Читать книгу Mir geht es gut, ich sterbe gerade - Christiane Bindseil - Страница 6
2.
Weihnachten mitten im Sommer
ОглавлениеHans Ludwig war sehr schwach, als ich ihn kennenlernte. Er wird wohl bald sterben, war die Einschätzung in der Besprechung des Palliativteams. Wenn ich kam, war Herr Ludwig freundlich und erkannte mich auch, war jedoch nach wenigen Worten sehr erschöpft und schloss die Augen. Ich redete dann mit seiner tieftraurigen Ehefrau, die fast den ganzen Tag an seiner Seite war.
Doch Herr Ludwig starb nicht wie erwartet und einige Zeit später besprachen wir im Palliativteam, ob es nicht doch sinnvoll sei, ihn im Hospiz anzumelden.
Als ich das nächste Mal wieder zu Besuch kam, war ausnahmsweise seine Ehefrau nicht da, sie hatte selbst einen Arzttermin. Es war ein heißer Sommertag und ich war sehr müde, so setzte ich mich nach den gewohnten Begrüßungsworten einfach zu Herrn Ludwig ans Bett.
Nach etwa zehn Minuten, für mich in dieser Situation völlig unerwartet, begann Herr Ludwig zu erzählen, langsam, angestrengt, aber überraschend deutlich. Er redete von seiner Konfirmation, wie sehr er diesen Tag mochte und erinnerte sich sehr genau an seinen Konfirmationsspruch. Bis dahin war ich mir nicht sicher gewesen, ob Herr Ludwig wusste, dass ich als Pfarrerin zu ihm kam, aber offensichtlich hatte er das sehr klar wahrgenommen.
Und mitten im heißen Sommer begann er von Weihnachten zu erzählen, detailgenau: Wo der Baum stand, welchen Kartoffelsalat es gab, wann die Bescherung war, welche Lieder gesungen wurden, wie sie spät am Abend in die Kirche gingen. Er erinnerte sich in vielen Einzelheiten, wie die kleine Familie vor vielen Jahren Weihnachten feierte. Und ich stutzte, als er dabei von einem Kind sprach. Mit seiner Frau hatte ich viel und lange geredet, aber von einem Kind wusste ich nichts. Nach einer Weile fragte ich ganz vorsichtig nach dem Kind und er erzählte mir weinend von seinem großen Kummer. Sie hatten eine gemeinsame Tochter, die vor vielen Jahren jeden Kontakt zu ihnen abgebrochen hatte – kein Anruf, kein Besuch. Der Sohn der Nachbarn, der einen losen Kontakt zu seiner ehemaligen Sandkastenfreundin pflegte, war ihre einzige Informationsquelle. Von ihm wussten sie, dass sie schon vor Jahren Großeltern geworden waren, von ihm wussten sie überhaupt nur, wo die Tochter lebte.
„Ich verstehe nicht, was passiert ist. Wir haben doch nichts getan“, formulierte Hans Ludwig wiederholt ratlos und unendlich traurig.
Diese Ratlosigkeit war schwer zu ertragen, unser Gespräch wechselte bald wieder hin zu Weihnachten, dem Adventskranz und den Liedern und wir fingen mitten in der Hitze des Tages an, „Alle Jahre wieder“ zu singen.
Am nächsten Tag sprach mich die Ehefrau darauf an, dass ihr Mann mir ja von ihrem großen Leid erzählt habe, ihrer Tochter, „die es für uns nicht mehr gibt“, so formulierte sie es. Ich erlebte sie ähnlich ratlos: „Wir hatten Streit, ja, wegen der Ausbildung, wegen ihren Freunden, aber das ist doch normal, das ist doch bei anderen auch so.“ Ich sah Herrn Ludwig plötzlich an, dass er eine Idee hatte und er fragte mich ganz eindringlich: „Wollen Sie nicht mal bei Willi, dem Nachbarssohn, anrufen und fragen, was man tun kann? Können Sie das für uns tun?“
Er wiederholte diese Bitte mehrfach und seine Frau suchte sofort die Telefonnummer heraus. Wenig später rief ich vom Büro aus an. Wir telefonierten lange und der Nachbarssohn wiederholte immer wieder, dass auch er das Ganze nicht verstehen könne, er habe keine Erklärung. Schon zu Beginn der Krankheit hatte er die Tochter informiert, ihr jede Verschlechterung des Zustands ihres Vaters erzählt und sie immer eindringlicher gebeten zu kommen. „Beim letzten Telefonat habe ich sie richtig angeschrien“, erzählte er. Aber sie wollte nicht.
Hans Ludwig ist einige Wochen später auf der Palliativstation gestorben, er wurde tatsächlich noch im Hospiz angemeldet, leider gab es dort aber keinen freien Platz. Im Palliativteam wurde noch mehrmals verwundert darüber gesprochen, wie lange er mit seiner schweren Krankheit noch lebte.