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1.
Eigentlich waren wir fünf Geschwister

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Als ich Herta Albach1 auf der Palliativstation kennenlernte, war ihr die Krebsdiagnose erst kurze Zeit bekannt. Wiederholte Fieberattacken waren der Grund für ihre Einweisung ins Krankenhaus, die geplante Chemotherapie konnte nicht beginnen. Ihre große Sorge war, dass durch die Verzögerung der Chemotherapie ihre Heilungschancen sinken.

In dieser Zeit redete Frau Albach fast ausschließlich über ihren Körper und die unterschiedlichen Symptome der Erkrankung. Das Fieberthermometer war ihr ständiger Begleiter und sie hoffte inbrünstig auf jeden neuen Blutwert.

Doch mit der Chemotherapie konnte nie begonnen werden und Frau Albach verstand nach und nach, dass es für sie eine „Heilung durch Chemotherapie“, von der sie bei meinen ersten Besuchen oft sprach, nicht gab.

Für mich letztlich unvermittelt redete sie plötzlich über den möglichen Tod: „Ich kann doch noch nicht sterben, sonst lebt ja bald niemand mehr aus meinem Dorf.“ Und sie erinnerte sich an ihr kleines Dorf, die Schrecken der Flucht 1945, das langsame Ankommen in Deutschland. „Heute würde mir keiner glauben, wie armselig ich hier angekommen bin“, meinte sie stolz.

Und sie erzählte von ihrem Leben hier, ihrem kleinen Friseurladen, den sie mit Liebe und großer Eigeninitiative aufgebaut hatte, den vielen Lehrlingen, denen sie über manch schwere Zeit hinweggeholfen hatte. „Ohne mich und meine Geduld hätten manche nie durchgehalten“, war sie überzeugt. „Ich habe viel erreicht“, betonte sie mehrmals.

Wenige Tage vor ihrem Tod bat sie mich in ernstem Ton, das nächste Mal mit besonders viel Zeit im Gepäck zu kommen.

Ich kam gleich am nächsten Tag und Frau Albach begann ohne Umschweife, von der Zeit ihrer Flucht in den Westen zu erzählen. Sie erinnerte sich an quälende Kälte, unsagbare Erschöpfung, entsetzliche Angst und furchtbaren Hunger: „Egal was wir taten, wir hatten einfach nicht genug. Mal rückten wir als Familie zusammen, mal verdächtigte jeder den anderen, etwas gegessen zu haben, was ihm nicht zusteht. Es gab Zeiten, da habe ich alles getan für ein Stück Brot.“

„Meine drei kleinen Geschwister haben die Flucht nicht überlebt“, flüsterte Herta Albach, „sie sind unterwegs verhungert.“ Und sie bat mich um eine kleine Segensfeier für diese drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge; sie hatte sich auch schon genau überlegt, wie sie diese Feier gestalten wollte.

Zunächst nannte sie den Namen jedes Geschwisterkindes. Dann erzählte sie alles, was sie von diesem Kind wusste: die Frisur, ein Lispeln, der ausgefallene Zahn, die Geschichte eines Streits. Sie rang jedes Mal lange mit sich und ihren Erinnerungen, mühte sich, bat mich um Nachfragen. Sie ließ sich viel Zeit und freute sich über jedes Detail, das ihr einfiel. Am Ende jeder kleinen Biografie formulierte sie selbst ein Gebet und bat mich um den Segen.

Bei meinem nächsten Besuch war Herta Albach nicht mehr ansprechbar. In den Tagen bis zu ihrem Tod erlebte ich sie ganz ruhig und entspannt.

1 In diesem Buch werden reale Erfahrungen verarbeitet. Die konkreten Personen, ihre Namen und Handlungen sind dagegen frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen oder Persönlichkeiten ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Mir geht es gut, ich sterbe gerade

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