Читать книгу Tod am Arkonaplatz - Christiane Baumann - Страница 3

Kapitel 1

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„Wo ist Friedrich?“, fragte Kriminalhauptkommissar Edgar Kunze Kollegen der Spurensicherung, als er das Haus Nr. 11 in der Swinemünder Straße am Arkonaplatz betrat.

„Am Tatort. Erste Etage links, vor dem Klo“, erhielt er zur Antwort. Ein Kollege reichte ihm einen Schutzanzug, Handschuhe und Mundschutz. Edgar streifte lediglich die Handschuhe über. Er lief die Treppe hoch und las auf dem Namensschild der betreffenden Wohnung: ‚Jonathan Somura’. Auch das noch, ein Ausländer, dachte er spontan.

Sein älterer Kollege und Chef Friedrich Schult winkte Edgar zu sich. „Was für eine Scheiße, Edgar! Es ist zum Kotzen! Diese verdammten...“, er stutzte, „...Vollidioten“, vollendete er seinen Satz.

„Mach keine Mördergrube aus deinem Herzen, Friedrich. Hatte wieder ein Ossi Probleme mit der Völkerverständigung?“

Edgar sah von der Eingangstür aus das Opfer: einen nicht sehr großen, aber kräftig gebauten halbnackten Schwarzen, rücklings auf dem Fußboden, als wäre er aus dem Toilettenraum hinausgefallen: die Beine lagen noch im Bad, der Oberkörper im Flur. Unter dem Körper eine Unmenge Blut.

Friedrich klopfte Edgar auf den rechten Oberarm. „Du bist spät dran, wir sind fast fertig. Komm mit!“ Er zog ihn ein paar Schritte weiter in die Ein-Zimmer-Wohnung hinein.

Edgar schaute über die Leiche hinweg in das winzige Bad, rechts die Toilettenschüssel, geradezu ein kleines Waschbecken wie in einer Gästetoilette.

„Jonathan Somura“, sagte Friedrich, als stellte er Edgar einen guten Bekannten vor.„Gut beieinander, der Mann.“

„Vor allem und hauptsächlich ist er schwarz, Edgar. Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir!“, stöhnte Friedrich.

„Denkst du an Glatzköpfe?“

„In Ostberlin? Nie im Leben“, antwortete Friedrich sarkastisch.

Edgar fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und strich sich lange Strähnen aus dem Gesicht. Es war nach Mitternacht, und er war müde. Beinahe überhörte er die nächste Bemerkung seines Kollegen: „Da kann man neidisch werden, was?“

Offensichtlich spielte sein Chef auf den beachtlichen Penis des Opfers an. Jeans und Unterhose des Toten waren bis zu den Kniekehlen heruntergelassen. „Wie ist es passiert?“, wollte Edgar wissen.

„Er hat eine Wunde am Hals, sie ist merkwürdig aufgerissen. Die Tatwaffe traf ziemlich genau die Halsschlagader. Ein Gegenstand aus Metall käme in Frage, der eine gewundene Spitze hat. Eventuell war es der Kaminhaken, er ist verschwunden“, gab sein Chef widerwillig Auskunft.

„Ein Kamin in dieser Bude?“, äußerte Edgar ungläubig.

„Natürlich nicht. War nur eine Idee. Weiter…Das Opfer heißt Jonathan Somura, ist deutscher Staatsbürger, 33 Jahre alt. Seine Familie stammt aus Guinea. Der Mann ist geschieden, hat eine kleine Tochter, die bei ihrer Mutter lebt, einer Yvonne Richter. Der Somura arbeitete als Altenpfleger; hier wohnte er seit zwei Jahren, allein. Er wurde von einem Arbeitskollegen gefunden, der sich wunderte, warum Somura heute nicht zum Dienst erschien. Unser Toter soll äußerst korrekt gewesen sein. Ja, und er war Mitglied einer Amateurband, spielte manierlich Gitarre. Das haben sie ja im Urin, die Musik, den Rhythmus.“ Friedrichs letzte Worte klangen eher geringschätzig.

„Hat er sich selbst ausgezogen?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich wollte er pinkeln, als ihn jemand attackierte. Ich frage mich eher, wieso wurde er im Bad umgebracht? Da drin kann man sich doch kaum bewegen. Nehmen wir an, der Täter war mit dem Somura längere Zeit zusammen in der Wohnung. Dann hat das Opfer sich zumindest sicher gefühlt. Er ist aufs Klo und hat die Tür offen gelassen. Das ist zwar nicht die feine Art, soll aber vorkommen.“

„Er kannte den Täter“, mutmaßte Edgar.

Sein Chef nickte. „Das Ganze funktionierte nur, weil die Badtür zum Flur aufgeht.“

„Ja, sonst wäre der Mann von der Tür erschlagen worden“, versuchte Edgar zu witzeln.

Friedrich ging nicht auf den Ton ein. Er führte Edgar rüber ins Wohnzimmer, damit die Spusi ihre Arbeit ungestört fortsetzen konnte.

„Tatzeit?“, fragte Edgar. „Gestern, also Dienstagnacht, vorsichtig geschätzt zwischen 22. 00 Uhr und 23. 00 Uhr.“

„Spuren eines Einbruchs an der Wohnungstür?“

Friedrich brauste auf und fiel in einen offiziellen Tonfall: „Schluss mit der Abfragerei, ich leite die Ermittlungen! Wenn du weitere Unklarheiten hast, weil du später als jeder Anfänger am Tatort aufkreuzt...“

„Irgendwelche Zeugen?“ Edgar gab sich unbeeindruckt von der Rüge seines Chefs.

Der blinzelte durch seine Brille zu ihm hoch. „Nein“, antwortete Friedrich, immer noch unwirsch, aber ruhiger, „die Nachbarn befragen wir heute Vormittag. Warum eigentlich deine Verspätung? Wo warst du? Renate wusste nicht, wo du bist.“

„Geht’s noch?! Rufst deswegen meine Frau an!“

„Du bist nicht ans Handy gegangen, schließlich hast du Bereitschaft, Edgar, irgendwie musste ich dich auftreiben.“

„Indem du ausgerechnet Renate anrufst!“

„Dein Vorwurf ist nicht logisch, Edgar. Wen, bitte, sollte ich sonst anrufen? Deine Geliebte? Hör einfach auf dein Handy, damit ersparst du dir...“

„Arschloch!“

„Ossi!“

„Ach!“ Verärgert drehte Edgar sich weg von Friedrich. In der Wohnung anwesende Kollegen, die den Schlagabtausch mitbekommen hatte, grinsten sich an. Szenen dieser Art kannten sie von den beiden Ermittlern, die seit sieben Jahren in einem Team arbeiteten. Niemand nahm sie allzu ernst.

Edgar sah sich allein in der Wohnung um. Sie hatte etwa 40 Quadratmeter und bestand aus einem größeren Zimmer, kleiner Küche und winzigem Toilettenraum. Im Zimmer standen ein Doppel- und ein Kinderbett und ein voluminöser Schrank. Die Möbel waren aus hellem Holzimitat gefertigt und schienen allesamt vom Billigdiscounter zu stammen. An einem Stuhl lehnte eine Gitarre. Raub schied wahrscheinlich aus, dachte Edgar angesichts des billigen Mobiliars und der insgesamt spartanischen Einrichtung. Er schielte zu Friedrich hinüber. Sein Chef sprach mit Kollegen und wirkte trotz der fortgeschrittenen Nachtzeit frisch und dynamisch. Edgar beneidete ihn um diese Kondition, denn er fühlte sich erschöpft, als wäre er auch schon fünfzig wie Friedrich.

Edgars Gedanken schweiften ab zu Corinna. Ihr Treffen am Abend war anstrengend gewesen. Seine Geliebte wollte reden. Ein erstes Zeichen, dass ihre Affäre zu Ende ging. Komischerweise fühlte er kein Bedauern darüber. Sie war eh viel zu jung für ihn.

Edgar entdeckte, dass man vom Zimmer auf einen kleinen Balkon hinaustreten konnte. Von dort sah er auf den Arkonaplatz hinunter. Edgar erkannte in der Dunkelheit einen mittelgroßen Platz mit Bäumen, spärlich erleuchteten Wegen und einigen Parkbänken. Diese Gegend um die Bernauer Straße, zwischen Ost- und Westberlin, war ihm ziemlich fremd.

Als Edgar anfing zu frösteln, ging er ins Zimmer zurück. Er öffnete die Schubladen einer Kommode, in denen Spielsachen und Kinderbekleidung untergebracht waren. Neben der Kommode stand das Kaminbesteck, bei dem der Schürhaken fehlte. Wenn der die mögliche Tatwaffe war, musste der Täter im Wohnzimmer gewesen sein, bevor er dem Somura in die Toilette folgte, und er hatte keine Eile gehabt, überlegte Edgar, denn Schaufel und Besen hingen ordentlich am Gestell. Aber wieso wurde der Somura nicht im Wohnzimmer überfallen, wo ein Täter mehr Bewegungsfreiheit gehabt hätte? Das sprach eher für eine spontane Tat als für einen geplanten Mord.

Ein Foto auf einem Regal fesselte die Aufmerksamkeit des Kommissars. Es zeigte ein farbiges Kind, ein Mädchen im rosa Kleidchen.

„Seine Tochter Sina“, erklärte Friedrich, der plötzlich hinter ihm stand.

„Wer fährt zur Ex?“, fragte Edgar.

„Ex-Witwe, meinst du. Oder wie soll man zu ihr sagen? Ich werde Schlesinger mitnehmen. Edgar, fahr nach Hause. Irgendwie habe ich den Eindruck, du bist heute nicht zu gebrauchen. Wir sehen uns morgen, das heißt in ein paar Stunden. Und grüße Renate von mir!“ Zum Abschied klopfte er erneut auf Edgars Arm.

Edgar ärgerte sich über Friedrich, als er sich hinters Lenkrad setzte. Er konnte diese merkwürdige Gewohnheit von ihm, ständig alle Leute anzutatschen, nicht leiden. Überhaupt Friedrich, dieser Schnösel. Sah sogar im Schutzanzug aus wie aus dem Ei gepellt. Mistkerl! Rief Renate an und brachte ihn dadurch in Schwierigkeiten. Das war Absicht gewesen! Wie sollte er sich jetzt seiner Frau gegenüber rausreden?

Er bemühte sich, keinen Lärm zu verursachen. Edgar zog sich im Wohnzimmer aus, machte sich auf der Gästetoilette für die Nacht fertig und stieg mit bloßen Füßen die zu steil geratene, mit Teppichbelag gedämpfte Treppe ins erste Geschoss. Beinahe lautlos legte er sich ins Bett und lauschte auf Renates Atem. Seine Frau hatte ihm den Rücken zugedreht und die Bettdecke bis zu den Ohren hoch gezogen. Gott sei Dank, sie schlief und würde nicht nach seiner Abwesenheit oder Friedrichs Anruf fragen.

In diesem Moment regte sie sich: „Wo warst du?“

„Neuer Fall.“

„War Friedrich auch da?“

„Natürlich.“

Mit dieser spärlichen Auskunft war Renate zufrieden. Das wunderte Edgar zwar, aber ihm war es recht, er wollte schlafen. Morgen musste er ausgeruht sein. Die Fische! Er hatte sie vergessen. „Hast du die Fische gefüttert?“ Edgar langte mit einem Arm zu Renate hinüber.

„Ja“, antwortete sie unwillig und wehrte seinen Arm ab. „Lass mich!“

Edgar drehte sich auf die Seite. Es war stets ein wenig hell im Zimmer, weil eine Straßenlaterne unmittelbar vor ihrem Reihenhaus stand. „Was ist los?“

Renate setzte sich aufrecht und schniefte heftig durch. Er sah ihre Silhouette vor dem Fenster. „Edgar! Ich gehöre nicht zu deinen Toten. Wieso kümmerst du dich auf einmal um mich! Gib Ruhe, oder ich schlafe in meinem Zimmer!“

„He, ich wollte bloß nett sein. Wieso bist du so aggressiv?“

Renate schaltete die Lampe auf ihrem Beistelltischchen an. Sie blinzelten beide ins Licht. Ängstlich schaute sie ihn an. „Entschuldige...Edgar...es ist...ich muss mit dir reden.“Ihre Haare waren strähnig. Die Augen verquollen. Die winzige Narbe unter ihrem linken Auge, die sie seit einem Unfall in der Kindheit hatte, deutlich sichtbar.

„Hast du geheult?“, fragte er.

Sie wich seinem Blick aus. „Ich brauche eine Zigarette.“ Schon war sie aus dem Zimmer gelaufen.

Edgar überlegte, ob er ihr nachgehen sollte. Wenn Renate rauchte, bedeutete es Stress. Und auf Stress folgte Streit. Diese verdammte Qualmerei. Wie oft hatte sie versprochen, damit aufzuhören. Edgar suchte eine bequeme Schlafposition. Ein bisschen Nachtruhe hatte er sich redlich verdient. Renate steckte sich in ihrem Zimmer eine Zigarette an. Sie murmelte leise vor sich hin und lauschte ab und zu, ob Edgars Schritte zu hören waren. Aber er ließ sie allein. So konnte sie noch einmal an ihrem kleinen Geständnis basteln, das sie seit Wochen mit sich herumtrug. Heute Nacht könnte eventuell der richtige Zeitpunkt dafür sein: „Edgar, ich bin schwanger. Es tut mir leid…nein, Quatsch. Ich bin so froh über das Kind. Und ich liebe seinen Vater. An mir hat es nicht gelegen, dass es mit uns nicht geklappt hat. Aber ich mache dir keine Vorwürfe deswegen, du kannst nichts dafür.

Zuerst dachte ich ja, ich sage einfach, das Baby ist von dir, ja, das war mein Plan. Bescheuert, was? Verzeih mir, bitte. Ich will dich nicht mehr anlügen als nötig. Und du hast alles Recht der Welt, auf mich sauer zu sein. Aber du bist vor mir fremdgegangen, ich hätte das nie getan…nein, warum entschuldige ich mich denn? Ich habe mich verliebt in…Soll ich seinen Namen preisgeben? Nein, erst mal abwarten, wie Edgar reagiert.

Wo war ich? Ja, ich habe mich verliebt und bin gleich schwanger geworden. In meinem Alter, mit fast vierzig! Nein, das mit dem Alter ist blöd, das werde ich nicht sagen. Es geht allein um das Baby. Ich habe es gewollt. Nichts habe ich mehr gewollt in meinem Leben!“

Renate drückte die Zigarette aus. Im Schlafzimmer setzte sie sich vorsichtig auf Edgars Seite. „Ich bin endlich schwanger, Edgar“, flüsterte sie. Auf eine Reaktion ihres Mannes wartete sie vergebens; er schlief tief und fest.

Tod am Arkonaplatz

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