Читать книгу Mir geht es gut, ich sterbe gerade - Christiane Bindseil - Страница 9
5.
Reicht das für den Segen?
Оглавление„Wissen Sie, mit Kirche kann ich nichts anfangen, das war mir immer egal“, so begrüßte mich Gerhard Maucher auf der Palliativstation. „Aber jetzt, wo sie schon einmal da sind, können Sie gerne bleiben. Ich habe ja eh sonst niemanden mehr in dieser Welt.“
Und Herr Maucher erzählte mir die ganze Geschichte seiner Einsamkeit. In jungen Jahren war er gegen den Willen seiner Eltern von zu Hause weggegangen, hat mehrere Ausbildungen angefangen und wieder abgebrochen, hielt sich mit unterschiedlichen Arbeiten finanziell über Wasser und musste dann bei der ersten Krebsdiagnose die Frührente einreichen: „Das war für mich ein Schock. Jetzt bin ich den ganzen Tag alleine, gehe höchstens mal in die Stadt, in so ein Rauchercafé, aber das ist alles. Ich kenne ja niemanden mehr.“
Ich besuchte Herrn Maucher noch mehrmals, sorgte für Zigaretten und die Fernsehzeitung und wir redeten über das Wetter, die Krankheit, seine Jugend und sein aus seiner Sicht verpfuschtes Leben. „Wenn ich sterbe, merkt das keiner“, formulierte er nachdenklich. Und dann ereignete sich völlig überraschend eine große Veränderung.
„Ich hatte Besuch“, rief Herr Maucher mir entgegen, „eineinhalb Stunden lang blieben sie, die ganze Zeit, und sie haben mir sogar Zigaretten mitgebracht.“ Und er erzählte der Reihe nach: Der Thekenmannschaft in seinem Rauchercafé war aufgefallen, dass er ungewöhnlich lange nicht mehr gekommen war. Zwar wusste niemand, wo Herr Maucher wohnt, sie kannten jedoch seinen glücklicherweise recht ungewöhnlichen Nachnamen. Und so telefonierten sie die Krankenhäuser der Umgebung ab. Sobald sie die Information hatten, besuchten sie ihn zu dritt auf unserer Palliativstation. Und von da an sprachen die Männer sich gewissenhaft ab, wer Herrn Maucher wann besuchen sollte, damit möglichst regelmäßig jemand da war. Sie versorgten ihn auch ganz selbstverständlich mit Seife, Zigaretten und Kleidung. „Eigentlich brauche ich Sie jetzt gar nicht mehr“, meinte Herr Maucher wenige Tage später, so fröhlich und offen, wie ich ihn vorher nicht gekannt hatte, „aber jetzt habe ich mich einfach an Sie gewöhnt. Jetzt müssen Sie trotzdem kommen“, fügte er lächelnd hinzu.
Wenig später wurde er ins Hospiz verlegt und wir verabschiedeten uns auf Station. „Was machen Sie denn sonst mit Ihren Leuten, wenn jemand geht, weihen Sie den oder so?“, fragte er mich, als ich gerade gehen wollte. Ich erklärte, das sei ganz unterschiedlich. „Auch ‚fromme‘ Menschen sind nicht gleich“, antwortete ich, „und ich versuche, das zu tun, was ich in dem Moment als sinnvoll und passend empfinde.“ „Aber was machen Sie denn meistens so als Pfarrerin, da muss es doch was geben?“, bohrte er nach. Und ich erzählte ihm vom Segen, der für mich etwas ganz Besonderes sei. Denn zum Segen brauchen wir einander, kein Mensch kann sich alleine den Segen holen, sondern ein Mensch spricht dem anderen den Segen zu.
„Und, können Sie das jetzt mit mir machen?“, fragte Gerhard Maucher sofort. In unserem gewohnt flapsigen Ton fragte ich zurück: „Klar, aber warum wollen Sie das jetzt plötzlich, so zur Vorsicht, nach dem Motto, kann ja nicht schaden?“
„Ja, genauso meine ich das“, antwortete er ernst, „reicht das für den Segen?“
So legte ich meine Hand auf seinen Kopf und sprach den Segen: „Gott segne dich und behüte dich. Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Gott erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“ Es war eine ganz eigene, intensive Stimmung im Raum und Herr Maucher verabschiedete sich schließlich von mir mit den Worten: „Gott segne Sie auch, so wie Sie das glauben.“
Einige Zeit später besuchte ich ihn im Hospiz. Er freute sich und begrüßte mich überschwenglich als seine alte Bekannte. Sofort begann er zu erzählen, wie gut es ihm ging, und das, obwohl er sichtbar schwächer geworden war und auch nicht mehr aufstehen konnte. Seine kleine „Gemeinde“ aus dem Rauchercafé besuchte ihn weiterhin regelmäßig und versorgte ihn mit allem, was er brauchte. Herr Maucher war gut aufgehoben.
„Es geht mir wirklich gut“, sagte er mir zum Abschied. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“
Zwei Tage später rief mich eine Mitarbeiterin des Hospizes an, Gerhard Maucher sei gerade ruhig und friedlich gestorben. Und sie erklärte, warum sie sich so schnell bei mir meldete: Die Karte, die ich ihm bei meinem ersten Besuch im Krankenhaus gegeben hatte, stand auf seinem Nachttisch. Als sie diese Karte wegräumen wollte, las sie, was er dazugeschrieben hatte: „Nach meinem Tod bitte die Pfarrerin anrufen.“