Читать книгу Tina Modotti - Christiane Barckhausen - Страница 17
ОглавлениеAber gerade jetzt, da es eine greifbar nahe Perspektive für die Realisierung aller Träume gab, war Tina mit anderen Dingen beschäftigt. Anfang 1921 hatte sich dem Freundeskreis ein Mann angeschlossen, den sie von der ersten Begegnung an bewunderte und für den sie bald eine ganz anders geartete Liebe empfand als die, die sie für Robo verspürte.
Der Fotograf Edward Weston war zehn Jahre älter als Tina und beeindruckte sie durch seine Entschlossenheit, zugunsten künstlerischer Experimente auf die sichere Einnahmequelle der Porträtfotografie zu verzichten. Anders als Robo, der Träumer, war Weston ein Mann voller Energie und Lebensfreude, und zu einem erfüllten Leben zählte für ihn auch die ausgelebte, ungefesselte Sexualität als Quelle und Spenderin von Kreativität.
Die Liebe zu Weston stürzte über Tina herein wie eine Naturgewalt, der sie sich nicht entziehen konnte und wollte. Die freie Liebe und ein Geschlechterverhältnis ohne Besitzanspruch waren auch von der russischen Revolutionären Alexandra Kollontai bei einer Vortragsreise durch die USA propagiert worden. Sie gehörten zu den Maximen, nach denen Robo, Tina und die Freunde lebten. Die Liebe zu Weston hatte nichts zu tun mit der Liebe zu Robo und konnte sie auch nicht verdrängen. Wenn Tina diese neue Liebe auslebte und sich ihr stellte, dann akzeptierte sie einfach eine andere, bisher noch nicht entdeckte Seite ihrer Persönlichkeit. Es scheint sicher, dass das Verhältnis zwischen Tina und Weston Robo nicht verborgen blieb, dass er es akzeptierte und dass nicht einmal seine Freundschaft zu dem Fotografen darunter litt. Und da Weston verheiratet war und vier Söhne hatte, stand eine feste Bindung an Tina auch niemals auf der Tagesordnung.
Als Robo im Dezember 1921 den Zug nach Mexiko nahm, um herauszufinden, ob der Plan einer definitiven Übersiedlung tatsächlich realisiert werden konnte, blieb Tina in Kalifornien und entschloss sich erst Anfang Februar 1922, ihrem Mann nach Mexiko zu folgen, aber im Augenblick der Abreise erhielt sie die telegrafische Nachricht, dass Robo am 9. Februar an Pocken gestorben sei. Sie reiste dennoch zusammen mit ihrer Schwiegermutter Rose Richey nach Mexiko, um Robo in dem Land zu beerdigen, in dem er sich der Verwirklichung seiner Träume nahe gefühlt hatte.
Der kurze Aufenthalt in Mexiko und die Begegnung mit Künstlern wie Diego Riviera, Xavier Guerrero und Clemente Orozco überzeugten Tina davon, dass sie in diesem Land ihre Kreativität freisetzen und einen Weg finden konnte, der ihrer Veranlagung und ihren Ideen entsprach. Die Tatsache, dass einen Monat nach dem Tode Robos auch ihr Vater starb, muss ihren Entschluss noch gefestigt haben. Im Sommer 1923 gelang es ihr, Edward Weston zur Abreise zu bewegen. Um sich vor seiner Frau zu rechtfertigten erklärte der Fotograf, Tina würde in Mexiko sein Studio betreuen und ihm den Haushalt führen. Als »Gegenleistung« würde er sie im Fotografieren unterrichten.
Die Zeit, die Tina Modotti und Edward Weston gemeinsam in Mexiko verbrachten, ist in Westons Tagebüchern ausführlich dokumentiert. Gemeinsame Erkundungen von Land und Leuten, Begegnungen mit mexikanischen Künstlern, Intellektuellen und Politikern, die Anerkennung, die ihre fotografischen Arbeiten in der Öffentlichkeit fanden, ihre unterschiedlichen Haltungen gegenüber den politischen Ereignissen im Lande, das ständige Auf und Ab ihrer Beziehung – all dies könnte ein ganzes Buch füllen.
Besonders auffällig ist die Tatsache, dass Tinas Entwicklung sich in dieser Zeit nicht nur unter dem Einfluss, sondern auch in der Auseinandersetzung mit dem Lehrer und Geliebten vollzog. Ihre ersten Fotografien zeigen, dass sie seine Erfahrung und sein Können als Fotograf schätzte und ihn als unbestrittenen Lehrmeister betrachtete. Aber es dauerte nicht lange, bis sie eine eigene Haltung zum fotografischen Sujet entwickelte und – im Gegensatz zu ihrem Lehrer – Menschen als wichtiges Element ihrer Bilder betrachtete. Dank ihrer Aufgeschlossenheit und dank der Tatsache, das sie leicht Zugang zu den Menschen auf der Straße fand, gelang ihr eine stärkere und dauerhaftere Identifikation mit Mexiko und den Mexikanern, die für Weston stets unergründlich und irritierend blieben.