Читать книгу Mir geht es gut, ich sterbe gerade - Christiane Bindseil - Страница 8
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Ich konnte ihn einfach nicht lieben
ОглавлениеAnnegret Siemes saß immer wie aus dem Ei gepellt im Bett. Ihre Haare waren aufwendig frisiert, die Fingernägel waren nicht nur lackiert, sondern auch mit Mustern verziert, sie war geschmackvoll geschminkt und modisch gekleidet. „Meine Kinder sind immer für mich da“, erzählte sie stolz, „sie kommen jeden Morgen und helfen mir.“ Und ähnlich zufrieden erzählte sie auch aus ihrem Leben, von ihrem kleinen Kiosk, den Erfolgen ihrer Kinder und Enkelkinder, ihrem guten Leben. In jungen Jahren kam sie aus einem kleinen Dorf in Bayern nach Mannheim. Hier habe sie das Leben in vollen Zügen genossen, eine Lehre als Einzelhandelskauffrau gemacht, getanzt, junge Menschen kennengelernt und einfach so ihre Freiheit und Jugend gelebt. „Nur mit meinem Mann hatte ich kein Glück, der war gewalttätig. Aber das ist jetzt vorbei, jetzt geht es mir gut“, betonte sie. Wir lachten viel bei meinen Besuchen, sie erzählte lustige Geschichten von ihren Kindern und Enkeln und freute sich darauf, was sie alles mit ihren Kindern unternehmen würde, wenn sie wieder zu Hause wäre.
Zu dieser Zeit konnte Frau Siemes kaum noch aufstehen, der Gang zur Toilette strengte sie enorm an. Sie konnte fast nichts mehr essen und manchmal sah man ihr auch Schmerzattacken an.
„Ich verstehe gar nicht, warum ich nichts mehr kann, warum ich so schwach bin, es muss doch mal langsam besser werden“, klagte sie, machte aber gleichzeitig deutlich, dass sie über ihre Krankheit definitiv nicht reden wollte. Sie wurde kurz ärgerlich, wenn die Krankheit nicht zu ignorieren war, beendete aber sofort jedes Gespräch darüber. „Man muss es nehmen, wie es kommt. Man kann doch Gott nicht ins Handwerk pfuschen“, meinte sie.
In den Besprechungen auf Station wurde problematisiert, wie wenig die ununterbrochene angenehme Fröhlichkeit von Frau Siemes zu ihrem tatsächlichen Krankheitszustand passe.
Doch Frau Siemes wusste, wie schwer krank sie war. Sie konnte ihre Krebserkrankung genau benennen, wusste auch eindeutig, was eine Palliativstation ist, unterschrieb auch eine Anmeldung für das Hospiz. Aber sie wollte so wenig wie möglich mit diesen „Nebensächlichkeiten“ belästigt werden, „dazu ist das Leben doch viel zu schön“, sagte sie.
Es war für mich neu und ungewohnt, als Frau Siemes nach unserer Begrüßung meinte, sie wolle heute nicht mit mir reden. „Mir ist heute nicht danach“, sagte sie. Und dann fing sie trotzdem an zu erzählen, ungewohnt ernst. Sie habe noch einen Sohn, in Bayern, aber mit ihm habe sie kaum mehr Kontakt. „Ich kann dieses Kind einfach nicht so lieben, ich habe es wirklich versucht, es geht nicht“, sagte sie.
Beinahe hätte ich ihr reflexartig widersprochen, um sie zu trösten, dass das doch gar nicht sein könne, sie sei doch so ein liebevoller Mensch. Ich sagte nichts und sie zeigte mir die Weihnachtskarte, die der Sohn geschrieben hatte, eine recht unpersönliche Karte. „Er weiß nicht, dass ich so krank bin“, meinte sie und erzählte dann die ganze traurige Geschichte. Ihre Jugend war ein Martyrium und mit 17 Jahren wurde sie von ihrem Vater schwanger. Ihre Mutter habe sich zwar liebevoll um dieses Kind gekümmert, „aber mir hat sie nie geholfen.“
Annegret Siemes erzählte, wie es wirklich für sie war, als sie ganz jung und ohne Familie nach Mannheim kam, weil sie es zu Hause nicht mehr aushielt. „Ich konnte das Kind einfach nicht lieben“, wiederholte sie immer wieder und erzählte, wie verloren sie sich in der neuen Stadt fühlte und wie froh sie war, als sie ihren Mann kennenlernte. „Er war viel älter als ich und streng, aber endlich war ich nicht mehr allein“, sagte sie.
Wir sprachen lange über Schuld und Verantwortung, Recht und Unrecht. Frau Siemes fühlte sich so unendlich schuldig. „Das Kind hat doch auch ein Recht auf Liebe“, wiederholte sie immer wieder.
„Sie haben ihm das Leben geschenkt, trotz allem“, das war der einzige meiner Gedanken, bei dem ich das Gefühl hatte, dass sie kurz aufhorchte. Sie war gequält von den Selbstvorwürfen, die sie ihr ganzes Leben begleitet hatten.
Nur dieses eine Mal sprach sie mit mir über ihren Sohn.
Am Ende des Gesprächs bat sie mich, eine Weihnachtskarte zu besorgen. „Meine Kinder möchte ich damit nicht belästigen.“ Zwei Tage später schrieben wir gemeinsam eine ähnlich unpersönliche Weihnachtskarte an ihren Sohn. Sie schien erleichtert, als ich die Karte einpackte und sie erwähnte den Sohn danach nicht mehr.
Zwei Wochen später starb sie ruhig und gefasst und ich sprach mit ihren Kindern darüber, was für eine lebensfrohe und mutige Frau ihre Mutter doch war.