Читать книгу Tina Modotti - Christiane Barckhausen - Страница 11
ОглавлениеDaheim in Udine war Tina seit ihrem zwölften Lebensjahr die einzige, die durch ihre Arbeit in einer Textilfabrik den Lebensunterhalt für Mutter und Geschwister verdiente. Sie hatte – nach eigenen Angaben – zum Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme vier Klassen der Grundschule absolviert. Einige US-amerikanische Modotti-Forscher/Innen bezweifeln allerdings, dass die in Udine zurückgebliebenen Mitglieder der Familie in Armut gelebt haben und halten dies für ein Element der »Legendenbildung«. Eine Gruppe von Forscherinnen aus Udine hat jedoch in den Archiven der Stadt Belege dafür gefunden, dass sowohl Tina als auch ihre Geschwister Valentina, Yolanda und Benvenuto auf Grund der Armut, die im Elternhaus herrschte, einen städtischen Zuschuss für Lehrmittel bekamen. Außerdem kamen sie in den Genuss der kostenlosen Schulspeisung, die damals pro Kind aus 100 Gramm Weißbrot, 25 Gramm Emmenthaler Käse und 15 Gramm rohem Schinken bestand. Belegt ist auch, dass Tina am 31. März 1909 gezwungen war, die Schule zu verlassen. Während ihrer vier Schuljahre hatte sie in allen Fächern gute Noten aufweisen können – mit Ausnahme der sogenannten »frauentypischen Verrichtungen«. Auch in der italienischen Sprache waren ihre Leistungen anfangs noch mangelhaft, was darauf hinweist, dass in der Familie hauptsächlich oder ausschließlich das »Friulano« gesprochen wurde.
Tina war ihr Leben lang neugierig und wissensdurstig, und sicher hat sie den Schulbesuch nur ungern abgebrochen, um in die Fabrik zu gehen. Aber dieser Verzicht auf eigene Interessen zugunsten anderer Menschen, für die sie sich verantwortlich fühlte, sollte mit den Jahren zu einer Konstante in ihrem Leben werden. Alle, die sie kannten, sprechen von einer aufopferungsvollen Hilfsbereitschaft als einem ihrer wichtigsten Charakterzüge.
Als Tina Modotti am 24. Juni 1913 von Genua aus auf der »Moltke« die Reise zum Vater in San Francisco antrat, hoffte sie wohl, die Mutter und die jüngeren Geschwister würden ihr sehr bald folgen. Sie konnte nicht ahnen, dass genau zwei Jahre später der Eintritt Italiens in den Weltkrieg ihre Hoffnungen für lange Zeit zunichte machen und auch die regelmäßigen Kontakte zur Familie erschweren würde.
Sie konnte auch nicht wissen, dass sie ihre Schwester Valentina, die sie als Vierzehnjährige zurückließ, nie mehr wiedersehen würde. Valentina brachte im Januar 1918 einen unehelichen Sohn zur Welt. Diese Tatsache war wohl ausschlaggebend dafür, dass Jahre später der Präfekt von Udine über die von der Mussolini-Polizei gesuchte Tina Modotti angab, diese sei als junges Mädchen in Udine aufgefallen, weil sie »Prostitution« betrieben habe – so dachte man zu jener Zeit von Frauen, die das »Unglück« hatten, unverheiratet Mutter zu werden. Offensichtlich hatte der Präfekt Assunta, genannt Tina, mit Valentina verwechselt.
Bei der Befragung durch die Einwanderungsbehörden in New York gab Tina an, zu Vater und Schwester, wohnhaft in der Taylor Street 1954 in San Francisco, zu reisen. Sie war im Besitz eines vom Vater bezahlten Tickets für die Weiterreise und hatte zusätzlich noch 100 Dollar bei sich. Auf die Frage nach ihrem Beruf gab die Sechzehnjährige an, sie sei »Schülerin«. Da der Einwanderungsbeamte in der Liste vermerken konnte, »Saltarini Modotti, Tina« sei bei guter Gesundheit und sie sei keine Anarchistin, stand ihrer Einreise in die USA nichts mehr im Wege.