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3.
Ich trau mich nicht zu springen

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„Gehen Sie mal zu Frau Mühlbauer, ich glaube, sie braucht ganz dringend jemanden zum Reden“, begrüßte mich ein Pfleger auf der Palliativstation.

Als ich Anna Mühlbauer begrüßte, zitterten ihre Hände und sie formulierte sofort: „Ich habe solche Angst.“ Und ohne lange Vorreden fragte sie mich, was denn komme, nach dem Tod, was ich denn glaube. „Sie als Pfarrerin müssen das doch wissen.“ Und ich erzählte ihr von meinem Glauben, dass ich darauf vertraue, dass wir nach dem Tod bei Gott geborgen sind. Frau Mühlbauer bohrte nach, wie es denn sei mit dem Körper, ob es nicht vielleicht doch eine Hölle gäbe, Fegefeuer und Strafen. Ich konnte nur immer wiederholen, dass ich mit schon fast kindlicher Sicherheit an eine Geborgenheit nach dem Tod glaube, konkreter könne ich meine Jenseitsvorstellung nicht fassen.

Frau Mühlbauer erzählte viel, aus ihrem Leben, von ihrer sehr lukrativen Position bei der Bank, ihren Freunden und von ihrem Lebensgefährten und dessen siebenjährigen Sohn. „Wir wollten heiraten, für den Jungen bin ich jetzt schon wie eine zweite Mutter“, sagte sie. Auf meine Nachfrage hin lehnte sie energisch ab, dass das Kind sie im Krankenhaus besuchen dürfe. „Er soll mich so nicht sehen“, erklärte sie. Wir redeten lange, sie wurde dabei sichtbar ruhiger und sie bemühte sich, keine Pause entstehen zu lassen. Als ich dann doch gehen wollte, bat sie mich eindringlich zu bleiben. Sie leide so sehr unter der Einsamkeit und ihrer Angst: „Ich fühle mich die ganze Zeit, als würde ich auf einem hohen Berg stehen und soll springen und ich trau mich einfach nicht“, beschrieb sie ihre Gefühle.

Ich blieb noch eine Weile, bis ihr Lebensgefährte kam. „Schön, dass Sie da sind“, sprach mich ihr Freund an, „ich kann einfach nicht die ganze Zeit hier sein, ich halte das nicht aus.“ In einem der nächsten Gespräche erzählte mir Frau Mühlbauer, wie enttäuscht sie sei, dass ihr Freund nicht auf der Palliativstation übernachte. „Andere Lebensgefährten machen das doch auch“, weinte sie, „und ich kann einfach nicht alleine sein, ich habe doch solche Angst.“

Daraufhin zeigte sie mir ihre Tablettensammlung in der Nachttischschublade. „Ich habe mit Ärzten gesprochen, mit Freunden, ich weiß genau, wie und dass es funktioniert. Erst kommen diese beiden Tabletten und fünf Minuten später der Rest.“ Sie werde einen Tag festlegen, an dem sie dann in Anwesenheit des Lebensgefährten die Tabletten nehmen werde: „Dann hört diese furchtbare Angst endlich auf.“

Ich besuchte Frau Mühlbauer viele Male. Sie bat mich jedes Mal zu bleiben, weil sie viel ruhiger sei, wenn jemand da ist. Meist vermochte ich nur zu gehen, wenn ich genau sagen konnte, wann ich wiederkomme. Als ich mich einmal nach einem langen Besuch mühsam verabschiedet hatte, fragte ich einen Pfleger, ob man Frau Mühlbauer nicht medikamentös mehr gegen ihre Angst helfen könne. „In meiner langen Berufserfahrung habe ich so etwas noch nicht erlebt“, betonte er. „Frau Mühlbauer nimmt so viele Medikamente, dass man mit dieser Dosis jeden anderen Menschen schmerzfrei operieren könnte.“ Und das, obwohl sie definitiv keine Drogenvorgeschichte hatte.

Da ich viel Zeit bei Frau Mühlbauer verbrachte, wiederholte sich manches Thema in unseren Gesprächen. Worauf ich mich jedoch sicher verlassen konnte, war ihre Frage bei jedem einzelnen Gespräch, ob ich wirklich glaube, dass wir nach dem Tod geborgen sind. Jedes Mal sollte ich ihr neu davon erzählen, in unzähligen Variationen, mit vielen Nachfragen.

Unsere Gespräche wurden immer vertrauter und selbstverständlicher, sodass es für mich dann doch unvermittelt war, als sie sagte, sie werde nächsten Dienstag ihre Tabletten nehmen und sterben. „Es wird Zeit“, erklärte sie, „auf Station kann ich nicht mehr lange bleiben und in ein Hospiz möchte ich nicht. Und ich halte die Angst einfach nicht mehr länger aus.“

Ihr Lebensgefährte sollte dabei sein, wenn sie sterben würde. Am kommenden Wochenende wollte sie sich bewusst von ihrer Mutter und Freunden verabschieden und der kleine Sohn sollte doch kurz vorbeikommen, „mit Schminke und Energie wird das schon gehen“, erklärte sie lächelnd.

Zu mir meinte sie, ich könne am Montag kommen, um mich zu verabschieden, am Wochenende seien ja genug Menschen da.

Als ich am Montag auf Station kam, teilte man mir mit, dass Anna Mühlbauer gerade eben gestorben war. Nach den vielen Besuchen am Wochenende sei sie an diesem Morgen alleine gewesen. Die Tabletten, die sie mir gezeigt hatte, lagen unangetastet in der Schachtel in der Nachttischschublade.

Mir geht es gut, ich sterbe gerade

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