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6.
Im Jenseits hat dann jeder so einen Kokon

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„Wir haben die ganze Welt gesehen“, erzählte mir Agnes Stobbe gleich bei meinem ersten Besuch. Sie beschrieb ihr Leben als ein gutes Leben, in dem sie viel mit ihrem Mann erleben durfte. Viele Jahre lang war sie mit einem Berufsmusiker verheiratet gewesen und hatte ihn auf unzähligen Konzertreisen begleitet. „Wir waren immer zusammen, etwas anderes gab es für uns nicht“, betonte sie und erzählte stolz aus dem gemeinsamen Leben, wie sie sich miteinander auf sein Konzert vorbereiteten und wie sie manchmal schon ahnte, welche Noten ihr Mann brauchte. „Wir waren wie ein Mensch, nicht wie zwei Menschen“, formulierte sie einmal.

Es war für sie auch völlig selbstverständlich, dass in diesem Leben kein Platz für Kinder war. „Man kann nicht alles haben und ich hatte ja so viel“, betonte sie, „aber jetzt bin ich halt ganz allein.“ Ihr Mann war wenige Monate zuvor gestorben und mitten in die Trauer hinein platzte die eigene Krebsdiagnose, für Frau Stobbe völlig überraschend: „Ich war doch eigentlich nie krank, ich verstehe gar nicht, wieso das jetzt kommt.“

Trotzdem reagierte sie sehr gelassen auf die schwere Diagnose: „Ich bin jetzt alt und kann sterben, das ist schon in Ordnung.“ Dennoch entschied sie sich für eine Chemotherapie, vertrug diese Behandlung aber extrem schlecht. Innerhalb ganz kurzer Zeit war sie völlig geschwächt, litt an großen Schmerzen und fiel richtiggehend in sich zusammen. Gespräche waren kaum mehr möglich und so hörten wir in dieser Zeit bei meinen Besuchen gemeinsam Musik, meist legte ich auf ihren Wunsch hin eine CD ihres Mannes auf. Sie lag dann mit geschlossenen Augen im Bett und hörte zu, und immer, wenn die Stelle kam, an der sie die Noten für ihren Mann umgeblättert hatte, sagte sie klar und deutlich: „Jetzt ist es wieder so weit.“

Als es ihr etwas besser ging, begann sie, ihre Beerdigung zu planen, sie sollte genauso ablaufen wie die Beerdigung ihres Mannes: „Da ist es dann wieder wie in unserem ganzen Leben, wir sind zusammen, ganz nah und nichts kann uns trennen.“

In diesem Zusammenhang fragte ich sie, ob sie denn glaube, ihren Mann wiederzusehen. Zu meiner Verwunderung reagierte sie darauf fast unwirsch: „Auf keinen Fall wird das so ein, undenkbar.“ Und sie erzählte mir ihre ganz eigene Theorie. Sie glaube, jeder Mensch lebe nach dem Tod in einem eigenen Kokon, umgeben von ungeahnter Energie. Und diese Energie mache es möglich, dass jeder in jedem Moment selbst entscheiden könne, mit wem er in Kontakt trete und mit wem nicht. „Das Besondere ist, dass man sich auch einfach abschalten kann und im Kokon bleiben, ohne dass es jemand merkt“, sagte sie. Und dann erzählte sie, dass es nicht nur leicht gewesen sei mit ihrem Mann. „Es ging immer nur um ihn und seine Musik“, in ihrem gemeinsamen Leben habe es kaum eine Rolle gespielt, was sie dachte und wollte. „Wissen Sie, ich musste auch viele Träume begraben, so unterwegs“, sagte sie. Es habe ihr nicht immer gefallen, beneidet zu werden für das aufregende Leben und den wunderbaren Mann. „Dabei war mein Mann manchmal nur unerträglich laut“, sagte sie ganz leise.

Wenig später wurde Agnes Stobbe entlassen, kehrte jedoch bis zu ihrem Tod noch mehrmals auf Station zurück.

Wenn ich sie besuchte, redeten wir über ihre Krankheit, ihr aufregendes Leben oder hörten gemeinsam Musik. Nie wieder hörte ich auch nur den Hauch einer Kritik an ihrem Mann. Nur einmal, bei einem meiner letzten Besuche, meinte sie mit einem verschmitzten Lächeln: „Ich freue mich jetzt schon auf meinen Kokon.“

Mir geht es gut, ich sterbe gerade

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