Читать книгу Verlass die Stadt - Christina Maria Landerl - Страница 11
Оглавление(Wien im Herbst, Wien im Winter)
Wien kann einem ganz schön Angst machen, wenn man im Herbst hier ankommt. Jede Stadt kann einem Angst machen, wenn man vom Land kommt, vor allem im Herbst, vermute ich, aber ich weiß es nicht sicher.
Allein, wenn man an den Gleisen der U-Bahn steht, hat man viel zu befürchten. Jemand könnte sich vor den einfahrenden Zug werfen. Man könnte vor den einfahrenden Zug gestoßen werden. Man könnte versehentlich vor den einfahrenden Zug springen.
Es gibt viele Gründe, Angst zu haben, zu jeder Jahreszeit. Der Herbst aber, der tagsüber oft freundlich tut, erwischt einen abends eiskalt. Die hohen Häuser in der Josefstadt halten schon früh jedes Licht aus den Gassen fern, und wenn man die Sonne untergehen sehen will, muss man auf einen der umliegenden Hügel fahren, auf den Leopoldsberg, auf den Kahlenberg, auf den Hermannskogel. Als ich hier ankam, kannte ich diese Hügel noch nicht.
Jetzt noch vom Nebel anzufangen erübrigt sich. Über den Hochnebel, der im November über die Stadt herfällt, muss man kein Wort verlieren, außer, dass keiner der Hügel hoch genug ist, um da herauszukommen.
Wer den Winter in Wien kennt, weiß, dass er lang ist. Er ist lang, er ist kalt, er ist dunkel, aber das unterscheidet ihn nicht von den Wintern anderer Städte in ähnlichen Gegenden. Wer ihn nicht kennt, dem sei gesagt, dass der Winter die Zeit der Verrückten ist, und ob das überall so ist, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass man in Wien dann oft welche sieht; einen Mann, der einen Topf als Hut trägt und mit dem Kochlöffel darauf einschlägt oder eine Dame, die in der U-Bahn Operetten singt. Das klingt vielleicht lustig, aber das ist es nicht. Und es kann auch passieren, dass einem jemand auf offener Straße an die Gurgel geht oder ohne Anlass gegen das Schienbein tritt.
Wenn die Nacht schon mitten am Tag beim Fenster hereindunkelt und man keine Vorhänge hat und ihr ausgeliefert ist, wenn der Gasofen die Küche und das Bad nicht beheizt, an manchen Tagen gar nicht in Gang zu bringen ist, und wenn man aus Angst vor der Kälte drinnen und vor den Verrückten draußen nur noch im Bett bleiben will, dann kann es unter Umständen helfen, hinauszugehen und sich in deren Kreis einzuordnen.