem heimlichen und verschwiegenen Mann auf die Schliche zu kommen war fehlgeschlagen. Alle Versuche scheiterten. Niemand vermochte es in seine Villa einzudringen, die magischen Siegel erwiesen sich als zu stark.

Der schwere Messing-Klopfer, in Form eines Wolfkopfes dröhnte. Ein, zweimal, – dieser dumpfe Ton hallte in der seelenvergessenen Gasse nach. Wo war dieser Kerl nur abgeblieben? Valakrien blickte lauernd nach oben. Aber kein befreiendes Quietschen von rostigen Fensterscharnieren, löste ihn aus seiner grüblerischen Anspannung. Die gelieferte Erde musste regelmäßig ausgetauscht werden, sie besaß eine Art: Halbwertszeit – danach ließ die Wirkung rapide nach, was besonders schlecht war für die Reisenden unter ihnen. Wenn sie einen neue Enklave oder gar Stadt fanden und dort anlandeten, war es ihre erste Pflicht die Erde umzupflügen, den Aushub zu beseitigen und mit der teuer erkauften, guten Muttererde aufzufüllen. Doch jetzt drohte das Aus für eine, jahrelang gepflegte Tradition. Wohlweislich, geradezu weitsichtig hatte man versucht hinter das Geheimnis von George Mondseele zu kommen – doch der zeigte sich als ein ausgekochter Hund – Hund? Wohl eher: "Ritralde". Valakrien vermutete schon seit langem, dass hinter dieser ach so harmlosen Fassade, ein Werwolf des Nordens steckte.

Ein weiteres und letztes Mal, fuhr der Türklopfer nieder. Nichts! Nur ein räudiger Köter kläffte rebellisch. Valakrie meinte auch das Kettenrasseln eines Spukie zu hören – Wesen aus Rauch die aus den Eingeweiden der Stadt empor dampften, irgendwo zwischen den schiefen und verwitterten Häuserschluchten des Händlerviertels. Sie ängstigten die Anwohner, mit ihrer bloßen Anwesenheit. Was war jetzt zu tun? Die unmissverständliche Vorgabe seines Meisters lautete: Finde den Kerl – und es ist mir egal wie! Selbst wenn du jeden Stein in dieser verpissten Stadt umdrehen musst! Und wage es nicht, mit schlechten Nachrichten zurückzukommen!

Valakrien hob wie zur Entschuldigung die Achseln. Er entschloss sich umzukehren. Das Licht nahm zu. Die Sonne stieg bedrohlich weit über die niedrigen Dächer der Nachbarschaft und verdrängte das schützende Zwielicht. Mit hängenden Armen und den Blick nach unten gerichtet schlenderte der Vampir zurück in Richtung Ordenshaus. Der Tiefpunkt seines bisherigen Lebens war erreicht. Diesen Vorfall empfand er als tiefe Schmach – eine Lösung musste notwendigerweise her.

Gerade, als er den Blick von der Straße abwenden wollte, nahm ein Stück Papier seine volle Aufmerksamkeit in Beschlag. Es handelte sich dabei nicht nur um ein schnödes Stück Papier, sondern ganz offensichtlich um einen Fetzen wertvolles Pergament. Seine Neugierde war geweckt. Valakrien erkannte die Struktur sofort. Mit dem routinierten Blick eines Schriftgelehrten analysierte er die Oberfläche. Es handelte sich ganz offensichtlich um ein Knäuel Geisterpergament, eine Rarität. Der Vampir sah sich hektisch um, als erwartete er einen Neider, der ihm das Papier noch in letzter Sekunde streitig machen wollte. Dieses Papier war äußerst selten und somit wertvoll. Die Magiergilde liebte solche Funde, besonders die Grünschnäbel ihrer Zunft, denn das hauchdünne Papier verstärkte auf wundersame Weise die Wirkung der aufgetragenen Runen. Valakrien nahm es mit einem hektischen Seitenblick auf und zog es vorsichtig in Form. Eine Rune prangte gut sichtbar auf dem Papier. "Enox", las er zu seiner Überraschung laut vor – Enox, elfisch für Zehn. Verdammt, eine Zahl ausgerechnet jetzt! Wie von einer unbekannten Macht wurde er getrieben den nächsten Schnipsel Papier aufzusuchen und aufzuheben. Sie lagen in nächster Nähe, wie zufällig verstreut, so dass er ohne größere Anstrengung den nächsten Brocken fand. Er schwitzte. Die Sonne stand bereits im Zenit. Die Theaterschminke verlief. Nur notdürftig reparierte er seinen Sonnenschutz, indem er die frei gewordenen Stellen an den Händen, Gesicht und Unterarmen, in einem schattigen Winkel, regelmäßig ausbesserte. Er war bei der Zahl eintausendfünfhundert angelangt. Es würde sicher noch die ganze Nacht dauern oder länger alle Teile des Puzzle aufzuklauben. Welcher Schelm hatte ihm diese Falle ausgelegt? Pardusa? Dieser Kerl tat alles um Valakrien zu kompromittieren. Das gefundene Papier stopfte er, mit mäßiger Sorgfalt, in die tiefen Taschen seines langen, schwarzen Mantel, der den Großteil seines Körpers vor der Sonne abschirmen sollte. Mit Erleichterung stellte Valakrien fest, dass Wolken aufgezogen waren. Die Lokalen, die ihn gewahr wurden, flohen bei seinem Anblick. Selbst die abgehärteten Straßenkinder, war er in dieser Maskerade nicht geheuer. Schreiend und mit schreckverzerrten Gesichtern flohen sie von ihren Opfern – mit Sack und Pack, ohne ihn weiter zu behelligen.

Endlich, die Papierspur endete. Er war bereits vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Valakrien spürte einen ungeheuren Blutdurst und bei näherer Prüfung, entdeckte er ein paar Verbrennungen auf seinem Handrücken. Elend sah er aus, als er endlich die Stadtvilla des Vampirordens betrat. Das Licht war gedämpft, schummrig. Die Schatten tanzten aufgeregt an der Holzvertäfelung des langen Flurs. Kerzen knisterten leise vor sich hin. Valakrien drückte die schwere Flügeltür ächzend ins Schloss. Ein fliehender Wind heulte kurz unter der Tür hindurch, als nähme er eine Chance wahr, dieser Gruft doch noch zu entfliehen. Was folgte war verhaltende, staubige Stille. Valakrien hängte seinen Mantel aus grober Wolle, der mit vollgestopften Taschen aussah wie ein Ballon, an einen der vielen Kleiderhaken und marschierte entschlossen in den benachbarten Versammlungsraum.

Der Hauptsaal war behaglich kühl. Kein Feuer brannte ihm Kamin, das Licht würde die Augen nur unnütz verwirren. Eiskerzen, standen ringsum und spendeten ein diffuses, blaues Licht. Trivasek stand vor der bläulich schimmernden Feuerstelle ohne Wärme und flüsterte heiser vor sich hin. Es klang nach einer Gebetsformel. Ein unterschwelliges Rumoren, das Wortfetzen aus der Tiefe seines Bauches hervordrückte, folgte.

"Sir, – Herr, ich bin zurück.", seine Worte tasteten sich in das Bewusstsein seines Großmeisters, der vertieft in seine Betrachtungen, ungerührt mit dem Rücken zu ihm stand und keine Anstalten machte, dem Neuankömmling seine Aufwartung zu machen.

"Es ist spät Vala – wo hast du so lange gesteckt?" Der Großmeister drehte sich um, "Bei den Göttern – wie siehst du aus!" fassungslos sah er den Schriftgelehrten an. Sein Verhalten war im allgemeinem seltsam, einem Vampir seines Standes ohnehin nicht angemessen – aber dieser Anblick war selbst für den krisengeschüttelten Vampirlord eindeutig zu viel.

"Hast du dich heimlich im Theater rumgedrückt? Etwa bei dieser Tarbanina?" schmunzelnd näherte er sich Valakrie. Mit seinem bleichen, mageren Zeigefinger strich er über Valakriens halb verkrustete Wange. Mit einem misstrauischen Blick, zerrieb er prüfend die Paste zwischen seinen Fingerspitzen.

"Ein kindischer Scherz – oder? Tatsächlich Theaterschminke?"

Valakrien senkte sein Haupt. Er wich dem fragenden Blick seines Meisters aus, solang es ging.

"Du warst schon immer seltsam – kein Vampir im klassischen sinne, eher ein schwacher Mensch. Wie kommst du nur auf so einen ausgemachten Unsinn?" Die graue Stirn des Meisters legte sich in falten. Diese Verwerfungen waren tief. Die Augen, nicht mehr als glimmende Rosinen. Sie glommen trübe, aus schachttiefen Augenhöhlen.

"Dein Vater war ein guter Freund, daher zögerte ich nicht mal eine Minute dich aufzunehmen. Zugegeben, du bist eine wahre Enttäuschung, aber in Gedenken an Freundschaft, habe ich dich gewähren lassen, dich aufgenommen und vor den anderen geschützt – wenn ich so nachdenke, habe ich dich eigentlich wie einen Sohn behandelt. Egal ob ich mir den Zorn der anderen zuzog."

Es raschelte geheimnisvoll im Flur. Trivasek horchte auf:, sein Gehör war ausgezeichnet, wenn er sich konzentrierte konnte er sogar die Maus im Nebenraum, die über den staubigen Boden tippelte hören, aber er tat dieses beiläufige Geräusch als eine Laune des Windes ab und konzentrierte sich darauf, seinem Gegenüber ins Gewissen zu reden – so sinnlos seine Bemühungen auch sein mochten.

"Was ist nun mit unserem Zulieferer, der sich so rar macht?"

Valakrien schämte sich sichtlich. Nur sehr zögerlich gab er Antwort: "Nun, ich hab ihn nicht angetroffen – ich weiß, wir sollen ihn nur bei Nacht aufsuchen, um kein Aufsehen zu erregen – aber das hab ich schon mehrfach versucht, niemand macht die Tür auf. Er scheint vom Erdboden verschluckt!"

"Ach was – also hast du eigenmächtig entschlossen, einfach mal bei Tage durch die Stadt zu marschieren?"

Valakrie nickte eifrig. Er hielt es wirklich für eine gute Idee, besonders das mit der Theaterschminke. Trivasek grunzte verstimmt und griff nach den Händen seines Günstlings. Er musterte sie ganz genau.

"Und wie ich unschwer erkennen kann war deine Schnapsidee nicht sehr erfolgreich – oder? Deine Handrücken sind verbrannt.", stellte er tonlos fest. Der Meister hielt ihm seine eigenen Hände, mit vorwurfsvollen Blick vor die Nase.

"Versteh endlich – wir haben ein Abkommen mit den Menschen. Es ist alt, aber nicht vergessen. Wir zeigen uns nicht am Tage und dafür lässt uns die Stadtwache in der Nacht in Ruhe walten – alles im Rahmen, nicht übertreiben, dazu sind wir angehalten. Du kannst von Glück reden, dass du nicht gleich festgenommen wurdest. Wir sind eine geheime Gesellschaft, wirken im Dunkel der Nacht, leben abseits, abgeschieden – doch so mögen wir es, niemand pfuscht uns in unsere natürliche Lebensweise. Die Jagdgründe sind zugeteilt. Es gibt unsichtbare Linien, die die Stadtteile fein säuberlich trennen, in unsere Gebiete und Stadtteile die für unsereins Tabu sind. Ein fragiles Gleichgewicht, abgesegnet durch den Truchsess höchstselbst."

Valakrien sah sein Gegenüber verwundert an – von einem Abkommen hatte er noch nie etwas gehört. Es raschelte wieder. Valakrien meinte eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrzunehmen.

"Es ist immer schon so gewesen und du rüttelst leichtfertig an den Fundamenten der Jahrhunderte." Trivasek schüttelte den Kopf verschränkte nachdenklich die Arme hinter dem Rücken und wendete sich wieder dem Kamin zu.

"Er ist also nicht Zuhause – verdammt! Wir brauchen seine Lieferungen. Wo zum Teufel steckt dieser Mondseele?"

"Er ist ein Ritralde – richtig?" Valakrie bedauerte schon gefragt zu haben.

Der Ordensmeister schnaubte verächtlich: "Woher weißt du das schon wieder?"

"So eine Ahnung – der Geruch – ich hab Speichel entdeckt, bereits eingetrocknet, aber meinem Blick ist dieses Detail nicht entgangen."

Trivasek hatte sich umgedreht seine Glutaugen brannten jetzt lichterloh. Seine Reaktion war ungewohnt heftig.

"Ich vergaß – du kommst aus dem Norden – vielleicht hattest du schon Kontakt mit seiner Art? Sag es niemanden, hörst du? Nicht einer Sterbensseele. Es wäre nicht auszumalen was dann geschieht! Seine Rache fürchterlich. Er hilft uns und dafür hüten wir sein Geheimnis. Eine Klaue wäscht die Andere – aber im Grunde ist dieser Kerl unberechenbar." Trivaseks Stimme klang ungewohnt besorgt, geradezu panisch für einen Vampirlord seines Kalibers.

"Ich beschwöre dich – lass ihm sein Geheimnis." Trivaseks Stimme war bedrohlich angeschwollen.

Es musste sich um einen nicht zu unterschätzenden Gegner handeln. Ein Stöhnen drang aus dem Flur, begleitet von einem Rascheln. Dieser Klang erinnerte an verdorrtes Herbstlaub, welches wirbelnd über das Kopfsteinpflaster einer leeren Gasse tanzte. Die Kerzenflammen beugten sich für einen Moment, dann erloschen sie ganz. Ein metallisches Dröhnen erklang – es passte so gar nicht in diesen Raum. Licht drang schräg durch die Ritzen der Vorhänge. Staub wurde aufgewirbelt. Valakrien beobachtete wie sein Meister sich verwandelte. Ledrige Flügel spannten sich knirschend. Sein Gesicht, befand sich im Fluss der Verwandlung. Trivasek stieß sich mit seinen gewachsenen, langen Tatzen vom Boden ab. Gerade, als er in den Saalhimmel strebte, platzte ein außergewöhnliches Geschöpf in den Versammlungsraum. Dieses Wesen knirschte und raschelte wild. Auf den ersten Blick, sah es aus wie ein Berg aus Papierfetzen. Wirr, irgendwie zusammenhanglos – durch einen Zufall zusammengewürfelt. Ein Arm streckte sich empor und ergriff das Bein des entfliehenden Ordensführer. Der kräftige Papierarm zog mit aller Kraft. Trivasek schlug heftiger mit seinen gewaltigen Flügeln, für einen bangen Moment schwebte er reglos in luftiger Höhe. Valakrien duckte sich hinter einen umgestürzten Tisch. Das sonderbare Wesen schien ihn erst einmal gar nicht zu beachten. Valakrien beobachtete über den Rand des Tisches, wie das Monstrum den Meister hinab zog und ihn wie ein Spielzeug hinwegschleuderte. Mit einem kläglichen Ächzen traf er an der gegenüberliegenden Wand auf. Seine Körperumrisse zeichnete sich, gut sichtbar in der Wandvertäfelung ab. Bewusstlos rutschte Trivasek zu Boden. Das Wesen stampfte träge heran. Die Kreatur schien noch nicht befriedigt, vielmehr drosch sie von oben, mit gewaltigen Fausthieben, auf den reglosen Körper, zu seinen Füßen, ein. Stumm ließ der Meister die Tortour über sich ergehen. Valakrien zitterte am ganzen Körper. Er kauerte sich hinter dem Tisch zusammen. Noch nie hatte er so etwas empfunden – wie nannten Menschen diesen verwirrenden Gemütszustand? Ein Haufen Papier löste sich von dem tobenden Ding und glitt direkt vor die Füße des schlotternden Valakrien. Es war zerknickt, doch die Zahl konnte er lesen: "Fio" – übersetzt: eintausend in der Sprache der Elfen. Seine Anspannung verging. Beherzt huschte er von Tisch zu Tisch, nutzte sie als Deckung und strebte Richtung Flur. Es war heller Tag, mit Hilfe war nicht zu rechnen. Die Gemeinde schlief tief unter seinen Füßen, in der angestammten Krypta des Ordenshauses. Valakrien riskierte einen kurzen Blick: sein Mantel war zu Boden gefallen, dass Tascheninnere nach außen gekehrt. Eine Spur Papierschnipsel endete direkt vor seinen Füßen. Valakrien bückte sich und sammelte die restlichen Schnipsel, deren er in der Eile habhaft werden konnte, auf. Öffnete die Tür und beugte sich vorsichtig, tastend hinaus. Er warf das Papier von sich. Für den Augenblick befriedigt, schlüpfte er wieder hinein und verschloss die Tür sorgsam hinter sich.

Ein Poltern dröhnte durch den Flur. Der Boden zitterte. Ein kurzer Blick um die Ecke verriet ihm was geschah, der Papiergolem hatte den Meister an den Beinen gepackt und schlug ihn, wie ein eben gefangenen Barsch, mit dem Kopf voran, gegen die Kante eines umgefallenen Tisches. Ein hohles Knirschen erklang. Der Schädel war soeben geborsten. Ein letztes Zittern fuhr durch den enthaupteten Körper. Ein Schwall Blut flutete über den frisch gebohnerten Holzboden. Trivasek musste sich gerade genährt haben. Valakrien keuchte. Vor Anspannung hatte er ganz vergessen zu atmen. Es knisterte, ein blaues Blitzgewitter zwischen den Papierschichten funkte empor, es roch staubig und irgendwie elektrisch. Der Golem beugte sich bedächtig nach vorn, als wollte er sich vergewissern, dass sein Opfer tatsächlich tot war.

Nach oben, nach oben! hämmerte es schmerzhaft in Valakriens Kopf. Ohne weiter nachzudenken trat er die Flucht nach vorn an. Er stürzte atemlos die hölzerne Treppe hinauf. Schon als er die obere Schwelle erreichte, bedauerte er seine Entscheidung. Der Boden zitterte. Valakrien spürte jeden Schritt des Monsters unter seinen Fußsohlen. Furchtsam sah er nach unten. Da stand dieses Ding, gefaltet aus Papierfetzen, im Zwielicht, welches es selbst geschaffen hatte. Ein klobiges Unding geboren aus einem Alptraum. Die Kreatur brummte hohl und machte sich daran die Treppe hinaufzusteigen – ganz langsam, als hätte es alle Zeit der Welt.

Feuer – ja, Feuer. Hier gab es weit und breit kein Feuer. Eine Vorsichtsmaßnahme, Vampire spürten im allgemeinen keine Temperaturunterschiede. Eine Ausnahme bildete die Sonne – Feuer war ihr erklärter Feind. Gegen diese Naturgewalt, waren selbst die so genannten Unsterblichen machtlos. Ein schlangenhaftes Zischeln zerriss die Luft. Das Wesen ließ seine Arme nach vorn schnellen, dabei lösten sich etliche Papierschnipsel, die wie Sperrspitzen auf ihn zurasten. Gerade noch konnte er sich unter dem tödlichen Papierregen wegducken. Der Golem knisterte frustriert, dabei funkelte er wieder blau aus unzähligen Ritzen und Öffnungen, die zwischen dem Papier lagen. Eine stumpfsinnige Monotonie trieb ihn an. Der Zahlencode war sein Herz, welches ununterbrochen nach Mord schrie.

Valakrien hetzte über die Galerie. Eine Vielzahl von Arbeitsräumen zweigten hier ab. Momentan konnte er sich nicht entscheiden wohin. Die Räume waren ausgesprochen klein, nicht mehr als fensterlose Zellen. Der Boden zitterte die Bohlen knirschten unwillig dazu. Der Golem hatte gut spürbar die obere Etage erreicht. Blaues Licht huschte gespenstisch über die fein verputzten Wände. Valakrie war bewusst, eine weitere Etage würde folgen, danach gab es kein Entrinnen mehr. Der Dachboden war zwar ausgebaut, aber es gab keine Fluchtmöglichkeit – kein Entkommen. Nur Erker und ein Turmfenster. Turmfenster! Beherzt lief Valakrien die enge Treppe hinauf. Der Golem streifte seine anfängliche Trägheit ab und nahm die Fährte auf. Mit polternden Schritten eilte er durch die Galerie. Ein enttäuschtes Brummen dröhnte von Unten herauf. Das Monster, auf der Suche nach Leben, besah sich alle Räume ganz genau. Oben angelangt betrat Valakrien nur sehr zögerlich den Dachboden. Licht fiel schräg hinein. Die Sonne erreichte beinahe ihren Zenit und unterteilte den Raum in begehbar und nicht begehbar. Der Vampir überprüfte noch einmal seine Schutzhülle in Form von billiger Theaterschminke. Stellenweise war sie eingetrocknet und regnete in feinen Splittern ab. Er sah zurück. Der Papierriese wankte die Treppe hinauf. Er hatte sichtbar Schwierigkeiten vorwärts zu kommen. Der Treppenaufgang war eng. Die Papierspitzen, mit denen er übersät war knickten ein und so zog er sich, bei seinem überhasteten Vormarsch, hunderte von Eselsohren zu.

Valakrie hatte eine Entscheidung zu treffen. Hier oben gab es nichts womit er sich ernsthaft zur Wehr setzen konnte. Es ging um sein nacktes Überleben. Der Vampir trat mutig ins Licht. Seine Augen brannten. Das Bild, welches sich vor seinem Auge abzeichnete, verschwamm augenblicklich. Er drohte jeden Moment ohnmächtig zu werden. Geblendet griff Valakrien eilig nach einem der Laken, mit denen einige Möbel hier oben abgedeckt waren und wickelte es sich sorgsam um den Kopf. Nur einen Sehschlitz ließ er offen – dann betrat er die Schwelle vor dem mannshohen Fenster. Die Tür brach ächzend aus den Angeln. Sie flog schwerelos davon und krachte geradewegs in das gegenüberliegende Fenster. Das Sonnenlicht brandete entfesselt herein. Ein feuriger Schmerz pulsierte durch Valakriens Hand – genau dort wo Trivaseks prüfende Finger seine Spuren hinterlassen hatten. Entschlossen trat Valakrie auf das Fenster zu, noch ehe er sich zum Sprung entschließen konnte, bekam er einen kräftigen Schlag verpasst, der ihn wie ein Geschoss auf die gegenüberliegenden Dächer zurasen ließ. Steil ging es bergab. Mit wenig Mühe und ungeahnter Kraft, aus einem entfesselten Lebenswillen heraus, entfaltete er seine Flügel. Sofort bekam er Rückmeldung in Form von Schmerz. Die Sonne traf ihn unbarmherzig in die Flanke. Die Strahlenbündel fraßen sich gnadenlos in seine lederne Haut. Gerade noch konnte er sich, mit ein paar kläglichen Flügelschlägen, vor dem Absturz retten. Valakrien gewann an Höhe. Er segelte empor, während er angespannt zurück blickte. Der Golem hob drohend seine Papierarme und brüllte dabei frustriert. Blaue Funken knisterten aus seinem Körper hervor, ähnliches hatte er schon einmal bei den Zwergen-Technikern beobachtet, die mit alchemistischen Formeln Batterien zum Leben erweckten und aus ihnen endlos Energie gewannen.

Valakrien drohte eine Ohnmacht. Ohne weiteres Zögern entschloss er sich, auf das Haus von George Mondseele zuzuhalten. Es lag nur zwei Blöcke weit entfernt. Mit rasender Geschwindigkeit hielt er auf das große Hauptfenster der oberen Etage zu. Flatternd löste sich das Laken. Gerade noch im richtigen Moment, zog er seine Flügel ein und rollte sie um seinen Körper. So zusammengeschnürt, bildeten sie einen schützenden, ledrigen Kokon, der den kommenden Aufschlag abmildern sollte. Drehend wie eine Furie im Wind, brach er krachend durch die Scheibe und schlug hart auf dem kostbaren Parkett auf. Ächzend und aus unzähligen Brandwunden, die ihm die Sonne beigebracht hatte, dampfend – stand er auf und torkelte auf zittrigen Beinen durch die gut bürgerliche Stube. Hier war es kühl und angenehm schattig. Schreie drangen von unten herauf. Neugierige Passanten riefen aufgebracht nach der Stadtwache. Valakrien eilte hinaus auf den Flur. Es blieb wohltuend kühl. Entzückt nahm er wahr, das das Tageslicht nur sehr sparsam, durch kleine rechteckige Fenster direkt unter dem Dach, herein träufelte.

"Herr Mondseele?" Zögernd trat er an das gusseiserne Geländer der Galerie und sah nach unten in die geräumige Vorhalle. Sein erstarrter Blick nahm flackernde Schatten war. Einige Passanten waren von außen an die Tür geeilt und schlugen wild auf die Eingangstür ein. Valakrien entschloss sich die Leute vorerst zu ignorieren. In diesen verzwickten Tagen würde es Stunden dauern bis endlich die Stadtwache auftauchen würde – wenn überhaupt. Unten angelangt beobachtete er das Spiel magischer Siegel, die mit jedem Schlag gegen die Haustür, schwach aufglommen. Magisch versiegelt. George schien auf Sicherheit bedacht und scheute keine Kosten. Valakrien blieb einen Moment im Empfangsraum stehen und horchte. Die Leute draußen ließen von der Tür ab. Nichts – Stille, Mondseele war nicht zu haus, dass war schon mal sicher. Ohne weiteres Zögern, ging er den langen Flur entlang. Hier, im Untergeschoss, musste es eine Tür geben. Eine Tür die hoffentlich in den Keller führte. Wo sonst sollte er den wertvollen Sand aufbewahren? Valakrien taxierte seine Umgebung ganz genau, da – auf dem Boden. Ganz eindeutig – Sandkörner, in dem sonst so penibel gereinigten Flur.

Die Scharniere der Tür kreischten. Licht war vollkommen unnötig, seine Augen durchdrangen das aufdringliche Dunkel mühelos. Die Welt um ihn, färbte sich grau. Leben zeichnete sich ab. Rot pulsierend im Takt des Herzschlags. Einige Ratten huschten ertappt, unter aufgeschichtete Vorratsfässer. Unten angelangt sah er zu seiner Verblüffung, ganz in der Nähe einen Durchbruch im Mauerwerk. Hier lag noch mehr Sand. Er war sorgsam angehäuft, bereit in Säcke gefüllt zu werden. Gut ein Dutzend der Jutesäcke standen hier bereit, fertig zur Auslieferung. Als Valakrien neugierig den Durchbruch betrat, flammten ganz plötzlich Fackeln auf, die in immer gleichen Abständen, einen langen Stollen ausleuchteten.

"Fleißig, fleißig!" Valakrien war so erstaunt, das er für den Moment vergaß, dass er mit sich allein war. Der Mann war kein Werwolf sondern ein Maulwurf. Der Gang maß knapp zwei Meter in der Höhe und schätzungsweise einen in der Breite. Er war schmal, aber sorgsam mit Balken ausgekleidet. Jedes Mal, wenn er eine Fackel passieren wollte, musste er sich ducken. Von hier stammte also sein unendlich scheinender Vorrat an Erde. Neugierig betrat Valakrien den Gang. Sein Ende war von hier aus nicht auszumachen. Er schien sogar, in einiger Entfernung, abzufallen. Nach gefühlten Stunden erreichte er, ganz unvermutet, einen weiteren Durchstich. George Mondseele schien auf eine weitere Wand gestoßen zu sein. Dahinter lag eine Art Halle. Eine natürlich gewachsene Ausbuchtung. Man konnte ohne weiteres ihn dieser geräumigen Höhle stehen. Vor ihm erstreckte sich eine weiße, spiegelglatte Wand, die sich meterweit über ihm erhob. Licht drang von oben herab. In luftiger Höhe gab es Öffnungen. Wasser rann in dünnen Rinnsalen hinab und färbten die weiße, alabasterne Oberfläche dort ein, wo sich das Wasser dahin plätschernd einen Weg bahnte. Ein grüner, teils bläulicher Edelrostschleier hatte sich über die Jahrhunderte gebildet. Valakrien sah erstaunt nach oben. So etwas hatte er hier unten nicht vermutet. Direkt vor ihm konnte er Arbeitsspuren erkennen. Jemand hatte versucht dort durchzubrechen. Eine Hacke, die ganz in der Nähe lag, bestätigte seine Theorie. Sie war stark abgenutzt, die Spitze beinahe plan geschlagen – anscheinend war es George gelungen die Oberfläche des Bauwerkes, leicht anzukratzen, aber mehr auch nicht.

Valakrien dämmerte es – das was er hier vor sich sah und bestaunte, war die Außenwand des verbotenen Turmes, dem Wahrzeichen von Friedstatt. Seine Hand glitt ehrfürchtig über die glatte, kühle Oberfläche. Ganz gewiss, er berührte gerade einen Teil des Fundaments des sagenumwobenen Turms. Valakrien nahm einen der Kieselstein großen Brocken auf und steckte ihn ein. Er würde abwarten müssen, gegen den Golem hatte er nicht den Hauch einer Chance. Er beschloss sich hier unten einzurichten, bis die Nacht anbrach, um eine günstige Gelegenheit abzuwarten sich lautlos davonzuschleichen.

Der Golem war außer sich. Wütend traktierte er die Wände, mit mächtigen Faustschlägen, dass der Putz nur so spritzte. Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, wendete er sich nach unten. Sein Auftrag war noch nicht erfüllt. Die Siegel enthielten einen Plan, eine Anweisung, die er mit stoischer Ruhe wieder aufnahm und verfolgte.

Unter dem Haus lag eine uralte Krypta, ein Gewölbe in dem die Vampire alltäglich nächtigten. Dort angelangt griff er grob nach den steinernen Sarkophagdeckeln und wirbelte sie mit Leichtigkeit fort. Die zahllosen Vampire, kreischten und machten Anstalten aufzustehen, doch der Golem hämmerte sie gleichmütig, mit seiner breiten Faust, direkt in den Sarg zurück. Erstickte Schreie hallten durch die Hallen. Knochen brachen harsch und zermalmtes Gedärm spritzte empor. Seine massiven Beine saugten sich ganz allmählich voller Blut. Die Gemeinde war gut genährt, die vergangene Nacht einträchtig und so watete das Wesen, sprichwörtlich durch einen Ozean aus rotem Lebenssaft, der sich zu seinen Füßen ergoss. Von alledem ahnte Valakrien nichts. Seine hehre Gemeinschaft fand den Tod, unter den erbarmungslosen Hieben des Eindringlings, den er selbst zur Tür hereingelassen hatte.

Valakrien war zu später Stunde dem Haus entschlüpft. Er stand fassungslos vor dem Gebäude, das noch vor Stunden die Zentrale der Vampire in Friedstatt darstellte. Die Szenerie, die sich ihm Bot, war erschütternd. Das Gebäude brannte lichterloh. Die Flammen züngelten knisternd empor. Schaulustige klatschten Beifall. Es war kein Durchkommen. Neugierige standen, dicht gedrängt in der Gasse und machten es der Frühschicht der Feuerwache unnötig schwer. Schindeln taumelten glühend herab. Ein gewaltiger Funkenregen, kündigte den Einbruch des Dachstuhls an. Valakrien war leichenblass – blasser als gewöhnlich. Er hielt sich im Hintergrund ganz still, obwohl er innerlich raste und gerne den einen oder anderen pöbelnden Schaulustigen gebissen hätte. Er zitterte am ganzen Leib: War er für das Ableben seiner Gemeinschaft verantwortlich? Insgeheim bettete er , dass niemand dem Inferno entkommen war, denn der Rache seiner Artgenossen wollte sich niemand aussetzen – nicht einmal ein geborener Vampir. Lautlos schlich er davon, ohne sich ein weiteres Mal umzusehen. Ab jetzt war er heimatlos eine Waise, inmitten dieses Molochs, das sich – irrtümlicherweise, Stadt schimpfte.

Geschichten aus Friedstatt Band 3: Friedstatt muss leben!

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